„Liquidierung“ von Abweichlern?

Der Begriff soziale Distanz ist heute in aller Munde. In den Sozialwissenschaften beschreibt er unter anderem den Abstand zwischen sozialen Gruppen: zwischen Ethnien zum Beispiel, Milieus oder sexuellen Orientierungen.

In einem ähnlichen Sinn verwendet auch das Lewada-Zentrum den Distanz-Begriff: In einer langjährigen Studie untersucht das unabhängige Meinungs­forschungs­institut unter anderem, was die Gesellschaft über die Menschen denkt, deren Verhalten von der gesellschaftlichen Norm abweicht. Schon in vergangenen Jahren haben einzelne Stimmen diese Untersuchungsreihe kritisiert, die Ausgabe vom April 2020 provozierte aber einen regelrechten Eklat, mit massiven Vorwürfen aus dem liberalen Lager.

Während sogar einzelne Mitarbeiter des Umfrageinstituts Kritik an der Studie äußern, bricht der russische Poet Dimitri Kusmin eine Lanze für Lewada. Auf Colta argumentiert der bekannte Akteur der LGBT-Bewegung gegen die „nicht totzukriegende hysterische Kampagne gegen das Lewada-Zentrum“.

Sie denken wahrscheinlich, ich will das unabhängige russische Umfrageinstitut Lewada gegenüber dem Kreml verteidigen. Der hatte der Zeitung Vedomosti offenbar verboten, weiterhin Umfragen dieses Instituts zu veröffentlichen.

Aber nein, zu dem Thema habe ich nichts beizutragen. Stattdessen verfolge ich mit Interesse die nicht totzukriegende hysterische Kampagne gegen das Lewada-Zentrum aus einer Ecke, die allem Anschein nach dem Kreml ideologisch exakt entgegensteht. Es handelt sich um eine progressiv eingestellte Öffentlichkeit, die buchstäblich dasselbe Problem mit dem Lewada-Zentrum hat wie die Präsidialverwaltung: Dass die Soziologen das Volk so zeigen, wie diese Öffentlichkeit es nicht sehen will.

Es geht um eine kürzlich durchgeführte Umfrage. In dieser sollten sich die Befragten dazu äußern, ob sie Menschen, die in irgendeiner Weise anders sind, nicht gerne ausrotten oder in die Verbannung schicken würden – wobei unter „anders“ alles Mögliche zusammengefasst war: von Sektenanhängern über Homosexuelle bis hin zu Feministinnen.

„Das Schlimmste dabei ist, dass mit solchen Untersuchungen die öffentliche Meinung nicht nur erfasst, sondern auch geformt wird“, schreibt der Aktivist Karen Schainjan auf Facebook. Der Soziologe Wardan Barsegjan stimmt ein: „Terroristen und Pädophile werden da leichtfertig mit ganz normalen Menschen wie Feministinnen, Schwulen, Menschen mit HIV und Obdachlosen in eine Reihe gestellt.“

Die Öffentlichkeit kritisiert nun einerseits, dass bereits die Fragestellung Homosexuelle und Terroristen unter einem Label vereint – als „Menschen, deren Verhalten von der gesellschaftlichen Norm abweicht“. Andererseits würden die in den Antwortoptionen vorgeschlagenen radikalen Maßnahmen die Befragten dazu provozieren, eben diese Maßnahmen zu wählen. 

Diese Überlegung ist ein hübsches Beispiel für das abstruse Selbstverständnis der Intelligenzija: Würden wir dem Volk nicht einflüstern, dass es den Wunsch haben könnte, jemanden zu strangulieren, der ihnen nicht gefällt, würde es da nie von selbst drauf kommen.

Umfrageergebnisse widerlegen alle Vorwürfe

Man sollte meinen, dass die jüdischen Pogrome zu Zeiten des Russischen Reichs ausreichen sollten, die glühenden Vertreter dieser Theorie etwas herunterzukühlen. Doch viel entscheidender ist die Tatsache, dass bei genauer Betrachtung die Umfrageergebnisse die vorgebrachten Vorwürfe sofort widerlegen.

Erstens: Bei weitem nicht alle „Menschen, deren Verhalten von der gesellschaftlichen Norm abweicht“, lösen bei den Befragten den Wunsch nach radikalen Maßnahmen aus. Obdachlose und HIV-Infizierte wollten beispielsweise nur zwei Prozent der Befragten gerne „liquidieren“, was nur knapp über dem Bereich einer normalen Messunsicherheit von eineinhalb Prozent liegt. Das Nebeneinander von Obdachlosen und Terroristen in ein- und derselben Frage führt also nicht dazu, dass die Menschen eher bereit sind, Obdachlose zu erschießen.

Während 15 Prozent angeben, Drogenabhängige „liquidieren“ zu wollen, sind es bei Alkoholikern nur fünf Prozent. Es liegt nahe, diesen Umstand darauf zurückzuführen, dass Alkoholismus für die meisten Befragten ein „bekanntes Übel“ ist, mit dem sie schon lange und alltäglich zu tun haben, während Drogenabhängigkeit etwas ist, das sie nur aus dem Fernsehen kennen. Es fällt deshalb leichter, diesem Übel die vollständige Liquidation zu wünschen als dem dauerblauen Onkel Wassja von nebenan.

