Kino #13: Komm und sieh – Krieg im sowjetischen Film

Volkstragödie, Abenteuer, psychologisches Drama, pyrotechnisches Theater, romantische Verklärung – das alles war der Krieg im sowjetischen Film und noch viel mehr. In der Kriegsdarstellung spiegelte sich der Zeitgeist, und das Verhältnis zu diesem Krieg blieb für die Bestimmung des historischen Bewusstseins der sowjetischen Gesellschaft immer richtungweisend. Der Wechsel der Stile war ein genauso sensibles Merkmal einer veränderten Sicht auf den Krieg wie die Koexistenz von staatstragender und nicht angepasster Kunst im Kriegsfilm. Im Kaleidoskop der Genres und Stile nimmt der Film Idi i smotri (Komm und sieh!) von Elem Klimow eine ganz besondere Haltung ein: Er zeigt Krieg als apokalyptisches und surreales Mysterium.

Im Film „Idi i smotri“ („Komm und sieh!“) inszeniert Elem Klimow den Krieg als apokalyptisches und surreales Mysterium. Szene aus dem Film / © Evgeyi Koktyish/Sputnik

Die ersten Kriegsfilme, die noch während des Großen Vaterländischen Krieges (1941–1945) gedreht wurden, waren naturalistisch und brutal. „Heute und morgen sind wir gezwungen“, sagte Alexander Dowshenko 1942, „den Rahmen des in der Kunst Erlaubten zu erweitern. Heute schreit unsere Leinwand nach Galgen, brennenden Häusern, die mit gequälten Menschen überfüllt sind, nach Gefolterten, nach lebendig Begrabenen. Die unzähligen Opfer stöhnen: Dreht euch nicht weg von uns, die wir einen unästhetischen Tod gestorben sind.“1

Sowjetische Kriegsfilme: Abenteuer, Märtyrer und pyrotechnisches Theater

Der Film Ona saschtschischaet rodinu (Sie verteidigt die Heimat (1943)) stellte die Figur der Mutter in den Mittelpunkt – eine rächende, gnadenlose, „kastrierende“ Mutter (= Russland), die in den 1930er Jahren im Figurenensemble der sowjetischen Kinematografie fehlte, denn dort dominierte der patriarchalische Vater (Stalin). Diese Frau kann mit dem Beil Feinde erschlagen und den Mörder ihres Sohnes mit dem Panzer niederwalzen. Ihr Hass ist gegen Männer gerichtet, die auf der Leinwand – neben der Vernichtungsarbeit des Krieges – meist bei Trinkorgien dargestellt werden. 

Der Film „Sie verteidigt die Heimat“ (1943) stellte die Figur der Mutter (= Russland) in den Mittelpunkt, die in den 1930er Jahren im Figurenensemble fehlte, denn dort dominierte der patriarchalische Vater (Stalin). / © RIA Novosti/Sputnik

Die parallel entstandenen Partisanenfilme verklärten den Krieg auf andere Weise. Es waren Märtyrerfilme wie Soja (1944) oder Marytė (1947), in denen sich junge Mädchen opfern und gefoltert werden, und Abenteuerfilme wie Sekretar raikoma (Der Sekretär des Rayonkomitees (1942)) oder Podwig raswedtschika (Heldentaten eines Kundschafters (1944)), in denen entschlossene starke Männer den Feind besiegen. Sie schlüpfen in die Rolle geheimnisvoller omnipotenter Rächer und spielen mit den dummen Deutschen „Räuber und Gendarm“. Die bärtigen, humorvollen Partisanen werden zu märchenhaften Großväterchen der Nation. 
Bald geriet der Krieg im Film zum pyrotechnischen Theater. Die perfekten Kriegsspektakel stellen die großen Schlachten nach – von dem auf 70 mm gedrehten Mehrteiler Juri Oserows Oswoboshdenije (Befreiung (1970–1977)) bis hin zu heutigen, von Videospielästhetik geprägten Feuerorgien wie T-34 (2019), einer Panzeroper mit Special Effects.

