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FAQ #5: Welche Rolle spielt eigentlich Belarus im Ukraine-Krieg?
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Belarus spielt im Krieg gegen die Ukraine eine zentrale Rolle: Für Russland war es möglich, von dort aus am 24. Februar 2022 direkt die ukrainische Hauptstadt Kiew anzugreifen. Doch insgesamt wirft das Verhalten von Machthaber Alexander Lukaschenko viele Fragen auf: Warum hilft er dem russischen Präsidenten Wladimir Putin? Wie fest steht er an dessen Seite? Hat er eigene Interessen, und wenn ja, welche? Und wie stehen die Belarussinnen und Belarussen zum Krieg?
In unserem FAQ, das Stück für Stück weiter wachsen wird, sammeln wir zentrale Fragen zum Krieg und lassen sie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beantworten: FAQ #5: Welche Rolle spielt eigentlich Belarus im Krieg gegen die Ukraine?
FAQ #1: Putins Angriffskrieg auf die Ukraine
FAQ #2: Wie kann man diesen Krieg beenden?
FAQ #3: Neutrale Ukraine – ein Ausweg aus dem Krieg?
FAQ #4: Kriegsverlauf in der Ukraine: Was wir wissen – und was nicht
1. Inwiefern ist Belarus am Krieg gegen die Ukraine beteiligt?
2. Kann Belarus aus diesem Krieg irgendwelche Vorteile für sich ziehen?
4. Was denken die Belarussen? Gibt es keine Proteste gegen den Krieg?
5. Was erfährt man in Belarus überhaupt vom Krieg?
6. War Lukaschenko nicht eh schon immer Russlands Marionette?
1. Inwiefern ist Belarus am Krieg gegen die Ukraine beteiligt?
Nach allem, was bekannt ist, steht fest: Belarussische Truppen oder Sicherheitskräfte waren und sind bisher nicht am Krieg in der Ukraine beteiligt. Belarus unterstützt Moskau aber bei der Invasion, allen voran mit seinem Territorium, das zum Durchgangshof der russischen Armee geworden ist. Dafür waren russische Truppen vor dem Krieg unter dem Vorwand gemeinsamer Militärmanöver von Russland nach Belarus verlegt worden und sind von dort aus auf Kiew vorgedrungen. Zudem deuten zahlreiche Hinweise darauf hin, dass ukrainisches Staatsgebiet von belarussischem Territorium aus beschossen wird1.
Im Laufe der ersten Kriegsmonate haben sich die russisch-militärischen Aktivitäten, die mit dem belarussischen Staatsgebiet verbunden sind, verringert, ebenso die Zahl russischer Truppen in Belarus – die weiter präsent sind. Das hing sicherlich mit dem russischen Rückzug aus dem Raum Kiew ab Ende März zusammen.
Zum Teil könnte auch weitere belarussische Infrastruktur im Krieg genutzt worden sein, zum Beispiel für die Versorgung mit Treibstoff2. Über die militärische Zusammenarbeit haben Putin und Lukaschenko bei einem Treffen außerdem erst Ende Juni erneut verhandelt.Doch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) schätzte die Lage im April so ein, dass Belarus – auch wenn russische Truppen von dort aus agier(t)en – keine Kriegspartei sei. An den Ausgangsbedingungen zu dieser Analyse hat sich im Wesentlichen nichts geändert.
Zugleich gibt es zivile Belarussinnen und Belarussen, die sich der ukrainischen Seite angeschlossen haben. So haben sich manche Aktivisten der belarussischen Opposition bereits seit 2014 als Freiwillige bei den ukrainischen Streitkräften gemeldet3. Ihre Zahl wuchs nach Beginn der großflächigen Invasion der Ukraine weiter an. Sie durften auch eigene Einheiten in der ukrainischen Armee bilden, allerdings bleiben Truppenstärke sowie ihre genaue Funktion bislang unklar. Außerdem gab es Sabotageakte an den Eisenbahnlinien von Belarus nach Russland, mit dem proklamierten Ziel, den Transport von militärischem Gerät zu unterbinden.
Siarhei Bohdan
Politischer Analyst am Ostrogorski Centre Minsk/London2. Kann Belarus aus diesem Krieg irgendwelche Vorteile für sich ziehen?
