Schwarze Flecken im System

Über sechs Millionen Mal wurde der Film bereits geschaut. Die Rede ist von Solotoje dno (dt. Goldgrube) des belarussischen Aktivisten und Journalisten Stepan Putilo, der mit seinem Telegram-Kanal Nexta die Proteste in Belarus seit dem 9. August 2020 begleitet und geprägt hat. In dem Film, der in seiner Machart an die Videos von Alexej Nawalny erinnert, verfolgen Putilo und sein Team Spuren der systematischen Korruption im Hause Lukaschenko. Es geht um Luxus-Immobilien, dunkle Geschäfte und teure Autos. Man kann ihn als Versuch deuten, den Mythos von Lukaschenko als Antikorruptionskämpfer und ehrlichen Mann aus dem Volk zu zerstören. 

Zudem zeigt er, wie Aktivisten und Oppositionelle bemüht sind, Lukaschenko und seinen weiterhin rigide agierenden Machtapparat mit unterschiedlichen Mitteln unter Druck zu setzen und aus den Angeln zu heben. Dass die Machtvertikale in Belarus alles andere als stabil zu sein scheint, demonstrieren auch die Ämterrochaden der vergangenen Wochen. Zeigt das System möglicherweise Nervosität? 

Am morgigen Donnerstag, dem 25. März, begeht die Opposition den traditionellen Tag der Freiheit, den Dsen Woli. Eine offizielle Demonstration in Minsk wird es nicht geben. Die Autoritäten haben eine Genehmigung abgelehnt. Stattdessen kam es in diesen Tagen im ganzen Land zu zahlreichen Festnahmen. So wurden alle 35 Teilnehmer eines belarussischen Sprachkurses inhaftiert. Auch das sind Zeichen dafür, dass Lukaschenko die Opposition sehr ernst nimmt.

Der Politologe Waleri Karbalewitsch demonstriert in seiner aktuellen Analyse für Swobodnyje nowosti Plus, dass der Machtapparat gegen Attacken nicht so immun ist, wie es manchmal scheint.

Der Mythos der Unbestechlichkeit

Es ist nicht so, dass in diesem Film irgendwelche sensationellen Fakten präsentiert werden, von denen niemand etwas wusste. Einem politikinteressierten Publikum ist fast alles, was darin gezeigt wird, schon lange bekannt. Die unabhängigen Medien haben viel über Korruption berichtet.

Allerdings haben sich im vergangenen Jahr viele Belarussen in die Politik eingeschaltet, die sich früher nicht dafür interessiert haben. Und für diese Menschen ist der Inhalt des Films eine Entdeckung. Für sie sind die weißen Flecken der belarussischen Politik nun zu schwarzen mutiert.

Doch das Problem der Korruption weist bei uns eine Besonderheit auf. In Russland hat sich Alexej Nawalny mit dem Thema Korruption in der Politik einen Namen gemacht. In Belarus hingegen stand das Problem bis heute nur am Rande der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die Protestwelle seit dem 9. August 2020 wurde nicht durch Korruption ausgelöst, sondern durch ganz andere Dinge.

Korruption gilt in Belarus als etwas ganz Eigenes, weil es Lukaschenko gelungen ist, der Öffentlichkeit ein mythenhaftes System der belarussischen Gesellschaft und seiner eigenen Gestalt zu verkaufen. Es heißt, dieses Modell biete keinen fruchtbaren Boden für Korruption, denn hier habe man einen Staat ohne Reiche errichtet, eine Gesellschaft der sozialen Gleichheit. Angeblich hätte der volksnahe, ehrliche Präsident in Belarus nicht zugelassen, dass das Volksgut zerhackstückt wird; die Konzerne seien in staatlicher Hand geblieben – nicht die Oligarchen hätten sie sich einverleibt wie in Russland oder der Ukraine. Korruption ist im öffentlichen Bewusstsein in erster Linie an Privatisierung gekoppelt. Und Lukaschenko lässt regelmäßig hiesige Oligarchen einsperren; das hat dem einfachen Volk gefallen.

Diesem Konstrukt, auf dem Lukaschenkos Image aufgebaut ist, versetzte Putilos Film einen Schlag. Es hat sich gezeigt, dass eine Person mit grenzenloser Macht das Volksgut uneingeschränkt für sich nutzen kann, wenn es keine Kontrolle seitens der Gesellschaft gibt. 

