Nawalny vergiftet – wo bleibt der Protest?

Stell dir vor, der wichtigste russische Oppositionspolitiker wurde vergiftet – und in Russland geht kein Mensch deswegen auf die Straße. Kaum ein anderer konnte die Massen so mobilisieren wie Alexej Nawalny, der in seinen Recherchen Korruptionsfälle auf höchster Ebene aufdeckte. Doch wo bleibt nun, da nachgewiesen ist, dass Nawalny mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet wurde, der Protest – den es nach der Ermordung etwa von Boris Nemzow durchaus gab? „Es ist eine wichtige Nachricht, was die internationalen Beziehungen betrifft, aber keine, die die Gefühle der breiten Masse erregt”, meint etwa die Politologin Ekaterina Schulmann gegenüber The Bell, und weiter: „Es gibt die, die auch ohne Erklärung der deutschen Bundesregierung wussten, was passiert ist. Und es gibt die, die denken, dass das eine Provokation des Westens ist.”

Unterdessen gehen einige oppositionelle und liberale Stimmen davon aus, dass Nawalny die Vergiftung eher „aus Versehen” überlebte, etwa, weil der Pilot eine Notlandung wagte – und dabei eine Bombendrohung ignorierte, die überraschenderweise kurz nach der Anfrage der Piloten im Flughafen Omsk eingegangen war. Darüber berichtete das Medium Znak.

Wo bleiben die Massen, die Nawalny einst mobilisieren konnte, die im vergangenen Jahr gegen die Festnahme des Journalisten Iwan Golunow oder die Wahlfälschungen in Moskau demonstriert haben?
Der Moskauer Politologe und Historiker Sergej Medwedew macht seiner Empörung Luft auf seinem Facebook-Account, den rund 32.000 Abonnenten wie einen Blog lesen.


Update, 07.09.2020, 15:45 Uhr: Wie die Charité in einer Pressemeldung bekannt gibt, liegt Nawalny unterdessen nicht mehr im künstlichen Koma und reagiert auf Ansprache.

Das Überraschendste an der Reaktion auf die Vergiftung Nawalnys ist, dass es keine Reaktion gibt. Naja, ein paar schwache Reflexe gibt es durchaus: Ist ja verständlich, dass der Kreml in tumbem Weiß-von-Nichts verharrt, wie auch schon bei MH17 („beweist das erst mal”), das Außenministerium scheppert mit Töpfen, in die Arena geschickt werden die Altmeister der Narretei Roschal und Posner – der Propagandakessel braut, blubbert, schmatzt wie immer. Doch die Gesellschaft, die Opposition, der Westen sind wundersam ruhig. Nichts Besonderes: Ein Mordanschlag auf den führenden Oppositionspolitiker, das ist doch das Normalste von der Welt, er war ja selbst schuld, hat es ja quasi herausgefordert, also business as usual, weiter im Text. 

Eindeutige Diagnose – und alle schweigen

Der Mord an Nemzow vor fünf Jahren glich der Explosion einer Vakuumbombe. Der Kreml erstarrte, Putin verschwand für zwei Wochen, Zehntausende gingen auf die Straße, jetzt dagegen: Stille. Wobei Nawalny am heutigen Tag – bei aller Verehrung für Nemzow und aller Anerkennung seiner Persönlichkeit – eine sehr viel gewichtigere politische Figur ist: Er ist ein Medium, Kopf einer regional gut organisierten Institution, er ist die Politik, der einzige Mann in Russland, der es mit Putin aufnehmen kann, und dessen Name auszusprechen das Regime scheut wie der Teufel das Weihwasser.

Für viele war die Existenz eines Nawalny der Indikator dafür, dass man trotz des Regimes in Russland leben kann, nach der Logik: Nicht ermordet, nicht im Knast – das heißt, man kann es hier noch irgendwie aushalten. Und jetzt ist er nur zufällig, aus Blödheit der Vollstrecker nicht tot, schon drei Wochen im Koma, unklar, in welchem Zustand er ins Leben zurückfindet, ob er zurückkehren wird nach Russland und in die Politik, die Diagnose ist eindeutig – und alle schweigen.
 
Aber was heißt hier Nemzow – 2015 liegt lange zurück, noch vor etwa einem Jahr gingen doch alle für den Journalisten Iwan Golunow auf die Straße, und auch gegen die Fälschungen (es klingt fast lächerlich) bei den Wahlen zum Moskauer Stadtparlament. Stellt euch das mal vor: Die Menschen lieferten sich wegen des Moskauer Stadtparlaments den Gummiknüppeln der OMON-Kräfte und der Rosgwardija aus. Und dieselben Menschen akzeptieren ein Jahr später schweigend die Nullsetzung in der Verfassung, den unabsetzbaren Präsidenten, die Wahllokale auf Baumstümpfen – und jetzt den Mordanschlag und die Ausschaltung von Nawalny.

Die Normalisierung des politisches Terrors

Innerhalb dieses einen Jahres hat eine schleichende und dadurch umso beängstigerende Normalisierung des politischen Terrors stattgefunden. Soll heißen: Es gab ihn schon immer, aber er hat zumindest einen gewissen Protest hervorgerufen. Doch jetzt wird alles schweigend hingenommen, das ist eben die neue Norm: Folter, Mord, Vergiftung, fabrizierte Verfahren. „Selbst schuld“, „Man soll sich nicht so weit aus dem Fenster lehnen“. Ich weißt nicht, was überwiegt: Gleichgültigkeit, Angst, Kraftlosigkeit, Lähmung … Lesen Sie gern die Geschichte aller totalitären Regime des 20. Jahrhunderts, wir leben wie im Lehrbuch.
 
Unter ferner liefen steht in den Nachrichten an fünfter Position: In Krasnojarsk wurde eine terroristische Organisation 14- und 15-jähriger Schüler aufgedeckt. Sie hätten Explosionen in Schulen und die Ermordung von Mitschülern geplant und seien schon geständig. Nach Delo Seti und dem Fall Nowoje Welitschije ist das die neue Norm, die Routine des Jahres 2020. 
 
Wie jetzt weiter? Ein Strafverfahren wegen der Untertunnelung des Kreml? Gegen die Schädlinge des Produktionsbetriebs? Gegen Mörder im Arztkittel? Gegen die Agenten des japanischen und finnischen Geheimdienstes? Ach ja, einen tschechischen Spion haben wir ja schon, die Haft wurde eben erst um drei Monate verlängert …

Nicht Nawalny liegt im Koma, sondern wir alle.

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