Nein, Belarus hat mit diesem Krieg nichts zu gewinnen, sondern kann sogar alles verlieren. Dafür sprechen gleich mehrere Punkte:
Die Menschen: Ein Gemetzel mit den Ukrainern, die in Belarus als Brudervolk wahrgenommen werden, ist für sich genommen, eine Tragödie – was unter Belarussinnen und Belarussen auch vielfach so gesehen wird.
Die Wirtschaft: Der Krieg bedeutet den De-facto-Verlust der Ukraine als bedeutendem Handelspartner, mit dem zuletzt auch ein stets steigendes Handelsvolumen verbunden war.
Das Verhältnis zur EU: Der Krieg verschärft für das belarussische Regime die Konfrontation mit der EU und den NATO-Mitgliedstaaten. Das Verhältnis ist seit dem Protestjahr 2020 ohnehin massiv belastet, Belarus isoliert und mit Sanktionen belegt.
Das Regime: Lukaschenko könnte sich auch in seinem Machterhalt bedroht sehen. Umfragen zufolge lehnt ein immerhin deutlich wahrnehmbarer Teil der Bevölkerung ↓ den Krieg ab, darunter auch Anhänger des Lukaschenko-Lagers. Damit wäre zumindest offen, ob ein Kriegseintritt nicht auch – trotz der harten Repressionen – neue Proteststimmung im Land befördert.
Entsprechend ließ die belarussische Führung die Nutzung des eigenen Territoriums durch Moskau für den Vorstoß auf Kiew regelrecht über sich ergehen. Experten gehen davon aus, dass Alexander Lukaschenko in die Angriffspläne nicht eingeweiht gewesen ist – auch wenn er zuvor verbal in Richtung Westen ausgeteilt hat. Soweit bekannt, hat Minsk bei den russischen Kriegsvorbereitungen selbst keinen aktiven Beitrag geleistet. Lukaschenko hat Anfang Mai zudem – für belarussische Verhältnisse auffallend – kritische Töne am Vorgehen des Kreml geäußert.
Siarhei Bohdan
Politischer Analyst am Ostrogorski Centre Minsk/London3. Belarus ist also Aufmarschgebiet für russische Truppen – wie konnte es dazu kommen? Und wieso dann nicht schon früher?
Das hat mit drei Faktoren zu tun, die sich gegenseitig bedingen: mit der politischen Isolierung von Minsk seit dem Protestjahr 2020, der entsprechend gewachsenen belarussischen Abhängigkeit von Moskau und den damit eröffneten Möglichkeiten für den Kreml, mehr russisches Militär nach Belarus verlegen zu können.
Um das genauer zu verstehen, ist es wichtig, sich die gesamte Entwicklung der Jahre seit Annexion der Krim vor Augen zu führen: Minsk hat seit 2014 die zweigleisige Strategie ↓ verfolgt, einerseits Verbündeter an der Seite Russlands zu sein, sich andererseits aber kritisch von der Ukraine-Politik des Kreml zu distanzieren. Damit hatte Kiew, allen Spekulationen zum Trotz, aus nördlicher Richtung kaum etwas zu befürchten. Für die Kiewer Führung war das entscheidend, weil die ukrainische Hauptstadt unweit der belarussischen Grenze liegt, das Land also von dieser Flanke sehr verletzlich ist. Sprich: Ohne diesen belarussischen Balkon war es dem Kreml bis vor kurzem nicht möglich, einen Großangriff zu wagen.
Tatsächlich war der Zugang für die russische Armee zum belarussischen Territorium bis zum Jahr 2020 sehr begrenzt. So hatte Minsk stets dafür gesorgt, gemeinsame Übungen fern der ukrainischen Grenze abzuhalten. Auch wurde die belarussische Armee wenig auf ein mögliches Zusammenwirken mit russischen Streitkräften vorbereitet: Zum Beispiel nahmen an den Manövern oft dieselben Einheiten aus Belarus teil, die überdies nur einen geringen Teil der gesamten belarussischen Armee ausmachten. Selbst die Ausrüstung der Streitkräfte beider Länder unterschied sich zunehmend voneinander.
