Der Fall Timanowskaja: Wie man einen internationalen Skandal baut

„Ich wurde unter Druck gesetzt, man versucht, mich gegen meinen Willen außer Landes zu bringen.“ Mit diesen Worten wandte sich die belarussische Leichtathletin Kristina Timanowskaja am Sonntag aus Tokio an das Internationale Olympische Komitee.

Das Belarussische Olympische Komitee hatte zuvor den Abzug der Sportlerin von den Olympischen Spielen erklärt und dies offiziell mit ihrer „emotional-psychischen Verfassung“ begründet. Kritiker sehen den tatsächlichen Grund allerdings in Aussagen Timanowskajas, die sie zwei Tage zuvor auf ihrer Instagram-Seite gemacht hatte: Dort hatte sie sich darüber empört, dass sie nun kurzfristig und unabgesprochen in einer weiteren Disziplin (4-mal-400-Meter-Staffel) antreten müsse – anstelle ihrer Kolleginnen, die nicht an den Spielen teilnehmen konnten, weil Sportfunktionäre bei den Dopingtests geschlampt hätten.

Timanowskaja musste am Sonntag letztlich nicht nach Belarus ausreisen, wo sie nach eigenen Angaben womöglich Repressionen erwartet hätten. Kurz nach dem Vorfall am Flughafen von Tokio veröffentlichte der Telegram-Kanal Nik i Maik den mutmaßlichen Mitschnitt eines Gespräches, in dem Nationaltrainer Juri Moissewitsch und ein weiter Sportfunktionär Timanowskaja die Ausreise nahelegen und auch, in der Angelegenheit von nun an zu schweigen. Dimitri Nawoscha, Gründer des Sportportals sports.ru, spricht von einem „epochalen Dokument“: „Eine Mischung aus Lügen, direkten Drohungen, Victimblaming (,Du zerstörst das Schicksal anderer Menschen‘), Überredungen (,Mach es fürs Team!‘) – ein Dogmen-Mix aus Orthodoxie und Komsomol.“

Der im Juni nach Kiew geflohene politische Analyst Artyom Shraibman kommentiert den Vorfall um Timanowskaja auf seinem Telegram-Kanal und sieht darin seine bereits mehrfach geäußerte These über den Machtapparat Lukaschenkos bestätigt: „Das System verliert an Kompetenz und macht einen Fehler nach dem anderen.“ 

Der Fall der Athletin Timanowskaja demonstriert höchst anschaulich, wie ein bürokratisches System – das sich im vergangenen Jahr jegliche Selbstkontrolle abgewöhnt und innere Checks and Balances sowie die Reste von Kritikfähigkeit aufgegeben hat – wie dieses System aus einer völlig unbedeutenden Episode einen internationalen Skandal macht.

Ausländische Journalisten fragen oft: Warum musste man denn gleich Sanktionen provozieren, um Protassewitsch festzunehmen? Warum musste man sich ausgerechnet 80 Prozent [der Wählerstimmen – dek] andichten vor einem Jahr?

Doch dafür gibt es keinen Grund. Das System funktioniert nicht so, dass es bei der Entscheidungsfindung alle Risiken abwägt. Die Anreize sind hier anders gelagert: Um jeden Preis gilt es, das zu löschen, was den Zorn des Ersten [Mannes im Staate – dek] entflammen könnte. Und wenn der Zorn entbrannt ist, dann muss er mit doppeltem Einsatz gelöscht werden.

Ich bin ziemlich sicher, dass sich alles wie folgt entwickelt hat: Timanowskaja veröffentlicht ein Video mit Kritik an den Sportfunktionären, die die Dopingtests von anderen Athletinnen vergeigt haben und nun Timanowskaja zwingen, an deren Stelle zu laufen. Telegram-Kanäle greifen das Video auf.

Wenn Lukaschenkos Zorn entbrannt ist, dann muss er mit doppeltem Einsatz gelöscht werden

Das Fernsehen läuft in dem Modus: Auf alles eindreschen, was Telegram-Kanäle aufgreifen. Im Endeffekt ist Timanowskaja nun die Anti-Heldin aller Nachrichtensendungen im Staatsfernsehen. Lukaschenko schaut Fernsehen und ist wütend: Wir haben ihr doch alles gegeben, haben sie auf unsere Kosten trainiert, und sie zieht da ihre Show ab und postet solche Sachen. Lukaschenko greift zum Hörer und fordert, Timanowskaja von den Spielen abzuziehen und sie mit dem nächsten Flugzeug nach Hause zu schicken.

Die Sportfunktionäre beeilen sich, die Weisung auszuführen, aber es sickern schon Informationen durch. Also denken sie sich eine Version aus über eine ärztliche Untersuchung und eine instabile Gefühlslage der Läuferin [als offizielle Erklärung des Rückzugs von den Spielen – dek]. Die Läuferin bestreitet aber, dass sie überhaupt untersucht worden sei. Internationale Medien greifen die Geschichte auf und machen daraus einen Skandal, der durchaus zum Ausschluss von Belarus aus dem IOC oder anderen Sanktionen im Sportbereich führen kann.

Ich wette – sollte es so kommen – dann wird im nächsten Stadium von einer geplanten Provokation und einer im Voraus gekauften Timanowskaja die Rede sein. Sie hat ja auch einen verdächtigen Nachnamen [ähnlich zu dem von Swetlana Tichanowskaja – dek]. Und alles im Rahmen eines hybriden Kriegs, nach dem gescheiterten Blitzkrieg. Alles, damit die Region Grodno an Polen fällt. Oder ist es jetzt die Region Gomel an Japan?

Aber im Ernst: Bei dieser Geschichte geht es nicht nur um die Mechanismen, wie unser Staat funktioniert, sondern auch um dessen Reputation. Hätten Sportfunktionäre irgendeines anderen Landes als Belarus – und vielleicht abgesehen von Nordkorea – beschlossen, einen Sportler zum Flughafen zu bringen, der wegen einer Meinungsverschiedenheit mit seinen Vorgesetzten von den Spielen abgezogen wurde, hätte dem niemand Beachtung geschenkt. Aber in unserem Fall ist selbst im fernen Japan jedem klar, was Timanowskaja im Vorzeigeland der europäischen Sicherheit droht.

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