Kino #11: Das Asthenische Syndrom

Das asthenische Syndrom ist eine Krankheit. Der gleichnamige Film von Kira Muratowa aber ist eine Diagnose, eine katastrophale Diagnose, die Muratowa der späten Sowjetgesellschaft stellt. Der Film aus dem Jahr 1989 wurde zum letzten verbotenen Film in der UdSSR.

Der Stein des Anstoßes war in erster Linie eine Szene, in der eine Frau im Metro-Waggon nachdenklich über einen Streit monologisiert. Dabei benutzt die elegante Frau die drastischsten Flüche, die das Russische kennt.1 In der U-Bahn fragt sich die Frau nun, warum das eigentlich alles? Alles sei doch so schön.
Die Sprache des Mat war vorher noch nie auf der Leinwand zu hören gewesen, dennoch kann man davon ausgehen, dass der Zensurbehörde der Film als Ganzes unheimlich war.

Die Handlung im Asthenischen Syndrom ist von Beziehungslosigkeit, wenn nicht von Brutalität im Umgang miteinander geprägt. Immer wieder mischen sich clownesque Momente unter die Beschimpfungen und Grobheiten und lassen den Sinnverlust noch absoluter erscheinen. Ende der 1980er Jahre war die sowjetische Gesellschaft weitgehend atomisiert, und im öffentlichen Raum herrschte eine feindselige Umgangsart. Die offene Gewalt, die wir im Film auch zu sehen bekommen, wird erst mit den 1990er Jahren Realität. Muratowa selbst sagte einmal über Das asthenische Syndrom, der Film sei ein Portrait des Zustandes der Menschheit.2 Und doch ist der Film, der mehrere dokumentarische Szenen enthält, auch Spiegelbild seines spezifischen Entstehungskontextes. Muratowa liefert mit dem Epos ihre brachiale Antwort auf die zerfallene Gesellschaft der späten Sowjetunion.

Eine Kopie des Films konnte aus dem Land geschmuggelt werden und der Film erlebte im Jahr 1990 seine Premiere auf der Berlinale. Dort wurde er mit einem Silbernen Bären, dem großen Preis der Jury, ausgezeichnet. In der Sowjetunion wurden Muratowa umso mehr Vorwürfe gemacht. Nach langen Diskussionen und Verhandlungen durfte der Film schließlich sechs Monate später in den eingeschränkten Vertrieb aufgenommen werden. Das bedeutete, dass Vorführungen auf kleine Kino-Clubs beschränkt waren und sie eingebettet sein sollten in Vorträge von Soziologen oder Filmkritikern.3 1991 dann bekam der Film den Nika zugesprochen.

Individuelles Leid als Leiden der Gesellschaft

Für Das asthenische Syndrom kombiniert Muratowa zwei Drehbücher zu einem Film. Der erste, schwarzweiß gedrehte Teil des Films zeigt eine Frau, Natalja, nach dem Tod ihres Ehemanns. Dem Schmerz über den Verlust begegnet Natalja mit Ausbrüchen verbaler und körperlicher Gewalt. Die Ärztin beschimpft Freunde, Kollegen und greift mehrfach Passanten auf der Straße an. Sie nimmt sich einen Betrunkenen mit nach Hause ins Bett, nur um die ausgemergelte nackte Gestalt kurz darauf laut schreiend aus ihrer Wohnung zu jagen.Collage-Sequenzen, spektakelhafte Szenen und exaltierte Figuren / Fotos © Odesskaja Kinostudija

Der Hauptteil des Films, in Farbe, zeigt lose Episoden um den Lehrer Nikolaj. Dieser begegnet uns zum ersten Mal im Kinosaal, in dem der Film über Natalja als Film im Film, vorgeführt worden ist. Ein Moderator und die Darstellerin von Natalja versuchen ein Publikumsgespräch zu führen. Die Zuschauer, so der Moderator, hätten jetzt die Möglichkeit sich mit dem „echten Kino” auseinanderzusetzen, von Regisseuren wie „German, Sokurow, Muratowa”. Doch das Publikum drängt ungeduldig nach draußen, wobei es zu Handgreiflichkeiten unter den Zuschauern kommt. Nataljas individuelles Leid und ihre Aggressionen werden im zweiten Teil des Films auf die gesamte Gesellschaft übertragen. Als Bindeglied dient der Affekt. Es ist, als würde Muratowa uns sagen wollen: Das menschliche Leben ist eine Tragödie und das zeigt sich bereits darin, dass es schreckliche Unglücke wie den Tod gibt.