Menschenschicksale und Romantisierung

Die Lockerungen der Tauwetter-Ära gingen im Film eng einher mit dem Kriegsthema und fanden ihren Ausdruck in den wirklichkeitsgetreuen Schützengrabenfilmen der späten 1950er Jahre: Soldaty (Soldaten, 1956) – der Kriegsalltag, die Menschenschicksale, die Wahrheit der Details, jede leise Andeutung noch unaussprechbarer Zusammenhänge wirkte damals wie eine erste große Offenbarung. Sudba tscheloweka (Menschenschicksal (1959)) oder die erste Geschichte von einer untreuen Kriegsbraut Letjat Shurawli (Die Kraniche ziehen, 1957) wurden zu Ereignissen. Das individuelle Schicksal war plötzlich genauso wichtig wie das der Massen und die entfesselte Kamera ein Ausdruck dafür. 

Der Kriegsalltag, die Menschenschicksale, die Wahrheit der Details, jede leise Andeutung noch unaussprechbarer Zusammenhänge wirkte in der Tauwetter-Ära wie eine erste große Offenbarung. Szene aus dem Film „Die Kraniche ziehen“ / © RIA Novosti/Sputnik

Die 1960er Jahre stellten den Krieg so dar, wie er in Erinnerung geblieben war. Lichte Melancholie der Ballada o soldate (Ballade von Soldaten (1961)) war hier genauso berechtigt wie radikale Expressivität – Iwanowo detstwo (Iwans Kindheit, 1961). Die gewonnene Authentizität wurde durch Romantisierung abgelöst. Und so blieb es bis Alexej Germans Prowerka na dorogach (Straßenkontrolle (1971)) und Larissa Schepitkos Woschoshdenije (Aufstieg (1977)). Krieg wurde zum einzig erlaubten Terrain, auf dem harte existentielle Fragen – nach der (Un)möglichkeit einer Freiheit der Wahl – abgehandelt werden konnten. Die Parabeln haben eine Wahrheit des Krieges tragisch verallgemeinert. 

Eine ganz andere Dimension eröffnete Elem Klimow, als er 1984 denselben Krieg als apokalyptisches und surreales Mysterium inszenierte. 

Ästhetisierter Horror oder suggestive Beeinflussung?

Elem Klimow und seine Frau Larissa Schepitko begannen zur selben Zeit am selben Thema zu arbeiten. Larissa nahm sich den Stoff des Belarussen Wassil Bykau, Elem den des Belarussen Ales Adamowitsch vor. Nur wurde sein Projekt nach den ersten Drehtagen 1976 gestoppt und erst 1982 wiederaufgenommen. Adamowitschs Drehbuch basierte auf autobiografischen Erlebnissen, die er bereits in mehreren Büchern (Chatyn-Erzählung, Partisanen, Exekutionskommando, Ich bin aus dem Feuerdorf) verarbeitet hatte. Er dachte zunächst an eine Komödie: die Abenteuer eines halbwüchsigen Tollpatsches im Grauen des Krieges. Klimow entschied sich für einen Horrorfilm mit apokalyptischen Zügen. Er forderte den Zuschauer aggressiv heraus: „Komm und sieh!“ Der Titel ist ein Zitat aus der Offenbarung Johannes (Kapitel 5-8): „Und ich hörte ein viertes Wesen sagen wie mit einer Donnerstimme: ‚Komm und sieh!‘ Und ich sah ein blasses Pferd, und der darauf saß, dessen Name war der Tod, und ihm folgte die Hölle.“