Schon im Herbst 2020 beeilte sich der Kreml, gemeinsame Manöver zu starten – mit bis dahin beispiellosen Truppenverschiebungen an die belarussisch-ukrainische Grenze.
Nach der brutalen Unterdrückung der Proteste durch das belarussische Regime im Jahr 2020 änderte sich diese Ausgangslage komplett. Das erweist sich rückblickend als Schlüsselmoment für eine geopolitische Umwälzung in der Region: Wegen der 2021 verhängten massiven westlichen Sanktionen gegen Belarus hielt sich Machthaber Alexander Lukaschenko fortan noch stärker an den Kreml. Schon zuvor war er in hohem Maße von russischen Krediten und Subventionen abhängig. Das verstärkte sich nun, so dass sein politisches Überleben mehr denn je die Rückendeckung aus Moskau braucht, während er nach innen mit immer schärferen Repressionen herrscht.
Die regelmäßige direkte Anwesenheit russischen Militärs dehnte sich in der Folge für weitere hunderte Kilometer westwärts aus. Denn schon im Herbst 2020 beeilte sich der Kreml, gemeinsame Manöver zu starten – mit bis dahin beispiellosen Truppenverschiebungen an die belarussisch-ukrainische Grenze, Luftlandeoperationen und einem in seinem Umfang ebenfalls bis dahin nicht dagewesenen Einsatz der strategischen Luftwaffe. Seither stieg die Zahl der gemeinsamen Manöver drastisch an. Damit war die Bedrohung der Ukraine entlang der belarussisch-ukrainischen Grenze seit dem Jahr 2020 kontinuierlich gewachsen. Auch eine ständige Präsenz russischer Truppen besteht inzwischen in Belarus. Im Jahr 2021 konnte Moskau zum ersten Mal den Aufbau eines russischen Militärstützpunktes durchsetzen: In der Region Grodno soll ein gemeinsames militärisches Ausbildungszentrum für Luftwaffe und -abwehr entstehen4. Zudem wurde begonnen, russische Kampfflieger auf belarussische Luftstützpunkte zu verlegen5. Ähnliche Vorstöße der russischen Seite waren zuvor jahrelang ergebnislos verlaufen.
Siarhei Bohdan
Politischer Analyst am Ostrogorski Centre Minsk/London4. Was denken die Belarussen? Gibt es keine Proteste gegen den Krieg?
Еs ist schwer zu sagen, was die Belarussinnen und Belarussen über den Krieg denken. Das Land wird repressiv regiert, unabhängige Umfrage-Institute existieren, wenn überhaupt, dann nur im Exil. So gibt es nur wenige aktuelle Zahlen, die zumindest Anhaltspunkte liefern können, darunter von der Belarussischen Analysewerkstatt, die jüngsten aber vom Soziologen Ryhor Astapenia bei Chatham House. Dort gaben 40 Prozent der Befragten bei einer Online-Umfrage von Mitte April 2022 an, gegen den Krieg zu sein. 32 Prozent befürworteten den Krieg. Die Zahlen zeigen auch, dass es insgesamt eine verbreitete Angst gibt, in den Krieg mit eigenen Truppen hineingezogen zu werden.
Allerdings sind hierbei mindestens zwei Dinge zu beachten: Einerseits könnte die Zahl der Befürworter höher sein, weil die Befragungen nur online erfolgten, nicht wie sonst häufig bei solchen Erhebungen auch per Telefon. Damit zusammenhängende Verzerrungen können nicht ganz korrigiert werden. Zweitens könnte genauso die Zahl der Kriegsgegnerinnen in Wirklichkeit höher sein, sich in den Zahlen aber womöglich nicht ausdrücken: Dadurch, dass Belarus die russische Attacke mit der Überlassung des eigenen Territoriums unterstützt, könnten sich manche dazu gedrängt gefühlt haben, befürwortend zu antworten, obwohl sie eigentlich dagegen sind – aus Angst vor persönlichen Konsequenzen.
