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Helden eines „heiligen Kampfes“?

Die Verflechtungen zwischen der orthodoxen Kirche und der russischen Politik sind über die letzten Jahre kontinuierlich enger geworden. Woher stammt die kriegerische Rhetorik im Diskurs der Kirche? Wieso hat sie gerade derzeit eine solche Konjunktur? Gibt es auch abweichende, weniger „imperiale“ Strömungen im orthodoxen Glauben? Sind von ihnen gar Anstöße zu sozialen oder politischen Veränderungen zu erwarten?

Nachdem letzten Monat ein Artikel auf dekoder den Wandel von der Volks- zur Staatskirche beleuchtete, hier nun ein Interview zu den Fragen der politischen Orthodoxie mit dem russischen Religionswissenschaftler Boris Knorre, Dozent an der Higher School of Economics in Moskau.

In Russland gibt es inzwischen viele Menschen, die sich bei ihren politischen Parolen auf die Orthodoxie berufen. Wie ist es dazu gekommen?

Die gesamten 90er Jahre hindurch gab es an der kirchlich-monarchistischen Basis politisierte Gruppen, die sich der Kirche angeschlossen hatten. Damals stellten sich die Bischöfe einer Politisierung entgegen. Die entscheidende Veränderung erfolgte 2004, als der heutige Patriarch Kirill, damals Metropolit, beim Weltkonzil des Russischen Volkes die sogenannte Doktrin der orthodoxen Zivilisation vorstellte. Faktisch berief er sich auf Gedanken aus Samuel Huntingtons Kampf der Kulturen und erklärte, Russland müsse eine dieser Kulturen sein. Die orthodoxe Zivilisation beschrieb er als spezielles geopolitisches Gebilde, bestehend aus jenen Ländern, „deren Kulturen“, hier zitiere ich, „entscheidend von der Orthodoxie beeinflusst worden sind – Bulgarien, Weißrussland, Griechenland, Zypern, Mazedonien, Russland, Rumänien, Serbien, Montenegro, Ukraine.“ Auch die Diaspora auf der ganzen Welt zählte Kirill zur orthodoxen Zivilisation.

Der künftige Patriarch beschränkte sich damals auf Deklarationen und äußerte sich bald darauf kritisch über die politische Orthodoxie als solche. Praktisch gleichzeitig begann aber Wsewolod Tschaplin, konkrete, sehr radikale Prinzipien zu verbreiten, auf denen eine orthodoxe Zivilisation seiner Meinung nach gründen sollte. Im gleichen Jahr erklärte Tschaplin in einem Gespräch auf Echo Moskwy, das Christentum hätte in Europa nur dann eine Zukunft, wenn es die Leute wieder lehren würde zu sterben und zu töten. Zwei Jahre später veröffentlichte er in der Zeitschrift Polititscheski klass den Artikel Die fünf Postulate der orthodoxen Zivilisation. Zu diesen gehörten die Ablehnung der Marktwirtschaft und die Einheit von Kirche, Volk und Staat, da deren Trennung eine Sünde sei.

Erzpriester Tschaplin erklärte, das Christentum hätte in Europa nur dann eine Zukunft, wenn es die Leute wieder lehren würde zu sterben und zu töten.

2006 erschienen Artikel von Jegor Cholmogorow. Seine Worte über die „atomare Orthodoxie“ wurden mit der Zeit auch von Tschaplin und Ochlobystin verbreitet. 2011 stellte Ochlobystin in seiner Rede Doktrina 77 Überlegungen über die Russen an, die für den Krieg geschaffen seien und sich nur in zwei Fällen organisieren dürften – als Kirchengemeinde zum Gebet und auf dem Schlachtfeld für den Kampf gegen den Feind. Die Rhetorik des „heiligen Kriegs“, des säubernden Kampfes gegen die nichtorthodoxe, sündige Welt wurde zu einem der Hauptpostulate der politischen Orthodoxie.

Was bedeutet eigentlich der Begriff politische Orthodoxie?