Klimow entrollt das Bild einer Apokalypse im Belarus des Jahres 1943, in einem von Hunderten niedergebrannter Dörfer (Klimow sprach von 600, heute zirkuliert eine Zahl von 9000). Klimow weicht von der dokumentarischen Vorlage Adamowitschs und konkreten Ort-Zeit-Bezeichnungen – Chatyn, 1943 – ab, zielt auf Totalität. Auf ein Bild der Vernichtung. Nicht nur der physischen Natur (Wald, Haus, Mensch), sondern der Psyche. Was kommt, nachdem die Hemmschuhe der Kultur abgeworfen werden und die Menschheit in zwei Lager zerfällt: Metzger und Schlachtvieh? Das Individuum schwindet – es ist nicht sein existentielles Drama. Opfer und Henker haben – nach Klimow – keine individuelle Geschichte. Kein Gesicht. Und in Erwartung des totalen Vernichtungskrieges – der Apokalypse – geht es ja um das Geschlecht der ganzen Menschheit. 
Statt der Frage nach Entscheidung und Schuld, wie sie in anderen Kriegsfilmen dieser Zeit üblich war, wählte Klimow einen anderen Ansatz: „Das Gesicht des Menschen, der dich erschießt, siehst du nicht. Und es ist unwichtig, ob er gezwungen war, schwach oder willens, welche Kompromisse und Gewissensbisse er zu überwinden hatte – er schießt. Eine Differenzierung von Henkern, egal welche Uniform sie tragen, ist unnötig. Eine Differenzierung von Opfern ebenfalls. Wenn Bomben fallen, sehen wir weder Gesichter noch Nuancen. Für mich war die Frage des Stils entscheidend. Ich habe Coppolas berühmte Apocalypse now gesehen. Aber das war ein Kriegsschauspiel – Theater in realer Landschaft. Für mich muss maximale emotionale Einwirkung mit extremer Wahrhaftigkeit einhergehen. Dabei meine ich nicht dokumentarische Authentizität. Unsere Wahrnehmung ist durch Berge von Leichen im Fernsehen beim Abendbrot völlig abgestumpft.“2 

Naturalistische Grausamkeiten, von der distanzierten Kamera emotionslos beobachtet, existieren in „Idi i smotri“ neben starken Metaphern und der suggestiven Wirkung. Szene aus dem Film / © L. Luppov/Sputnik

Dagegen kämpft Klimow mit hypnotischer Suggestion von Horror, Ekel, Atemnot und Todesangst an. Mit einer für den Zuschauer unmerklich forcierten Vereinnahmung, mit dessen gewaltsamer Platzierung an die Stelle des Helden – und zwar so raffiniert und allmählich, dass der zum Kommen und Sehen Aufgeforderte dies erst wahrnimmt, nachdem die Falle schon zugeschnappt ist und er nicht mehr entrinnt. 

In der ersten Szene beobachtet die Kamera aus einiger Entfernung zwei Jungen, die ein Gewehr aus der Erde buddeln, das einem Toten gehörte, ohne zu ahnen, was das bringt. Bereits in der nächsten Szene, als die Mutter den glücklichen Finder Fljora nicht zu den Partisanen in den Wald lassen will, ändert sich die Perspektive. Über die Optik dieses 14-jährigen naiven Dorfjungen öffnet sich der Blick auf den Krieg. Die Kamera schlendert mit ihm durch das Partisanenlager, staunt über die seltsamen Typen und ihr buffoneskes Leben. Doch allmählich verliert das Gewohnte den Charakter des Sicheren, überall lauert der Tod, und er ist allmächtig. Mit der Bombardierung des Waldes beginnt Fljoras Marsch durch alle möglichen Tode: erschossen zu werden oder im Moor zu ertrinken, auf eine Mine zu treten oder im Feuer zu sterben. Der Ton imitiert sein subjektives Hören, die subjektive langsame Kamerafahrt seinen Blick. Der Regisseur rückt den Zuschauer aus der Position des distanzierten Betrachters heraus, immer mehr in das (physiologische) Erleben des Geschehens hinein. In der Drängelei der Massen in der Scheune – in Erwartung eines gemeinsamen unausweichlichen Endes – überkommt den Rezipienten Atemnot, und er empfindet selbst Bedrohung. 

