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Russland auf der Flucht vor sich selbst

Das neu von Russland zur Schau getragene Selbstbewusstsein, meint der Philosoph Alexander Rubzow, ist im Inneren teuer erkauft: Bildung, Wissenschaft, Kultur, Gesundheitswesen geraten dramatisch ins Hintertreffen. Die Menschen werden in einen radikalen Geisteswandel hineingezwungen, der ihnen selbst kaum zu Bewusstsein kommt. Anstelle wirklicher nationaler Stärke entdeckt der Autor eher Anzeichen von kollektiver Neurose und Gedächtnisverlust. Einen gangbaren Weg in die Zukunft kann er im derzeitigen Aufbruch ins Außen nicht entdecken.

Rubzow ist Leiter des Zentrums zur Erforschung ideologischer Prozesse am Institut für Philosphie der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Zu Beginn der 90er Jahre, man mag zu diesem Zeitabschnitt stehen wie man will, begann das bis dahin politisch extrovertierte Russland sich seinen eigenen Problemen zuzuwenden. Dies geschah nicht ohne Zutun der Krise, aber es tat dem Land gut und wurde als etwas lang Erwartetes aufgefasst. Die sowjetischen Menschen waren es längst leid, den sozialistischen Block durchzufüttern, dazu fremde Befreiungsbewegungen und eine Weltrevolution, die selbst im nahezu leblosen Zustand enorme Mittel verschlang. Diese Haltung wurde damals auch gegenüber den sowjetischen Bruderrepubliken eingenommen, in denen eine ideenlose Bevölkerung eher eine Last als eine Bereicherung sah. Dazu, dass die Masse den Zerfall der UdSSR als „Katastrophe des Jahrhunderts“ sah, kam es denn auch nicht sofort, sondern erst nach einer entsprechenden propagandistischen Anheizphase.

Bis vor kurzer Zeit erhielt die Ideologie, die der Macht das programmatische Material liefert, ihre vorrangige Orientierung auf die innenpolitischen Probleme aufrecht. Die beiden Schlüsselbegriffe Stabilität und Modernisierung hatten vor allem mit „uns selbst“ zu tun, mit dem, was bereits getan war, und dem, was angeblich gerade getan wurde. Internationales Ansehen war für die Selbstwahrnehmung von Führern, Eliten und Massen zwar alles andere als unwichtig, es stützte sich jedoch vor allem auf die eigenen Erfolge – egal, in wie weit sie real waren oder von der Propaganda aufgebauscht.

So sah es auch im Hinblick auf die Zukunft aus: Russland war durchaus um seinen Platz in der neuen Welt besorgt, doch mit Blick auf internationales Standing und Prestige diskutierte man in erster Linie, was sich im Innern verändern und wohin sich das Land entwickeln sollte. Entsprechend suchte man den Grund für die Probleme, welche die Entwicklung hemmten, vor allem im Inneren und konkret in den Unzulänglichkeiten des Staates, der „Machtvertikale“ und der Nomenklatura. Zwar distanzierte sich die politische Führung ebenso kühn wie elegant von den angeprangerten Verfehlungen, als hätte sie nichts zu tun mit der sozialen Spaltung, der Korruption, mit dem Druck auf die Wirtschaft und dem Ersticken von Innovationen, doch niemand versuchte die Sache so darzustellen, als hätten wir es hier nicht in erster Linie mit unseren eigenen Problemen und Aufgaben zu tun. Im Gegenteil, in den Reden über die neue Ausrichtung und das „Aufräumen“ in der sogenannten Machtvertikale wurde immer der Anschein von Ehrlichkeit, politischem Willen, Zuversicht und Entschlossenheit gewahrt – das schon seit Jelzins Zeiten bei unseren Redenschreibern so beliebte Spiel mit dem starken Mann und den starken Worten.

Um den radikalen Geistesumschwung vollständig zu erfassen, braucht man eigentlich nur zwei, drei Jahre zurückzuschauen. Aber stattdessen leiden wir an einer Art kollektiven Gedächtnisverlustes! Die Menschen erinnern sich nicht, wie anders früher alles war, wie anders sie selbst waren in ihren Vorstellungen und Werten. Solche erdrutschartigen Verschiebungen in den Einstellungen und dem Weltgefühl sind eigentlich nicht normal, man kann sie kaum anders denn als pathologische Störung einordnen. Ein ideenmäßiger Schwenk um 180 Grad, der den Menschen nicht zu Bewusstsein kommt. Sie vergessen nicht einfach nur ihre gestrige Weltsicht, sondern verlieren auch im ganz direkten Sinne die „Erinnerung an sich selbst“ – daran, wer sie waren, was ihnen wichtig war, was sie wollten. In dieser akuten Form ist das, so muss man leider sagen, bereits die aus der Alzheimer-Erkrankung resultierende Demenz (vom lateinischen dementia – Wahnsinn): „eine erworbene Hirnschwäche mit dauerhafter Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten und dem mehr oder weniger schweren Verlust früher erworbener Kenntnisse und praktischer Fähigkeiten“. Das Problem ist nicht nur, dass die Leute durchdrehen, sondern das beängstigende Tempo, in dem sie das tun.