Der Philosoph Eric Voegelin verwendete den Terminus „politische Religion“ in den 1930er Jahren im Zusammenhang mit totalitären Staatsideologien: Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus. Heute unterscheidet sich der Begriff „politische Religion“ aber grundsätzlich vom damaligen Voegelins. Es handelt sich um eine religionsinterne Strömung, die eine homogene, nach religiösen Prinzipien aufgebaute Gesellschaft zum Ziel hat. Die politische Orthodoxie fordert eine Verstaatlichung der Religion, den Export der entsprechenden religiös-moralischen Normen über die Grenzen der Kirche hinaus, sie will in alle Gesellschaftsbereiche vordringen und die Lebensregeln nicht nur der religiösen, sondern auch der nichtreligiösen Menschen bestimmen. Und das setzt Lobbyarbeit für entsprechende Gesetze voraus, einen totalen Umbau der Staatsverfassung. Von den politischen Religionen hat diesbezüglich der Islam die größten Fortschritte gemacht. Es gibt aber auch einen politischen Hinduismus, ebenso können der Protestantismus und der Katholizismus politisch sein.

Sind politische Orthodoxe im Grunde genommen Fundamentalisten?

Zum Teil ja, aber es gibt Unterschiede. Die Wissenschaftlerin Anastasia Mitrofanowa, die sich mit Politisierungsprozessen von Religionen befasst, weist darauf hin, dass Fundamentalisten ihren sozialen Raum einkapseln wollen, dass sie im Rahmen eines nationalen Projekts zu den Ursprüngen zurückkehren wollen, während sich die politische Orthodoxie sehr viel globalere Aufgaben vornimmt.

Benutzt die russische Regierung derzeit die Orthodoxie für ihre Interessen oder kämpfen die Orthodoxen um Macht?

Beides. Und jeder Schritt des einen Akteurs – der Regierung beziehungsweise der Kirche – verstärkt die Gegenreaktion des anderen. Als die Religion in den 1990er Jahren gerade erst zugelassen worden war, beklagten sich die Orthodoxen im Zuge der demokratischen Umwälzungen, die Veränderungen würden ohne Berücksichtigung der kulturellen und nationalen Rolle der Orthodoxie erfolgen. Die Kirchenführung und politisch aktive orthodoxe Gruppen an der Basis trachteten schon damals danach, die Elite zu beeinflussen. Besonders hervor tat sich dabei die Organisation Verband orthodoxer Bürger. Sie sagten: Es geht uns nicht um die Macht, wir wollen eine Art moralische Qualitätssicherung, wir wollen Politiker und Mächtige mit orthodoxer Weltanschauung unterstützen.

Die Rhetorik des „heiligen Kriegs“ gegen die nichtorthodoxe, sündige Welt wurde zu einem der Hauptpostulate der politischen Orthodoxie.

Diese Gruppe hatte schon immer imperiale Ambitionen, noch bevor diese populär wurden. Ich habe selber gesehen, dass viele Geistliche die Zerstörung der Sowjetunion als Tragödie erlebten. In einer Kirchengemeinde, die ich im Winter 1991/92 besuchte, der Elias-Kirche in Ilinskoje, waren zornige Schmähungen an Jelzins Adresse und Klagen über das Ende der Sowjetunion Hauptthema der Predigt am Schluss fast jedes Gottesdiensts. Anscheinend hat sich die sowjetische Vergangenheit im Bewusstsein vieler Gläubiger so stark eingeprägt, dass diese mit ihrem Verschwinden zunehmend sakralisiert wurde.

Haben diese Ideen gerade jetzt Hochkonjunktur, während der Ukraine-Krise?

Ich würde sagen, ja. In Kirchenkreisen sind die imperialen Ideen der politischen Orthodoxie ziemlich populär. Die Gläubigen erlebten die Zerstörung der Sowjetunion als Tragödie, das Gebiet der Sowjetunion entsprach in ihrem Bewusstsein der heiligen russischen Erde. Die geopolitischen Ideen zeichneten sich also schon beim Zerfall der Sowjetunion ab, und 2014 bot sich die Gelegenheit, davon etwas umzusetzen. Aber wenn es der Regierung nicht dienlich gewesen wäre, hätte man die Ideologen des Russischen Frühlings nicht in die Staatssender und die wichtigsten Medien eingeladen.

Der Staat verabschiedet Gesetze wie das zum Schutz der Gefühle von Gläubigen, um sich dadurch eine Truppe aufzubauen und sie im Bedarfsfall auf jemanden loszulassen?

Nein, einen solche Absicht würde ich hinter diesem Gesetz nicht vermuten. Der Staat kommt der Kirche einfach entgegen, aber viel weniger, als die politischen Orthodoxen es möchten. Sie wünschen sich beispielsweise mehr Radikalität von Seiten des Präsidenten, was die Abschottung des Landes vom Westen betrifft.