Das asthenische Syndrom ist der bis dahin unkonventionellste Film Muratowas. Auch wenn Muratowa schon in ihren vorangegangenen Filmen zunehmend die Handlung fragmentiert und das Verhalten ihrer Figuren verkünstelt, so wird eine durchgängige Geschichte nun komplett aufgekündigt. Anstelle von Verdichtung, Entwicklung und einem Spannungsbogen steht eine Art epischer Realismus. Dieser wird von dokumentarischen Einsprengseln unterstützt. Darunter eine erschütternde Szene verwaister Hunde in einem Hundezwinger, die Schimpftirade einer Frau über die Wohnungsnot, und der wahnsinnige Monolog eines Insassen der Irrenanstalt.4 Dabei baut die Struktur des Films oftmals auf einer Montage von kontrastierenden Erregungen oder Affekten auf. Das Fehlen dramaturgischer Bögen und ursächlicher Zusammenhänge spiegelt die Abwesenheit eines gesellschaftlichen Zusammenhalts wider.„Warum das eigentlich alles? Alles ist doch so schön."

Kann Kunst die Welt retten?

Während sich die meisten Figuren anschreien und prügeln, leidet die Hauptfigur Nikolaj unter dem asthenischen Syndrom: chronischer Schwäche und Müdigkeit. Die scheinen ihn immer dann zu befallen, wenn die Umstände ihn überfordern – was oft der Fall ist. Das gesamte Umfeld Nikolajs scheint dem Wahn verfallen, und als Nikolaj in einer der letzten Szenen in der Irrenanstalt landet, lässt sich kein wesentlicher Unterschied zwischen den Insassen und den Menschen draußen registrieren.

Dass auch die Kunst nicht in der Lage ist, die Menschheit zum Besseren zu erziehen, lässt uns Muratowa gleich mehrfach wissen. Über der Kinoleinwand am Beginn des zweiten Teils hängt ein Spruchband mit dem legendären Lenin-Zitat „Von allen Kunstformen ist das Kino für uns die wichtigste“. In krassem Kontrast zu dem Stellenwert, den der Film für die Bolschewiki hatte, beschweren sich die ins Foyer strömenden Zuschauer über das anstrengende Kunstkino: „Amüsieren will ich mich”, sagt ein dicker Mann zu seiner verträumt blickenden Ehefrau.

Muratowa war die bedeutendste weibliche Regisseurin der Sowjetunion. Nach Abschluss der Moskauer Filmhochschule WGIK realisiert die 1934 in Bessarabien geborene Muratowa ihre Filme fast ausnahmslos am Odessaer Filmstudio in der Ukraine. Ihr Werk nimmt seinen Anfang in den 1960er Jahren, als das liberale Tauwetter gerade zu Ende geht. Fortwährende Probleme mit der Zensur, sowie mehrere Arbeitsverbote prägen Muratowas Werdegang in der Sowjetunion. Mit dem Asthenischen Syndrom findet Muratowa zu der spektakelhaften Filmsprache, mit der sie heute in Verbindung gebracht wird. Eine aufreizende Farbgestaltung, eine Vorliebe für ausgedehnte Collagen-Sequenzen und aus der Narration herausgelöste Präsentationen der Figuren kennzeichnen seither ihre Filme. Ausgedehnte Collagen-Sequenzen und aus der Narration herausgelöste Präsentationen der Figuren kennzeichnen Muratowas Filme

Absage an das menschliche Subjekt

Das asthenische Syndrom durchzieht ein tief greifendes Misstrauen gegenüber der Idee eines rationalen menschlichen Subjekts, dem sich selbst gewissen Ich-Bewusstsein. Während des Schulunterrichts kommt es zu Handgreiflichkeiten zwischen Nikolaj und seinem Schüler Iwnikow. In der Szene darauf quälen zwei junge Frauen auf der Straße einen geistig Behinderten, Iwnikow eilt dem behinderten Mann zur Hilfe, doch kurz darauf jagt und schlägt er die Frauen brutal. Die nächste Szene zeigt einen Vater und seine jugendliche Tochter, die sich nach anfänglich liebevollem Umgang auf einmal einen heftigen körperlichen Kampf liefern. Die Brutalität geht, ähnlich wie im Falle Iwnikows, der dem behinderten Mischa helfen wollte, von einem Menschen aus, der gerade noch Gutes tat. Diese Figuren zeigen uns auf, wie unberechenbar, wie instabil menschliche Identität ist.