Die Menschen richten nicht einfach so ihre Aufmerksamkeit aufs Außen – man lässt ihnen überhaupt gar keine andere Möglichkeit. Früher gab es selbst im russischen Fernsehen unterschiedliche Themen und Inhalte, die es einem erlaubten, gelegentlich die Blickrichtung zu ändern. Jetzt kehrt sich der Nachrichtenhorizont nach außen, wird dabei aber immer enger, das Bild wird extrem vereinfacht, und sein Umriss gleicht immer mehr dem einer Schießscharte. Die Fähigkeit selbst, den Blick auf etwas Anderes zu richten, wird unterdrückt, damit er ja nicht auf verbotenes Terrain wandern kann. Das sind keine Scheuklappen mehr, das ist eine Operation, nach der der Patient nicht einmal mehr in der Lage ist, den Kopf zu drehen. Dazu kommt die Neueinstellung der Sehschärfe, und zwar so, dass man in der Ferne alles sieht, aber vor der eigenen Nase nichts. Sogar die Zerrspiegel werden bereits aus dem Königreich hinausgeschafft, sie werden nicht mehr gebraucht – übrig bleiben Periskope und Zielmonitore.

Schlimmer noch, auch die Wertsachen werden aus dem Haus getragen: die Bildung, die Wissenschaft, die Kultur, das Gesundheitswesen. Der Haushalt für das nächste Jahr zementiert unseren Rückstand in praktisch allem, was zum Zivilleben gehört – und zum Leben überhaupt. Russland „erhebt sich von den Knien“ und steht nackt da, doch für das letzte Geld rasselt es mit dem Säbel, um die Scham angesichts der Gegenwart und die Angst vor der Zukunft zu übertönen. Wieder einmal lebt das Land, scheint es, nicht um des Lebens willen, sondern um einem kranken Ehrgefühl Genüge zu tun und dabei aller Welt Angst und Schrecken einzujagen.

Ein russischer Imperator, den man den Friedensstifter nannte, sagte: „Russland hat nur zwei Verbündete: seine Armee und seine Flotte“. Unsere Generation geht noch weiter: Nicht mehr lange, und in Russland gibt es überhaupt nichts anderes mehr als die Armee und die Flotte, wobei nicht einmal die gut versorgt sind, weder mit Geld noch mit Wissenschaft und Technik. Diejenigen, die nach dem Motto leben „Was braucht der Starke den Verstand“ vergessen, dass heutzutage sogar nackte Gewalt Köpfchen erfordert.

All das ist eine Sackgasse, wenngleich eine kurze. Die Zeit der großen Mobilmachungen, als man von den Menschen noch verlangen konnte, Lebensqualität für Machtgewinn und Expansion zu opfern, ist vorbei. Ein Land, das der Welt nichts vorzuweisen hat als die Waffe im Anschlag, beeindruckt lediglich diejenigen mit schwachen Nerven, und auch die nicht für lange. Wer sich verloren hat in seinem Leben und von innen heraus zerfällt, verliert seine Kraft auch nach außen hin (von Achtung und Würde ganz zu schweigen).

Der Selbstwertkrise versucht man mit der Vergangenheit beizukommen: mit mystischen Werte-Banden und Gerassel mit der großen russischen Kultur, von der Klassik bis zur Avantgarde, wie bei den Zeremonien der Olympiade. Doch auch hier verliert das Land sich selbst, wenn es keine andere Kulturschicht mehr übrig lässt, als eine in hoher Auflage verbreitete Geistlosigkeit und die archäologischen Ablagerungen der Gehwegplatten. Wir sind dabei, genau das zu werden, was die russische Kultur immer gehasst und verachtet hat, wogegen sie, oft opfervoll, gekämpft hat.

Es ist anzunehmen, dass dies alles nicht aus Versehen oder mit böser Absicht geschieht, sondern aus purer Ausweglosigkeit. Hinter der phänomenalen Unterstützung der Macht und der Einschüchterung der Opposition verbirgt sich eine akute Neurose, ausgelöst durch den drohenden Totaleinbruch in lebenswichtigen Bereichen. Da oben kennt man den Preis für die Liebe des Volkes (und man kennt den Preis, den man für das professionelle Aufrühren dieser Leidenschaft gezahlt hat). Während der außenpolitische Wille Triumphe feiert und das dazugehörige Gejubel erklingt, werden insgeheim die katastrophalsten Szenarien entworfen, und zwar auch für die Staatsmacht selbst – das Regime und sein Personal. Wenigstens etwas hätte man aus der Geschichte lernen sollen, immerhin geht es ja um die eigene Haut. Bisher zeichnet sich allerdings eher die Impulsivstrategie ab, das Ende mit allen Mitteln hinauszuschieben, selbst wenn man die Lage dadurch lediglich verschärft und ganz und gar aussichtslos macht.

Die Situation ist in vieler Hinsicht einzigartig und ein fertiger Ausweg nach dem Beispiel eines analogen Falls nicht in Sicht. Politische Wetterhähne zeichnen bereits das Bild von einem neuen liberalen Trend und der Aussöhnung mit der Welt, und dieses Mal soll alles ganz richtig und auf unsere eigene Art gemacht werden, denn jetzt handeln wir nicht mehr auf Weisung, sondern aus freiem Willen und aus einer Position der Stärke heraus.

Falls doch irgendetwas imstande sein sollte, unser Land auf dem Weg in die Katastrophe zu stoppen, brauchte man sich mit derartigem Unsinn gar nicht erst zu befassen.

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