Tausche Freiheit gegen Gesundheit

Wie stark darf der Staat im Fall einer Epidemie die Freiheitsrechte seiner Bürger einschränken? Diese Debatte wird derzeit auch in Deutschland geführt, allerdings unter anderen Vorzeichen als in Russland.
Den Moskauern etwa ist es seit 30. März untersagt, das Haus zu verlassen – es sei denn, um zum Arzt, zur Apotheke, zur Müllentsorgung, zum nächstgelegenen Supermarkt oder mit ihren Hunden Gassi zu gehen (nicht weiter als 100 Meter). Um zu überprüfen, ob sich alle daran halten, wird auch Gesichtserkennung eingesetzt, die Bürger müssen vor jedem Gang nach draußen einen Antrag stellen: Sie erhalten daraufhin einen QR-Code, der bei Kontrollen vorzuzeigen ist. 

Bislang scheint die rigide und sehr kurzfristig umgesetzte Ausgangssperre jedoch nicht die volle Wirkung zu entfalten: Moskau gilt als Epizentrum der Epidemie in Russland. Laut offiziellen Daten gibt es in Russland mehr als 47.000 bestätigte Corona-Fälle (Stand: 20.04.2020), mehr als die Hälfte (über 26.000 – Stand 20.04.2020) davon in Moskau. Gleichzeitig ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen, gerade auch in anderen Regionen des Landes.

Wie stark also darf der Staat im Fall einer Epidemie die Freiheitsrechte seiner Bürger einschränken? Er muss sie einschränken, sagt Oleg Kaschin, und zerlegt die Frage dennoch gleichsam in viele Einzelteile: Was für ein Staat schränkt da gerade welche Rechte wie ein?
In seinem Kommentar auf Republic warnt Kaschin davor, den russischen, den italienischen, den chinesischen und den amerikanischen Polizisten gleichzusetzen – auch, wenn sie vermeintlich alle das gleiche tun im Kampf gegen das Virus. 

Corona hat Russland mit einem Schlag wieder zu einem Teil der Welt gemacht – und alle noch vor diesem Frühling existierenden Widersprüche sind, wenn auch nicht aufgelöst, so doch weit ins Abseits gerückt. Die abgedroschenen Parallelen zum Zweiten Weltkrieg sind passender denn je: So etwas gab es zuletzt 1941, als am 22. Juni unsere weltweit einzigartige Stalin-Diktatur sich binnen Stunden in einen von vielen europäischen Staaten verwandelte, die Hitlers Aggression zu spüren bekamen. 

Der spezifische Irrsinn wird vom weltweiten Irrsinn verschlungen

In Frankreich oder Polen hat es weder Kollektivierung noch den Gulag gegeben, doch der Krieg hat diesen Unterschied – wenn auch nur zeitweise – nivelliert. Der sowjetische Irrsinn wurde vom weltweiten Irrsinn verschlungen, und sogar die Männer mit den blauen Streifen an den Schirmmützen wurden, ohne sich dabei im Geringsten zu verändern, plötzlich Teil einer weltweiten Front im Kampf zwischen Gut und Böse. Die Hölle des Jahres 1937 wurde im Kontext der damaligen Welt beinahe erklärbar: Alle haben ja Frankreich oder Norwegen gesehen, wo man die potentiellen Verräter nicht rechtzeitig liquidiert hat, und was daraus wurde, als die Deutschen kamen. Das vaterländische Böse in Russland wurde auf einmal zum Teil des globalen Guten – und wen interessierte es da schon, dass es immer noch böse war?