Subjektkritischer Blick auf den Menschen, seine Masken und RollenMuratowa reiht sich mit diesem subjektkritischen Blick auf den Menschen, seine Masken und Rollen ein in die postmodern geprägte russische Kunst der 1990er Jahre, oder besser: nimmt sie vorweg. Mit der Entstehung der Sowjetgesellschaft wurde das autonome bürgerliche Subjekt der Aufklärung ausgelöscht. Doch das neue sowjetische Subjekt, der sozialistische „Neue Mensch” blieb ein ideologisches Dogma, eine Fiktion, über die man am Küchentisch lachte. Denn die Realität in der Sowjetunion war davon bestimmt, dass Staatsideologie und Alltagserfahrung weit auseinander klafften und das Leben von Absurditäten und Sinnlosigkeiten durchsetzt war. Die Menschen in der Sowjetunion waren also noch lange vor der Postmoderne in der postmodernen Haltung geübt. Sie nannten das Stjob, eine Verhöhnung jeglichen Glaubens.

Man war sich bewusst, dass man in einer Konstruktion lebte, und somit befand man sich schon im Herzen der Postmoderne. Die Epoche der Postmoderne wurde im post-sowjetischen Raum also wie eine gute alte Bekannte begrüßt und in künstlerische Strategien integriert.

„In meiner Kindheit, in meiner frühen Jugend dachte ich, dass wenn alle Menschen Lew Nikolajewitsch Tolstoi lesen, dann werden ausnahmslos alle alles, alles verstehen und gute, kluge Menschen werden.”5 Mit diesem Satz wenden sich am Anfang des Asthenischen Syndroms drei alte Frauen direkt an die Zuschauer. Die drei halten sich wie kleine Mädchen bei den Händen, eine hat ein dickes Tolstoi-Buch im Arm. Die Zuschauer ahnen, dass es sich bei dem dissonanten Chor der Alten um Verhöhnung, um Stjob handeln muss. Denn wer alles über die brutale Wirklichkeit versteht, fällt in den albtraumhaften Schlaf des Asthenischen Syndroms.

Text: Isa Willinger
Veröffentlicht am 29.11.2017


https://www.youtube.com/watch?v=CZYJW2q2KAI
https://www.youtube.com/watch?v=ZoOjiYdNc88


1.Im Original: „Хуй тебе в жопу, я ему говорю, а он мне говорит, хуй тебе, а я ему отвечаю, что, ёб твою мать, я ебала твою маму, твоего папу, твоего бабушку, твоего дедушку … проститутка, сволочь, гадина, там еще как-то, а я ему говорю, а он мне говорит, сама сволочь… я ебал твою бабушку, я ебал твою дедушку […] .” Im Deutschen etwa: „Fick dich in den Arsch, sag ich zu ihm und er sagt zu mir fick dich und ich zu ihm … ich hab deine Mutter gevögelt, deinen Vater, deine Oma, deinen Opa, … und er sagt zu mir, selber Mistvieh, ich hab deine Oma gevögelt, deinen Opa […] .“ 
2.Taubman, Jane (2005): The Filmmakers’ Companion: Kira Muratova, New York, S. 45
3.Vasil’evna, Inna (2004): Novejšaja istorija otečestvennogo kino. 1986—2000. Kino i kontekst, Sankt Peterburg.
4.Willinger, Isa (2013): Kira Muratova. Kino und Subversion, Konstanz
5.Im Original: „В детстве, в ранней юности я думала, что если всем людям прочесть Льва Николаевича Толстого, и все-все всё-всё поймут и станут добрыми и умными.”

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