Unabhängig davon, wie belastbar diese Zahlen sind, sprechen die Handlungen einiger Belarussinnen und Belarussen für sich: Zum Kriegsausbruch gab es kleinere protestartige Menschenversammlungen6, vor der ukrainischen Botschaft in Minsk wurden Blumen abgelegt (oft gelb und blau eingewickelt). Die gelb-blaue Farbsymbolik der ukrainischen Flagge spiegelt sich auch in verwendeten Haarschleifen und Schals. Das ist in einem Land, das so autoritär regiert wird wie Belarus, schon durchaus bemerkenswert, weil die Menschen für diesen offen gezeigten Protest harte Strafen in Kauf nehmen. Auch kommt es zu Sabotageakten an den Eisenbahnlinien, die als Zeichen des Protestes gewertet werden können.
Jan Matti Dollbaum
Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen5. Was erfährt man in Belarus überhaupt vom Krieg?
In Belarus ist es noch möglich, Informationen zum Krieg zu erhalten, weil es im Exil unabhängige belarussische Online-Medien gibt, die darüber berichten. Das muss man mit einer Einschränkung sagen: Ihre Webseiten sind in Belarus so gut wie alle gesperrt, so dass die Leute dafür VPN-Zugänge benötigen. Was hilft, ist, dass die Inhalte auch über Plattformen wie Telegram, Youtube und Facebook verbreitet werden. Die Exil-Medien sind entstanden, nachdem die Mehrheit der unabhängigen belarussischen Journalistinnen und Journalisten nach dem Protestjahr 2020 und den darauf folgenden harten Repressionen das Land verlassen haben. Nur im Ausland ist es noch möglich, regierungskritisch sowie zu heiklen sozialen und politischen Themen zu berichten. Dazu gehört auch der russische Überfall auf die Ukraine.
Was außerdem – im Unterschied zu Russland – in Belarus noch zugänglich ist: Ukrainische Nachrichtenseiten im Internet, die über den Krieg berichten.
Bleibt also die Frage, ob die Informationen, die es gibt, Menschen in Belarus auch tatsächlich erreichen. In einer aktuellen Umfrage der Belarussischen Analysewerkstatt des Soziologen Andrej Wardomazki gaben 63 Prozent der Befragten an, sich vor allem über Telegram-Kanäle oder Youtube zu informieren. Auf beiden Plattformen dominieren unabhängige belarussische Exil-Medien als Informationsquellen, die damit eine starke Bedeutung haben.
55 Prozent der Befragten erhalten ihre Informationen vorwiegend aus dem belarussischen oder russischen Staatsfernsehen7. Blickt man auf frühere Befunde, relativieren sich diese Zahlen ein wenig, weil es nur rund 16,3 Prozent der Befragten sind, die dem belarussischen Staatsfernsehen überhaupt Vertrauen entgegenbringen8. Selbes gilt für das russische Staatsfernsehen, das für eine Mehrheit im Land noch vor fünf Jahren als vertrauenswürdige Quelle galt, sogar viel eher als das eigene Staatsfernsehen. Wie man sieht, hat sich das geändert.Dazu muss man wissen, dass das belarussische Staatsfernsehen die Narrative des russischen Staatsfernsehens eins zu eins kopiert: Dass es in diesem Krieg darum gehe, angebliche Nazis in der Ukraine zu bekämpfen, mit Minsk an der Seite Moskaus gegen die gesamte Welt. Diese staatliche Propaganda mag also dieselbe wie in Russland sein, doch sie trifft auf eine vollkommen andere Gesellschaft. Nämlich eine, die sich viel stärker von seiner politischen Elite abgekapselt hat als die russische. Wenn wir also über belarussische Staatspropaganda sprechen, sollte man ihre Wirkung nicht überbewerten, weil sie weit weniger bei den Menschen verfängt.
Auch wenn Machthaber Alexander Lukaschenko oft laut und markig gegen den Westen, Polen oder Litauen poltert, so ist es in diesem Zusammenhang interessant zu sehen, dass die Botschaften, die er verbreitet, trotzdem sehr viel friedvoller sind als das, was das eigene Staatsfernsehen sendet. Lukaschenko will permanent vermitteln, dass Belarus an diesem Krieg in keiner Weise beteiligt sei und versucht, den Umstand für sich zu nutzen, dass die belarussische Armee selbst nicht an der Seite Moskaus steht. Damit dürfte er sich erhoffen, bei der westlichen Staatenwelt an den Sanktionen gegen sein Land zu rütteln – bislang jedoch ohne Erfolg ↓.