Die Machthaber haben ihre moralische Autorität bereits mit der Präsidentschaftswahl und den darauf folgenden Ereignissen eingebüßt. Der Film ist gewissermaßen ein weiterer Nagel im Sarg. Er hilft zu zeigen, dass die Korruptionsimmunität des belarussischen Gesellschaftsmodells ein Mythos ist. Und der, der seinem Status nach das moralische Vorbild des Regimes sein sollte, entpuppt sich als Symbol seiner moralischen Krise. Der Film erklärt in gewisser Hinsicht, warum Lukaschenko so sehr an der Macht festhält.

Ein spezieller Fonds für den Präsidenten

Als Lukaschenko am 13. März nach der Teilnahme am Minsker Langlauf auf die Fragen der Journalisten antwortete, versuchte er sich zu rechtfertigen. Das gelang ihm nur mäßig. Es fiel ihm nichts Besseres ein, als zum wiederholten Mal an sein verblasstes Image vom ehrlichen Politiker zu erinnern: „Das Schlimmste für mich wäre, euch zu enttäuschen. Ich werde nie etwas sagen und dann etwas anderes tun […], das schwöre ich euch.“ Doch dieses Propaganda-Klischee zieht längst nicht mehr. Und was anderes hat er nicht zu bieten. Die Antwort auf die Frage, wozu ein einzelner Mensch so viele Residenzen braucht (im Film ist die Rede von 18), ist Lukaschenko letztlich schuldig geblieben. Schlimmer noch, er hat die zentrale Idee des Films – die Korrumpiertheit des Regimes – faktisch bestätigt. Seine Skianzüge bekommt er demnach von dem Unternehmer Sergej Teterin geschenkt.

Aber noch wichtiger ist, dass Lukaschenko zugegeben hat, eine sogenannte eiserne Reserve zu haben, die sich über die Jahre akkumuliert, für den Notfall: „Das Geld, das ich zum Beispiel jetzt in der Pandemie verwende – Boni für Ärzte, den Kauf von dringenden Medikamenten und Ähnliches –, dieses Geld ist nicht im Budget vorgesehen.“

Die Rede ist von einem besonderen Präsidentenfonds, den Lukaschenko ganz zu Beginn seiner Tätigkeit eingerichtet hat. Dieser Fonds ist in keinem Gesetz vorgesehen und wird vom Präsidenten persönlich verwaltet. Das veranlasste die Presse seinerzeit, über zwei belarussische Budgets zu schreiben – einem Staatsbudget und einem Präsidentenbudget. Aus welchen Quellen sich dieser Fonds speist, ist ungewiss. Unabhängige Medien vermuten, dass das Geld vor allem aus den breit angelegten kommerziellen Tätigkeiten des Präsidialamts stammt. In all den Jahren seit der Gründung des Fonds gab es keinerlei Informationen, keinerlei Rechenschaft über die Verwendung des Geldes oder seiner Menge. Es gab auch keine unabhängige Kontrolle über die Ausgaben.

In der Vergangenheit sah sich Lukaschenko unter dem Druck der Kritik und unangenehmen Fragen der Presse mehrfach gezwungen, die Existenz eines Schattenbudgets öffentlich einzuräumen. Zum letzten Mal wurde der Fonds während der Präsidentschaftswahl 2006 erwähnt. Damals hatte der Präsidentschaftskandidat Alexander Kosulin ihm vorgeworfen, Gelder aus Waffengeschäften veruntreut zu haben, und gefragt: „Wo ist das Geld, Sascha?“

Jetzt hat Lukaschenko faktisch zugegeben, dass der außerbudgetäre Präsidentenfonds nach wie vor existiert. Und er darin immer noch keinen Korruptionsaspekt sieht. Lukaschenko ist davon überzeugt, dass er das Recht hat, frei über mithilfe von Staatsstrukturen eingenommene Ressourcen zu verfügen, ohne vor jemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Und wenn er daraus Mittel für die Bedürfnisse der Gesellschaft entnimmt (wie jetzt, um das Gesundheitssystem zu unterstützen), dann betrachtet er das als Ausdruck seiner Großherzigkeit und Humanität.

Vertiefung der internationalen Isolation

Genau zu derselben Zeit musste Lukaschenko einräumen, dass sich das Land in internationaler Isolation befindet. Er stellte fest, dass man bereits beginne, Belarus an allen Fronten zu bedrängen, und erklärte: „Beachten Sie meine Worte: Wir haben keine Freunde in der Welt.“

So hat das Internationale Olympische Komitee (IOC) den Rücktritt Alexander Lukaschenkos von seinem Posten als Chef des belarussischen Nationalen Olympischen Komitees (NOK) nicht gebührend gewürdigt und die Wahl seines Sohnes Viktor Lukaschenko als seinen Nachfolger nicht akzeptiert. Seinen Worten zufolge forderte das IOC stattdessen, nicht nur den Präsidenten selbst, sondern auch seinen Sohn sowie den Chef des belarussischen Eishockey-Verbands Dimitri Baskow aus dem Nationalen Olympischen Komitee auszuschließen. Das Internationale Olympische Komitee wollte offenbar keine Zugeständnisse an das offizielle Minsk machen und schlug den vorgeschlagenen Kompromiss aus. Das ist eine weitere internationale Niederlage für die Lukaschenko-Familie.