Plötzlich Teil einer weltweiten Front im Kampf zwischen Gut und Böse

Man kann nicht einmal sagen, dass sich die Geschichte jetzt als Farce wiederholt: Sie wiederholt sich einfach. Russland ist wieder zurück in der Welt, die russische Quarantäne ist nichts weiter als ein Teil der globalen Quarantäne und der russische Polizeistaat nichts weiter als ein Teil der großen Polizei-Internationale. Jene Männer in Uniform, die Jesus Worobjow am Patriarchenteich jagen, haben sich im Vergleich zu ihrem Selbst von vorgestern überhaupt nicht verändert, und plötzlich hat die ganze Welt eine Vorstellung von ihnen, ohne dass es eine Übersetzung braucht. Der russische Polizist jagt einen Quarantäne-Sünder in Russland, in Amerika macht der amerikanische Cop genau dasselbe, in Italien der italienische, in Xinjiang der chinesische. Die Welt ist eins, obwohl man intuitiv ahnen könnte, dass zwischen dem chinesischen Aufseher und dem europäischen Polizeibeamten doch ein Unterschied besteht. Der Bürgermeister von London und sein Moskauer Kollege beschwören die Stadtbewohner mit den gleichen Worten, nicht mehr U-Bahn zu fahren – wie soll man denn da einen Unterschied zwischen den beiden Bürgermeistern bemerken?

Weltweiter Tag des Opritschniks

Alle exklusiven Merkmale des russischen Staates sind in den Schatten des globalen Quarantäne-Einerlei gerückt. Überall scheint der Tag des Opritschniks zu dräuen. Wie viel Angst hatten wir, dass Putin die Grenzen zumachen könnte – jetzt, wo sie zu sind, wirkt Russland im allgemeinen Vergleich ganz normal, und niemand vermag zu sagen, ob es die einstige Angst ist, die wahr geworden ist, oder nur Zufall. Auch auf den digitalen Gulag haben wir gewartet – die seltenen Berichte über die totalitäre Utopie in Xinjiang lasen sich wie eine Warnung vor einer möglichen russischen Zukunft und wie ein sich allmählich in die längst gewohnten Bilder von aufgelösten Demonstrationen und der Jagd auf Aktivisten hineindrängender Cyberpunk mit Überwachungskameras und Gesichtserkennungssystemen. Jetzt, wo die Cyberpolizei einen triumphalen Durchbruch erzielt, halten sie viel zu viele für ein witziges, interessantes Experiment. Haha, irgendein Witzbold hat’s geschafft einen QR-Code mit „shopa“ [dt. Arsch] als Adresse zu beantragen. 

Digitaler Gulag

Vielleicht begegnet uns auch bald wieder das „menschliche Ei“, das „einfach spazieren ging“, als die scharfsinnigen Aktivisten den schmalen Grat zwischen verbotenen Demonstrationen und erlaubten Spaziergängen ausloteten. Die etwas Älteren werden sich noch an die „Spaziergänge zum Bäcker“ und die „Dichter-Spaziergänge“ erinnern – und so dumm und trivial dieser karnevaleske Anfang der 2010er auch gewesen sein mag, sollte man sich eine entscheidende Tatsache bewusst machen: Im Gegensatz zu allen anderen geht die russische Tradition des Kampfs gegen Spaziergänge weit über die Coronavirus-Geschichte hinaus, und die Leute, die den Moskauern heute aus epidemiologischen Gründen verbieten, spazieren zu gehen, sind genau dieselben, die es ihnen gestern aus politischen Gründen verboten haben.

Es wäre doch seltsam, würde man sich nicht klarmachen, dass dich gerade dieselben Leute einsperren, die auch ohne jedes Coronavirus liebend gerne alle einsperren würden

Das soll natürlich nicht heißen, dass es jetzt der höchste Ausdruck von persönlicher Freiheit wäre, die Quarantäne-Vorschriften zu missachten und massenhaft auf die Straße zu gehen. Doch es wäre seltsam, würde man sich nicht klarmachen, dass dich gerade dieselben Leute einsperren, die auch ohne jedes Coronavirus liebend gerne alle einsperren würden. 
Ein Teil der russischen Gesellschaft wartet seit gefühlt 20 Jahren auf einen Angriff des Regimes auf die bürgerlichen Freiheiten. Doch dass die größte Freiheitsberaubung seit den frühen Sowjetjahren so routiniert, so alltäglich ablaufen würde, nicht nur ohne auf Protest zu stoßen, sondern auch noch begleitet von Beifall, sogar vonseiten der Regimekritiker, das hätte kaum jemand gedacht. Auch nicht, dass das öffentliche Brandmarken der Sünder, seien es Grillbegeisterte oder Gläubige, zum ersten Mal seit Jahrzehnten buchstäblich zur Volkssache wird. Auch die Staatsentertainer sind am Werk, doch erstmals werden ihre Dienste gar nicht gebraucht – die Menschen werden liebend gerne selbst auf jeden mit dem Finger zeigen, der ohne Erlaubnis das Haus verlässt, das ist Konsens.