Das verzerrte Antlitz des Jungen wird zum Spiegel dessen, was mit dem Gesicht des Zuschauers geschehen kann. Wenn Fljora dem Massaker entkommt, ist er dennoch als Mensch vernichtet, entwürdigt. Erst hier ändert Klimow erneut die Erzählperspektive: Dokumentaraufnahmen vom Ende des Krieges laufen rückwärts. Fljora entlädt sich, indem er immer wieder auf ein Bild des Führers schießt. Auch dessen Leben spult sich rückwärts ab. Bei einem Kinderbild Hitlers hält Fljora inne. Dies wird meist als Zeichen für wieder aufgebaute Menschlichkeit im Opfer gedeutet. Ob der Zuschauer genauso schnell aufzurichten ist und zur Mündigkeit zurückfinden kann, wird dabei nicht beachtet. Doch diesen Effekt wollte Klimow mit seinem radikalen „Hyperrealismus“ und Schockeffekten erreichen. 
Naturalistische Grausamkeiten, von der distanzierten Kamera emotionslos beobachtet, existieren neben starken Metaphern und der suggestiven Wirkung. Treibsand voller Leichen, Reiter der Apokalypse auf Motorrädern, die aus dichtem Nebel erscheinen; panoramaartige Szenen, die wie Höllenkreise wirken; weißer Schnee, der am Ende plötzlich wie ein Leichentuch die Märtyrer bedeckt. 
 

Das verzerrte Antlitz des Jungen wird in Klimows Film zum Spiegel dessen, was mit dem Gesicht des Zuschauers geschehen kann. Szene aus dem Film / Foto © L. Luppov/Sputnik

„Gelernt haben wir viel, Gefühle sind uns fremd“

Klimows Arbeitsmethoden waren, wie so oft bei seinen Filmen, ungewöhnlich. Um bei den Darstellern die Intensität des Grauens zu maximieren, ließ er das Gerücht verbreiten, dass ein tatsächliches Feuer gelegt wird. Anstelle der üblichen Platzpatronen wurden – trotz des erheblichen Risikos – echte Granaten und Leuchtspurgeschosse benutzt. Mit seinem Hauptdarsteller, einem 16-jährigen Moskauer Jungen, arbeitete Klimow nach der von ihm entwickelten „Methode der Posthypnose“. Um ihn vor psychischen Schäden zu bewahren, gab es im Filmstab eine Gruppe von Psychologen und Hypnotiseuren, die den Jungen nach den enormen Belastungen in den Zustand der Ansprechbarkeit zurückholten. Auch den Zuschauer schonte Klimow nicht: „Der denkt, er wisse alles über den Krieg. Aus Büchern, Filmen, aus Familiengeschichten. Doch Information ist nicht alles – gelernt haben wir viel, Gefühle sind uns fremd.“
Klimows Film erschien im selben Jahr wie das Buch des französischen Philosophen Paul Virilio Krieg und Kino (dt. 1986). Beide meinten, unabhängig voneinander, dass es keinen Krieg ohne die Eroberung der Wahrnehmung gebe. Kriegsfilme, die eine derartige psychologische Macht ausüben, gehörten daher in die Kategorie der Waffen. 
Klimows Film ist auf diese überwältigende suggestive Wirkung ausgerichtet. Die internationale Kritik sah in ihm einen barbarischen Zirkus, eine Mischung aus lyrischer Poesie und expressionistischem Albtraum und – ein gnadenloses Meisterwerk. 

Text: Oksana Bulgakowa
Veröffentlicht am: 22.06.2021



1.zit. nach Istoria sovetskogo kino, Band 4, 1941-1952. Moskau 1975, S. 49 
2.Das Interview mit Klimow hat Oksana Bulgakowa zusammen mit Dietmar Hochmuth 1984 in Moskau geführt. 

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