Die unabhängigen belarussischen Medien nennen den Krieg dagegen einen Krieg und berichten darüber so, wie es in allen anderen Ländern mit freien Medien auch der Fall ist.
Aliaksandr Papko
Politikwissenschaftler am Think Tank EAST-Zentrum und Fernsehjournalist in Warschau6. War Lukaschenko nicht eh schon immer Russlands Marionette?
Jein. Die Russland-Politik von Machthaber Alexander Lukaschenko war stets vor allem eins: eigennützig. Daher lässt er sich nicht einfach als Marionette des russischen Präsidenten Wladimir Putin bezeichnen. Eher als Junior-Verbündeter, der sich oft loyal und ergeben zeigt, aber eigene Ziele hat. Deshalb verfolgte er lange eine Schaukelpolitik zwischen der Europäischen Union und Russland, hat dafür jedoch seit dem vergangenen Jahr den Spielraum verloren.
Schauen wir uns die Entwicklung seit Lukaschenkos Machtantritt 1994 genauer an: Ohne russische Subventionen wäre der Erfolg seines Herrschaftsmodells nicht denkbar. Mit Boris Jelzin als russischem Präsidenten hatte es Lukaschenko allerdings noch leicht, weil dieser dafür kaum Gegenleistungen erwartete. Zugleich unterstützte Lukaschenko mit seiner antiwestlichen Rhetorik die Position des Kreml während des Kosovo-Kriegs9 und in Bezug auf die Nato-Osterweiterung10.
Unter Wladimir Putin begann der Kreml allerdings, die Subventionen für Belarus erstmals mit der Erwartung zu verknüpfen, dass das Land auf einzelne nationale Hoheitsrechte verzichtet. Der noch zu Jelzins Zeiten unterzeichnete „Vertrag über die Bildung eines Unionsstaates“ zwischen Belarus und Russland entwickelte sich damit von einem Lippenbekenntnis zu einem Forderungskatalog. Lukaschenko widersetzte sich jedoch und sicherte sich die weiteren russischen Subventionen, indem er einen außenpolitischen Kurswechsel Richtung Westen androhte. Gleichzeitig gelang es ihm, substanzielle Demokratisierungsforderungen der EU und der USA – mit dem Verweis auf die Gefahr einer russischen Intervention – abzuwehren11.
Im Westen wurde diese Schaukelpolitik sehr wohl wahr-, jedoch auch in Kauf genommen. Aus westlicher Sicht zählte in erster Linie, dass Lukaschenko weder nach dem Georgienkrieg 2008 noch im Fall der Ukraine 2014 offiziell die Position des Kreml unterstützte. Damit empfahl er sich für eine Vermittlerrolle in den Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine. Das führte im Jahr 2016 sogar zur Aufhebung aller Sanktionen, die der Westen nach der Präsidentschaftswahl vom Dezember 2010 gegen Belarus verhängt hatte.
Die Massenproteste nach der Präsidentschaftswahl im August 2020 veränderten die politische Konstellation für Lukaschenko jedoch grundlegend: Erstmals verdankt er sein politisches Überleben allein Putin, zudem erkennt der Westen ihn seitdem nicht länger als Präsidenten an. Über Asylsuchende an der Grenze zwischen Belarus und Polen versuchte Lukaschenko Ende 2021 vergeblich gegenüber der Europäischen Union neue Verhandlungen zu erzwingen. Gleichzeitig bot sich Lukaschenko dem Kreml wieder als antiwestlicher Vorposten an, um dessen weitergehende Forderungen zur Bildung des Unionsstaates klein zu halten. Lukaschenkos neue Abhängigkeit zeigte sich insbesondere im massiven Ausbau der russischen Militärpräsenz in Belarus ↑.
So bietet der Krieg für Lukaschenko dieses Mal – im Unterschied zu 2014 – keine Möglichkeit, sich als Vermittler zu profilieren. Stattdessen wird er vom Westen und der Ukraine als Handlanger des Kreml wahrgenommen.Astrid Sahm
Politikwissenschaftlerin an der Stiftung Wissenschaft und Politik
Russland führt Krieg gegen die Ukraine. dekoder stellt die wichtigsten Fragen und Antworten zusammen. Gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern geht es in diesem FAQ darum, fakten- und wissenschaftsbasiert zu erklären und einzuordnen, was man zu Putins Angriffskrieg auf die Ukraine wissen muss.