Manchmal müssen auch Bösewichte gegen das Böse kämpfen, doch trotzdem bleiben sie Bösewichte

Das Verhalten der Staatsmacht ist traditionell taktlos. Noch nie hat sie so offen und unverfroren über das Volk als lästigen Störfaktor geredet, doch das ist keine große Offenbarung – na, was denn, so kennen wir sie doch, die russische Stastsmacht. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten (fast ist man wieder versucht zu sagen: zum ersten Mal seit 1945) verfolgt die Staatsmacht ein unbestritten gutes Ziel. Doch für viel zu viele, wenn nicht sogar für alle, scheint die Fraglosigkeit des Ziels jegliche Zweifel an den Mitteln aufzuheben, dabei muss man die Dinge offen aussprechen: Manchmal müssen auch Bösewichte gegen das Böse kämpfen, doch trotzdem bleiben sie Bösewichte. 

Ein Übel bleibt ein Übel, auch wenn es im Namen des Guten geschieht

Die Einschränkung von Freiheiten ehrlicher Bürger ist ein Übel, das ein Übel bleibt, auch wenn es im Namen des Guten geschieht. Das Ausspionieren von Menschen ist ein Übel. Die Lüge ist ein Übel. Zensur ist ein Übel. Der sowjetische Hass auf den Bürger ist ein Übel. 
Ein russischer Beamter, ein russischer Silowik, der heute Böses im Namen des Guten tut, hat nicht das Recht zu vergessen, dass er immer noch Böses tut. Und ein Bürger, dessen bürgerliche Pflicht und Verantwortung es in diesen schwierigen Tagen ist gehorsam zu sein, hat nicht das Recht zu vergessen, dass Gehorsam nicht der natürliche Zustand des Bürgers sein darf und dass das Leben, das gerade begonnen hat, abnormal und entwürdigend ist. Ja, niemand hat eine Alternative zum Deal „Freiheit gegen Gesundheit“ vorgeschlagen. Wahrscheinlich gibt es keine. Aber wenigstens darf man nicht die Augen davor verschließen, dass es sich um genau diesen Deal handelt. 

Nicht nur der Arzt, der vor Erschöpfung umfällt, bringt ein beispielloses Opfer, sondern jeder Mensch, der zu Hause eingesperrt ist

Und wenn es für die Staatsmacht nur eine Art Stresstest ist, so ist es für den Bürger eine beispiellose Verunglimpfung der Grundfesten seines Seins. Es wäre naiv, die Staatsmacht jetzt darum zu bitten, verantwortungsvoller, barmherziger und ehrlicher zu sein – nein, das wird sie natürlich nie werden; doch sollte sie ruhig darüber nachdenken, wie sich diese tragische Zeit auf ihre künftige Beziehung zu den Bürgern auswirken wird. Ob es die Heldentaten der Ärzte und die Rettung vor dem Hunger (wobei, ist das überhaupt garantiert?) sein werden, die von diesem Frühling im kollektiven Gedächtnis zurückbleiben, oder nicht doch diese demütigenden QR-Codes und die öffentliche Verspottung der „besonders Begabten“. 

Wir wissen, dass wir uns die Hände waschen, nicht ins Gesicht fassen und zu Hause bleiben sollen. Aber dieser Aufzählung sollte man vielleicht noch etwas nicht weniger Wichtiges hinzufügen: nicht zu vergessen, dass die Würde des Menschen in jeder Hölle ein unverzichtbarer Wert bleibt und dass die Freiheit nicht viel weniger wert ist als das Leben selbst. Und dass genau jetzt nicht nur der Arzt, der vor Erschöpfung umfällt, ein beispielloses Opfer bringt, sondern jeder Mensch, der zu Hause eingesperrt ist – und diesem Menschen Achtung zu zollen, ist die Pflicht des Staates, die er leider oft vergisst.

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