Terroristen und Extremisten dürften wohl die wenigsten Befragten zu ihrem Bekanntenkreis zählen; aber auch was Vorhandensein von Feministinnen unter persönlichen Bekannten angeht, regen sich leise Zweifel. Und zu Schwulen und Lesben existiert eine Statistik, die ebenfalls vom Lewada-Zentrum stammt: In einer Umfrage von 2019 glaubten 89 Prozent der Befragten, weder Schwule noch Lesben persönlich zu kennen.

Zweitens liegt bei dieser Frage eine statistische Tendenz vor: Das Lewada-Zentrum führt diese Umfrage bereits seit 1989 durch. In diesem mich persönlich betreffenden Abschnitt über Schwule und Lesben ist Folgendes wichtig: In der ersten Umfrage von 1989 ist die negative Einstellung [Schwulen und Lesben] gegenüber auf ihrem historischen Maximum. Ein historisches Minimum zeigt die Umfrage von 1999. Danach gibt es einen Rollback, bis sich das Bild zum Jahr 2008 hin insgesamt stabilisiert: Die Zahlen von 2008 und 2020 unterscheiden sich nur minimal, eine leichte Verschlechterung sehen wir jeweils 2012 und 2015 (am deutlichsten ausgeprägt war die Tendenz zur Menschenfeindlichkeit im Jahr 2015, was [der Politikwissenschaftler] Iwan Preobrashenski zurecht auf die Welle aggressiver Propaganda im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg zurückführt).

Was sagt uns das? Vor allem: dass eine negative Formulierung eine Umfrage nicht daran hindert, eine positive Tendenz aufzuzeigen, wenn es eine gibt. Bedeutsam ist außerdem, dass die signifikante Verbesserung der Einstellung zu Schwulen und Lesben in die liberale Zeit unter Jelzin fällt und mit dem Beginn der Putinschen Stabilität im Jahr 2000 endet – und nicht etwa mit dem Aufkommen der Propaganda gegen Homosexuelle 2012 und 2013, deren Auswirkung den Umfragewerten zufolge kurzfristig minimal war und langfristig bei Null liegt.

Positive Tendenz – trotz negativer Formulierung

Natürlich müssen wir alle besser arbeiten, auch die Soziologen. Die Meinung von Aktivisten und Vertretern der Zivilgesellschaft zu berücksichtigen, auch bei der Formulierung von Fragen, ist keine schlechte Idee – aber kein Selbstzweck. 2019 wurde eine Umfrage zur Einstellung gegenüber Schwulen und Lesben durchgeführt, und zwar unter Mitwirkung einer der führenden russischen LGBT-Organisationen, der Gruppe „Wychod“ [„Coming out“]. Was meinen Sie, was dabei herauskam? Negativ äußerten sich immer noch die etwa gleichen 56 Prozent der Befragten. Nur, dass die liberal gesinnten Journalisten nicht darauf abzielten, sondern lieber titelten: „47 Prozent der Russen sprechen sich für die Gleichberechtigung der LGBT-Gemeinschaft aus“ – eine perfekte Täuschung. Die Frage lautete, ob Schwule und Lesben „die gleichen Rechte wie andere Bürger“ haben sollen. (Es ist natürlich lobenswert, dass 47 Prozent dafür waren, aber hier fehlte die nächste Frage: „Dürfen Schwule und Lesben als Lehrer arbeiten?“ Erst damit hätte man ein Bild davon bekommen, welche „gleichen Rechte“ die Befragten im Sinn haben.)

Stockholm-Syndrom der russischen Gesellschaft

Was sagt uns dieses ganze Zahlen-Kaleidoskop? Das, was wir auch ohne die Zahlen bereits wissen: Die Konzentration des Hasses ist in Putins Russland extrem hoch. Dieses Regime ist quasi auf Hass erbaut. Gegen wen er sich richtet, ist dabei fast nebensächlich: In der Umfrage von 2015 waren unter den Personen mit „abweichendem Verhalten“ auch Punks und Goths aufgeführt – welche Punks im Jahre 2015, fragt man sich? Die muss man doch in den Archiven suchen! Aber der Hass hat ein gutes Gedächtnis: Elf Prozent der Befragten wollten sogar die Punks „liquidieren“ („isolieren“ wollten sie weitere 19 Prozent).

Ständig daran zu denken, dass die Aggression der stabile emotionale Hintergrund der Gesellschaft ist, in der man lebt, das ist psychologisch schwer. Wenn man die Menschen daran erinnert, legen sie allmählich Elemente des Stockholm-Syndroms an den Tag: Schuld sind dann nicht mehr die, die hassen oder den Hass als Administrative Ressource benutzen, sondern diejenigen, die dafür sorgen, dass wir den Hass nicht vergessen.

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