Stellen Sie uns gern auch Ihre Fragen – per Email unter dekoder-lab@dekoder.org. Wir werden versuchen, mit Expertinnen und Experten aus europäischen Universitäten Antworten darauf zu finden.
Diese Reihe entsteht in Kooperation mit dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin und wird von der Alfred-Toepfer-Stiftung F.V.S. unterstützt.
Veröffentlicht am 05. Juli 2022
1. Die Monitoring-Gruppe „Belaruski Hajun“ um den Aktivisten Anton Motolka trägt regelmäßig Hinweise zu russischem Raketenbeschuss von Belarus aus zusammen, ebenso zu russischen Truppenbewegungen auf dem Staatsgebiet von Belarus. Den Recherchen nach könnten es bisher mindestens 630 Raketenabschüsse gewesen sein. vgl. Berichterstattung der unabhängigen Online-Zeitung Nasha Niva З Беларусі па Украіне была запушчаная як мінімум 631 ракета und die Veröffentlichungen (engl.) der Gruppe auf Youtube: 631 missiles in 70 days: Timeline of the entire bombing of Ukraine from the territory of Belarus. Machthaber Alexander Lukaschenko gestand Abschüsse durch russisches Militär in den ersten Kriegswochen selbst ein, spielte die Größenordnung in seinen Verlautbarungen aber herunter, vgl. Belta: Ėto byl vynuždennyj šag. Lukašenko o zapuske raket s territorii Belarusi po pozicijam v Ukraine. Ende Juni meldeten ukrainische Behörden Einschläge von Belarus aus, vgl. zdf.de: Kiew: Moskau will Belarus in Krieg verwickeln
Von solchen Angriffen soll er selbst nur aus den Medien erfahren und von Moskau darüber nicht informiert sein, vgl. sn-plus.de: Valerij Karbalevič: Plochoj znak ↑2. Der Militärexperte Jegor Lebedok sagte in einem Interview mit Mediazona, er glaubt nicht daran, dass der Treibstoff „aus dem russischen Hinterland“ herangebracht werde. Möglich wäre, dass russische Truppen ans Pipeline-Netz angeschlossen seien oder dass sie Benzin von der Raffinerie in Mozyr erhielten. vgl. mediazona.by: «Točno možno skazatʹ, čto ėto ne konec. V ljubom rasklade, kto by ni pobedil». Egor Lebedok otvečaet na voprosy pro vojnu, kotoruju prognoziroval v intervʹju «Mediazone» ↑
3. vgl. Deutsche Welle: Freiwillige aus Belarus kämpfen auf ukrainischer Seite ↑
4.vgl. Učebnyj centr ili aviabaza: v čem sutʹ voennogo sotrudničestva RB i RF? ↑
5. vgl. lenta.ru: V Belorussiju pribyli rossijskie aviatory dlja ochrany Sojuznogo gosudarstva ↑
6. Größere Protestzüge waren am 27. und 28. Februar 2022 in Minsk, aber auch in zahlreichen anderen Städten des Landes auf den Straßen. Nach Medienberichten gab es dabei mehr als 1100 Festnahmen. vgl. zerkalo.io: Kak belorusy protestujut protiv vojny i kak ich za ėto presledujut Čitatʹ polnostʹju ↑
7. Gefragt wurde in der Wardomazki-Umfrage nach den wichtigsten Informationsquellen (nicht nach den einzigen). Auch zwei Jahre zuvor zeigte sich, dass das Staatsfernsehen an Bedeutung verliert. Einer Erhebung des Zentrums für Osteuropa und internationale Studien (ZOiS) vom Dezember 2020 zufolge war für nur rund 10 Prozent der Menschen das Staatsfernsehen die erste Informationsquelle, für noch weniger das staatlich kontrollierte Radio oder staatsnahe Blätter. Social Media, unabhängige Online-Medien und Messenger wurden dagegen von rund 70 Prozent der Befragten als wichtigste Informationsquelle angegeben. vgl. ZoiS Report 03/2021: Belarus at a crossroads: attitudes on social and political change, S. 10 ↑
