Bystro #21: Volksversammlung in Belarus – Demokratie oder Maskerade?

Minsk ist aktuell in ein rot-grünes Farben- und Flaggenmeer getaucht. Am morgigen Donnerstag, 11. Februar,  beginnt in der belarussischen Hauptstadt die Allbelarussische Volksversammlung (russ. Wsebelorusskoje narodnoje sobranije). Alexander Lukaschenko hat ein solches Forum schon Mitte August in Aussicht gestellt, als die Protestwelle nach dem 9. August 2020 ihren Höhepunkt erreichte. An zwei Tagen werden 2700 Delegierte über Fragen der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik debattieren. Angeblich sollen auch Vorschläge zur Verfassungsreform vorgestellt werden. Wie legitim ist diese Versammlung? Wer genau nimmt daran teil? Was hält die Opposition von der Veranstaltung? Ein Bystro von Ingo Petz in fünf Fragen und Antworten.

  1. 1. Was genau ist die Allbelarussische Volksversammlung?

    Die Allbelarussische Volksversammlung wurde 1996 von Alexander Lukaschenko per Präsidialerlass ins Leben gerufen. Sie findet seitdem alle fünf Jahre statt. Die Delegierten, die aus allen Landesteilen stammen, sowie aus Verwaltung, Politik, Wirtschaft, Bildungswesen oder Kirche, haben in der Vergangenheit vor allem wirtschaftliche Entwicklungsfragen debattiert. Dabei wurden auch Kernziele für die jeweils nächsten fünf Jahre festgelegt, was an die Fünfjahrespläne der Sowjetunion erinnert, wie auch die ganze Aufmachung und Ästhetik an Parteitage der KPdSU erinnert. Entsprechend bezichtigen Kritiker die Veranstaltung als „Theater“ oder „Show von Lukaschenko“. Vertreter des Machtapparats halten die Versammlung dagegen für ein „demokratisches Forum“. Man kann sagen, dass es für Lukaschenko in seiner Vorstellung als „Landesvater“ ein wichtiges Legitimationsinstrument seiner Macht ist.

  2. 2. Wie läuft die Auswahl der Delegierten?

    Der Präsidialerlass (ukas) Nummer 492, mit dem Lukaschenko am 28. Dezember 2020 die Organisation der Versammlung veranlasst hat, gibt vor, dass die Abgeordneten von den Bezirks- und Stadträten in den sechs Oblasts des Landes nominiert werden. Dabei sollen sie ein möglichst breites Spektrum unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche abdecken. Jeder Oblast entsendet 310 Personen. Aus Minsk sollen nicht mehr als 370 Personen teilnehmen. Nach welchen Kriterien ausgewählt wird, ist allerdings völlig unklar. Der Prozess an sich ist höchst intransparent. Er wird zudem von der Präsidialverwaltung geleitet, also dem Kontrollinstrument der Machtvertikalen. Auf Grund der Erfahrung in der Vergangenheit kann man sagen, dass die Versammlung fast ausschließlich mit Pro-Lukaschenko-Leuten besetzt wird. Bei vergangenen Versammlungen gab es immer wieder Versuche von Oppositionellen, eine Teilnahme durchzusetzen. So 2006: Als der Präsidentschaftskandidat Alexander Kosulin Einlass begehrte, wurde er am Ort der Versammlung von der Miliz brutal zusammengeschlagen.

  3. 3. Wie verbindlich sind die Entscheidungen der Volksversammlung?

    Die Beschlüsse der Versammlung werden in Form von Resolutionen, also von Empfehlungen verfasst. Bedeutet: Es obliegt dem Ermessen von Lukaschenko, diese Empfehlungen an bestimmte Ausschüsse im Parlament oder an andere Gremien und Verwaltungsorgane weiterzugeben. Juristen wie Michail Kiriljuk halten die Versammlung grundsätzlich sogar für verfassungswidrig, weil sie als Organ oder Gremium in der Verfassung nicht erwähnt und eben nur über den Präsidialerlass geregelt sei. Auch deswegen sind Zweifel und Skepsis angebracht, ob die angekündigten Vorschläge zur Verfassungsreform – die eine Einschränkung der Vollmachten des Präsidenten und die Stärkung von Parlament und Regierung vorsehen sollen – je umgesetzt werden. Man kann aber auch annehmen, dass sie wohl kaum große Überraschungen liefern werden, in dem Sinne, dass man möglicherweise versucht, die Macht Lukaschenkos tatsächlich einzuhegen. 

  4. 4. Welchen Sinn hat die aktuelle Versammlung in Anbetracht der politischen Krise im Land?

    Gute Frage, über die man nur spekulieren kann. Die Versammlung findet zu einem Zeitpunkt statt, an dem sich das Land offensichtlich in einer tiefen Krise befindet. Allerdings kann man sagen, dass Lukaschenko wohl davon ausgeht, dass er die Proteste besiegt hat. Demzufolge dürfte die Versammlung eine Art Versuch sein, die aktuellen Machthaber – die allein durch ihr brutales Vorgehen eigentlich jegliche Legitimation verloren haben – weiter zu legitimieren und ihnen mit Hilfe einer Propagandashow den Rücken zu stärken. Was durchaus Sinn macht in der Logik Lukaschenkos, der sich für den einzigen potenten Garanten der belarussischen Souveränität hält. Auf der Versammlung werden wohl auch deshalb Leute wie Wadim Gigin sprechen. Er ist Dekan der Fakultät für Philosophie und soziale Wissenschaften der Belarussischen staatlichen Universität. Ein rhetorisch versierter Redner und Vertreter des Systems Lukaschenko, der aber zumindest für Teile der Öffentlichkeit eine Art Scharnierfunktion einnimmt und nicht unbedingt als Hardliner gesehen wird. 

  5. 5. Was sagt die belarussische Opposition zu der Versammlung?

    Die Demokratiebewegung lehnt die Versammlung weitgehend ab. Franak Wetschorka, Berater der Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, beispielsweise hält das Gremium für einen „Festtag für Beamte und Komplizen des Regimes“, wo alle Probleme schon gelöst seien. Pawel Latuschko, der wie viele andere Mitglieder des oppositionellen Koordinationsrates ins Ausland fliehen musste, hat angekündigt, alle Namen der „Marionettendelegierten“ identifizieren zu wollen, um sich bei der EU dafür einzusetzen, sie auf die aktuelle Sanktionsliste zu setzen. Ob es zu größeren Protesten während der Versammlung in Minsk kommt, darf allerdings bezweifelt werden, da die Hauptstadt aktuell einer von OMON und Miliz bewachten Festung gleicht. 



*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

Text: Ingo Petz
Stand: 10. Februar 2021

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