Gleichzeitig kam es zu Reibereien mit dem Eurovision Song Contest. Die Europäische Rundfunkunion erklärte, dass das Lied Ja nautschu tebja [dt. Ich werde dich lehren – dek], mit dem die belarussische Band Galasy ZMesta das Land beim Wettbewerb vertreten sollte, gegen ihre Regeln verstoße, weil darin politische Motive erkennbar seien. Es besteht die Möglichkeit, dass unser Land von der Teilnahme am Wettbewerb ausgeschlossen wird.

Das Regime verpuppt sich

Das Regime reagierte auf diese Angriffe mit einer Verschärfung des Kampfes gegen seine Opponenten, mit der Mobilisierung von Ressourcen sowie der Säuberung des Staatsapparats. Außerdem mit einem künstlich provozierten diplomatischen Konflikt mit den polnischen Nachbarn.

Als am 11. März Kaderpositionen im Sicherheitsbereich neu besetzt wurden, setzte Lukaschenko neue Akzente bei den Aufgaben der Armee. Aus seinen Worten ist zu schließen, dass die Hauptbedrohung für den Staat jetzt weniger von außen als von innen ausgeht. Folglich muss sich die Armee auf den Kampf gegen den inneren Feind konzentrieren.

Damit fand die Neuverteilung der Schlüsselposten im Sicherheitsapparat ihren Abschluss, die mit dem Beginn der politischen Krise eingesetzt hatte: Nach dem 9. August 2020 hatte Lukaschenko den Posten des Vorsitzenden des KGB, des Vorsitzenden des Komitees für Staatskontrolle, des Innenministers, des Generalstaatsanwalts, des Vorsitzenden des Zollkomitees und des Vorsitzenden des Staatlichen Komitees für Gerichtsgutachten neu besetzt. Der Staatssekretär des Sicherheitsrates wurde zweimal ausgewechselt. Und am 11. März wurden dann schließlich der Vorsitzende des Ermittlungsungskomitees und der Minister für Katastrophenschutz neu ernannt.

Bemerkenswerterweise gab es bei den Führungsposten der anderen Ministerien und Behörden seit dem Regierungswechsel im Juni letzten Jahres praktisch keine Veränderungen, die bleiben unangetastet. Das alles deutet darauf hin, dass innerhalb der Sicherheitsstrukturen etwas heimlich gärt. Lukaschenko zweifelt an deren Loyalität und wirbelt deshalb wie wahnsinnig die Führungsetagen durch.

Die Entlassung des Ermittlungskomiteevorsitzenden Iwan Noskewitsch aus dem Amt war absehbar. Medienberichten zufolge hieß es, dass dieser Bereich Lukaschenko am wenigsten Loyalität zollt. Aus dem Zentralapparat des Komitees waren schon zahlreiche Mitarbeiter entlassen worden. Es wundert deshalb eher, dass Iwan Noskewitsch bis jetzt auf seinem Posten saß.

Sehr bezeichnend ist, dass zum neuen Vorsitzenden des Ermittlungskomitees Dimitri Gora ernannt wurde, der zuvor 26 Jahre lang beim KGB war. Immer häufiger besetzen Generäle des Komitees für Staatssicherheit Schlüsselposten im Staatsapparat.

Genauso bezeichnend ist, dass der ehemalige Polizeichef der Region Grodno Wadim Sinjawski zum neuen Minister für Katastrophenschutz ernannt wurde. Also niemand aus den Reihen des Katastrophenschutzministeriums selbst, sondern jemand aus einer anderen Sicherheitsbehörde. Vielleicht soll der Katastrophenschutz so mehr für den Kampf gegen Proteste geschärft werden als gegen Feuersbrünste.

Das Regime verpuppt sich, es wird immer verschlossener, monolithischer und reagiert auf jeden Impuls von außen mit Aggression.

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Zitat #10: „Lukaschenko kapiert nicht, wie massiv er die Belarussen verprellt hat“

„Die Belarussen sind wirklich aufgewacht!“

„Die Proteste sind zu einer Befreiungsbewegung geworden“

„Wer gehen will, geht leise“

Warten auf den Tag der Freiheit

Mit System gegen das System


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