8. Das haben Erhebungen im Jahr 2021 von Chatham House erbracht, vgl. Chatham House: Belarusians‘ views on the political crisis. Results of a public opinion poll conducted between 14 and 20 January 2021, S. 24. ↑
9. Durch Russlands Veto-Recht bei den Vereinten Nationen bleibt dem Kosovo die Mitgliedschaft dort bis heute verwehrt. Präsident Wladimir Putin zog den Kosovo in der Vergangenheit immer wieder heran, etwa um sein Vorgehen im Donbass und auf der Krim zu rechtfertigen, vgl. zum Beispiel Video #8: Putin: Kosovo als Präzedenz für Krim und Katalonien? ↑
10. Nach Aufnahme der Slowakei in die Nato im März 2004 stellte es der belarussische Präsident bei einer Rede Mitte April gegen das Nato-Bündnis so dar, als würden westliche Militärs belarussisches und russisches Staatsgebiet umzingeln und antasten: „Unser Territorium ist völlig von technisch-intelligenten Mitteln ‚durchschossen‘. (…) Und nicht nur unser Territorium, sondern auch das russische bis hin zum Kreml ist damit ‘durchschossen’. Wann gab es das schon mal?“, vgl. president.gov.by: Послание Президента Беларуси Александра Лукашенко Парламенту ↑
11. Insbesondere nach dem Krieg in Georgien vom August 2008 verschärfte sich der Ton zwischen Russland und Belarus. vgl. DGAP Standpunkt (09/2010): Die Ökonomisierung russischer Außenpolitik ↑
Weitere Themen
FAQ #1: Putins Angriffskrieg auf die Ukraine
FAQ #2: Wie kann man diesen Krieg beenden?
FAQ #3: Neutrale Ukraine – ein Ausweg aus dem Krieg?
FAQ #4: Kriegsverlauf in der Ukraine
„Der Westen sollte alles vergessen, was er bisher über die Ukraine wusste“
„Diese Regime werden alle untergehen”
Noworossija – historische Region und politische Kampfvokabel
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Dissens und Macht
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FAQ #4: Kriegsverlauf in der Ukraine
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Russland führt seit fast drei Monaten Krieg im Nachbarland. Der russische Angriffskrieg konzentriert sich dabei mittlerweile vornehmlich im Südosten des Landes: Kämpfe um Großstädte wie Charkiw, Cherson, Kramatorsk und Mariupol halten an. Doch wie sind die Angriffe bisher verlaufen? Wie konnte der Vormarsch auf Kiew verhindert werden? Warum hat Russland Anfang April die Strategie geändert? Wie groß ist die Gefahr eines Nuklearschlags – auch angesichts von Waffenlieferungen? Und: Was können wir eigentlich im Moment über die Kämpfe wissen, über die unterschiedlichen kursierenden Opferzahlen oder über die genauen Geländegewinne der russischen Armee?
In unserem FAQ, das Stück für Stück weiter wachsen wird, sammeln wir zentrale Fragen zum Krieg und lassen sie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beantworten: FAQ#4: Kriegsverlauf in der Ukraine: Was wir wissen – und was nicht
FAQ #1: Putins Angriffskrieg auf die Ukraine
FAQ #2: Wie kann man diesen Krieg beenden?
FAQ #3: Neutrale Ukraine – ein Ausweg aus dem Krieg?KRIEG EINER ATOMMACHT: Kräfteverteilung und (nukleare) Gefahren