Im November, noch bevor er seines Amtes im Patriarchat enthoben wurde, verkündete Wsewolod Tschaplin: „Seit der Kubakrise befindet Russland sich auf dem Rückzug, wir fürchteten damals eine militärische Kollision. Dabei hätte wir auf unserem Standpunkt beharren sollen und können … Entweder wir gehen unter, oder wir leben – aber nicht nach den Regeln, die uns irgend jemand von Außen aufdrängen will.“

Schon 2007 hat Tschaplin gesagt, es sei für gläubige Orthodoxe viel schlimmer, die Seele wegen einer Invasion von Atheisten und Andersgläubigen in unser Land zu verlieren, als in einer weltweiten Nuklearkatastrophe umzukommen. Und der Geistliche Ioann Ochlobystin verkündete 2011: „Wir werden dann keinen anderen Ausweg mehr haben, als die ganze übrige Welt, die wegen der Sünden und der Gleichgültigkeit komplett durchgefault ist, zu vernichten und unserem Leben ein Ende zu setzen, in der Hoffnung, dass aus wundersamerweise überlebenden menschlichen Wesen schließlich eine neue, bessere Menschheit entstehen wird.“ Aber das Problem sind nicht diese Äußerungen, sondern das Ausbleiben der erwarteten christlichen Reaktion von Seiten des Klerus. Erst im vergangenen Dezember wurde Tschaplin vom Patriarchen entlassen, obwohl er seine irren Ideen, die das Opfern fremder Leben zum Schutz des Glaubens rechtfertigen, schon seit über einem Jahrzehnt öffentlich verkündet. Wo waren die Stimmen der Priester, abgesehen von Kurajew und wenigen anderen?

Aber es gibt dort auch vernünftige Leute, oder?

Auf jeden Fall. Ich glaube, sie bilden sogar die Mehrheit. Aber erstens sind sie im Gegensatz zu den Möchtegern-Politikern und Fundamentalisten gewöhnlich passiv, zweitens nicht besonders interessant für die Medien und drittens wollen sie solchen offensichtlichen Absurditäten keine Beachtung schenken. Bis 2014 konnte man tatsächlich viele der Statements als Provokationen abtun. Aber seit der Donbass-Tragödie geht das nicht mehr. Ich möchte aber wiederholen, dass es in der Kirche viele Geistliche gibt, die nichts von Politik wissen wollen, die keine größenwahnsinnigen Ideen verfolgen, sondern lieber ganz banal Gutes tun.

Gibt es in der Kirche aktuell Leute mit liberalen Positionen?

Früher konnte man die kirchenreformatorischen Ideen des Geistlichen Alexander Borissow als liberal bezeichnen, aber er hat schon lange keine mehr vorgebracht. Meiner Meinung nach lässt sich der Begriff „liberal“ heute inhaltlich gar nicht mehr festmachen, da ihn viele als Etikett für „alles Üble“ benutzen, wenn sie einen Gegner angreifen. Man braucht nur einmal einen eigenen Standpunkt erkennen zu lassen, mit irgend einer Initiative zu kommen, und schon ist man „liberal“. Auch die Ideen von Gemeinschaft, von christlicher Solidarität im Gemeinwesen, für die sich beispielsweise Georgi Kotschetkows Bruderschaft der Verklärung einsetzt, werden von manchen als liberal bezeichnet, obwohl es in Wirklichkeit um den Versuch einer Organisation des Gemeinwesens geht, um das Bestreben, sich mit den kirchlichen Traditionen und evangelischen Normen, vor allem derjenigen der Buße, auseinanderzusetzen. Im vergangenen Jahr organisierten sie Ende Oktober eine Bußewoche zum Gedenken an die Opfer politischer Verfolgungen: Eine Woche lang entzündeten sie Kerzen im Gedenken an die Verfolgten.

Im ersten Jahrzehnt der postsowjetischen Regeneration ästhetisierte man in der Kirche gern die Schwäche

Nach den heutigen Kriterien des Liberalismus ist übrigens Wsewolod Tschaplin der „Liberalste“ von allen. Seit seinem Rücktritt schlägt er Kirchenreformen vor, die Bestimmung von kirchlichen Würdenträgern und Bischöfen durch Wahlen, er fordert transparente Kirchenfinanzen und wirft der Führung den übertriebenen Luxus ihrer Residenzen vor. Aber das alles erst seit seiner Entlassung …

Und was ist mit Kurajew?

Das Phänomen Kurajew ist natürlich beispiellos. Da schafft es einer – trotz einer Atmosphäre des Verschweigens und der gleichgeschalteten Meinungen – zu sagen, dass da etwas faul ist im Staate Dänemark. Dabei schließt sich Kurajew keiner ideologischen Partei an, weder der „Kriegspartei“ noch den Staatspatrioten noch den bedingten Liberalen.

Hat sich die Russisch-Orthodoxe Kirche mit dem Patriarchen Kirill verändert?

Kirill unterstützte, was sich in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre herauszubilden begann. Im ersten Jahrzehnt der postsowjetischen Regeneration ästhetisierte man in der Kirche gern die Schwäche: Im Geist des Gottesnarrentums unterstrich man den Wert der Verlorenheit, badete in einer Ästhetik der Selbsterniedrigung. Angesichts der Abwendung von sowjetischen Stereotypen und des Widerstands gegen die neue Erfolgskultur betonten die Orthodoxen, man müsse der Jagd nach irdischem Heil entsagen, wolle man das Heil Gottes erlangen. Dieses Paradigma begann man in der Mitte der 2000er Jahre zu kritisieren: Da sich das Land  allmählich von den Knien erhebe, müssten sich auch die Orthodoxen von den Knien erheben. Kirill hat dazu beigetragen, dies systematisch umzusetzen. Doch damit trat das andere Extrem ein – Triumphalismus, Orientierung am Protokoll, Rechenschaftspflicht, das Bestreben, die Kirche einem präzisen Verwaltungsmechanismus unterzuordnen. In den 90er Jahren war jede beliebige Unzulänglichkeit zulässig, bloß nach Erfolg streben durfte man nicht. Im Jahr 2011 klang das schon ganz anders.

Im November bin ich im Gebiet Swerdlowsk zu Rentnern in ein Dorf gefahren, denen eine orthodoxe Wohltätigkeitsorganisation beim Kauf von Brennholz für den Winter unter die Arme griff. Dort habe ich mich lange mit dem Dorfpriester unterhalten. Es war wie in den 90ern, alle klagten: Alles sei schlecht, keiner komme in die Kirche, es gebe kein Geld und die Kirche könne nur behelfsmäßig renoviert werden.

Viele Kirchgemeinden sind äußerst arm, und die Leute spüren das Missverhältnis. Die frühere Stigmatisierung der Kirche ist in der Psychologie vieler Geistlicher erhalten geblieben, sie verbindet sich auf hässliche Weise mit der von oben aufgezwungenen Psychologie des Triumphalismus. Die Idee der Erhabenheit soll die Entbehrungen rechtfertigen. Statt nach einem Weg für die Lösung der Probleme zu suchen, sieht man die Idee der Erhabenheit als Kompensation an, als Rechtfertigung der Probleme. Das ist ein Spiegel unserer Regierung – die Kirche befindet sich ja nicht in einem Vakuum –, aber das Modell ist in der Kirche noch stärker ausgeprägt als in der Gesellschaft.

Dieser Priester sagte auch, dass das soziale Engagement für die Kirche keineswegs das Wichtigste sei: Sie brächten den alten Frauen Holz, aber diese kämen trotzdem nicht in die Kirche. Doch solange man die Seelen nicht rette, die Leute also nicht zur Kirche fänden, könne ihnen nichts helfen.

Genau, so geht es häufig, aber viele Geistliche sind nicht bereit, das einzugestehen. Die Erklärungen des Vorstehers einer Kirchgemeinde können sehr verschleiert sein: Natürlich müsse man unbedingt helfen, das sei die Bestimmung der Kirche … Doch das Leid, das die Leute treffe, bringe sie Gott näher. In der Gemeinde eines solchen Geistlichen gibt es durchaus Bedürftige, die Hilfe bräuchten, aber keine bekommen. Darin zeigen sich auch paternalistische Vorbilder: Wenn Gott einen Menschen nicht wie ein Vater straft, hat er ihn verlassen.

Ist es möglich, dass in unserer Kirche eine neue Strömung entsteht und dass die Russisch-Orthodoxe Kirche zu einem Motor für soziale Veränderungen wird?

Wenn sich das politische System ändert oder die Gesellschaft des künstlichen Triumphalismus überdrüssig wird, kann auch bei Klerikern und Laien das Pendel in die andere Richtung ausschlagen, so dass sie auf Veränderungen in der Kirche drängen. Vielleicht wird es eine Aufteilung geben, in Anhänger des Autoritarismus und Anhänger des Gemeinde-Modells und der Selbstorganisation. Doch die Versuchung, durch die Kriegsbrille auf die Welt zu blicken, sich als Held eines „heiligen Kampfes“ zu fühlen, ist einfach zu groß.

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