2. Welche Waffen gehen an die Ukraine – und warum?
4. Ist die Gefahr eines Atomkriegs real?
KRIEGSVERLAUF I: Strategien, Ressourcen, Szenarien
5. Wie war die Kriegsstrategie der russischen Armee in der ersten Phase des Krieges?
6. Wie hat Russland den Frontverlauf Anfang April geändert – und warum?
7. Wenn Russland den Osten einnehmen sollte: Ist der Krieg dann zuende?
8. Welche Rolle spielen russische Wehrpflichtige in diesem Krieg?
KRIEGSVERLAUF II: Ukrainische Erfolge, russische Verluste
9. Wie geht die ukrainische Armee vor, um gegen die russische Invasion Widerstand zu leisten?
10. Wie kommt es, dass bereits so viele hochrangige russische Generäle gefallen sind?
KRIEGSVERBRECHEN: Zivile Opfer und die Gerichte
11. Was lässt sich bisher zu (zivilen) Opferzahlen sagen?
12. Wie können die begangenen Kriegsverbrechen untersucht und völkerrechtlich geahndet werden?
KRIEG EINER ATOMMACHT: Kräfteverteilung und (nukleare) Gefahren
1. Russland ist eine Atommacht mit einer schlagkräftigen Armee. Hat die Ukraine auf Dauer überhaupt eine Chance?
Die Ukraine hat eine Chance in diesem Krieg, sofern der Westen weiter Waffen liefert. Andernfalls kommt es zu einer russischen Übermacht. Blickt man auf den Beginn des Krieges, so hat die numerische Anzahl der Kräfte am 24. Februar 2022 – gemessen an Truppen und Soldaten auf beiden Seiten – allerdings noch wenig ausgesagt. Sprich: Zahlenmäßig gab es von Beginn an eine russische Überlegenheit, aber sie war letztlich nicht so groß, wie es ursprünglich erschien.
Dazu drei konkrete Punkte:
Erstens: Die Ukraine hat seit Kriegsbeginn mobil gemacht und Reservisten einberufen. Russland dagegen konnte dies nicht tun, da sich das Land der offiziellen Lesart nach nicht im Krieg befindet, sondern eine „militärische Spezialoperation“ führt. Alles andere käme der russischen Gesellschaft gegenüber einem Eingeständnis gleich und würde die eigene Propaganda torpedieren.
Zweitens: Auf der russischen Seite wurden in den ersten Tagen und Wochen viele Fehler gemacht, die den Ukrainern mehr Zeit verschafft haben. So konnten sie noch Waffen an die Truppen ausgeben, die erst kurz vor Kriegsbeginn an die Ukraine geliefert worden waren. Außerdem gelang es dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky, einen kontinuierlichen Nachschub an Lenk- und vor allem Panzerabwehrwaffen aus dem Ausland aufzustellen.
Auf der russischen Seite wurden in den ersten Tagen und Wochen viele Fehler gemacht, die den Ukrainern mehr Zeit verschafft haben
Drittens: Die russische Führung plante einen „Blitzkrieg“. Daher ließ sie beim Einmarsch lediglich einen Teil der ukrainischen Flugabwehrsysteme zerstören, hatte also keine Lufthoheit und hat sie bis heute nicht. Trotzdem schickte der russische Präsident Wladimir Putin sofort Bodentruppen ins Land. Damit setzte er die eigenen Leute bei den Kampfhandlungen, die nun viel länger dauern als geplant, den Angriffen der Ukrainer aus der Luft aus.
Als die Offensive schon zu Beginn ins Stocken kam, war auch Nachschub mit Treibstoff und Munition schlecht organisiert.Diese Kriegszielplanung erklärt sich aus völliger Unkenntnis der ukrainischen Gesellschaft: Auf der russischen Seite gab und gibt es mehrere irrige Annahmen. Russland ist zum Beispiel ganz offensichtlich davon ausgegangen, dass die ukrainischen Soldaten für Präsident Wolodymyr Selensky nicht sterben wollen, sondern putschen oder überlaufen würden. Denn Selensky hatte vor dem Krieg sehr schlechte Zustimmungswerte1. Doch das geschah nicht, schon gar nicht nach acht Jahren Donbass-Krieg mit Russland als beteiligter Konfliktpartei.
Die eigentliche Chance für die Ukraine besteht darin, die Kosten für die russische Seite in die Höhe zu schrauben und die Geländegewinne so zu begrenzen, dass es Moskau als bessere Option erscheint, aufzugeben und zu Verhandlungen überzugehen als den Krieg fortzusetzen. Das wäre am Ende dieses Krieges eine realistische Option. Aber da sind wir noch nicht.
Gustav Gressel
European Council on Foreign Relations’2. Welche Waffen gehen an die Ukraine – und warum?
Die Ukraine kann kaum noch selbst Waffen herstellen, auch keine Munition. Das kann nur durch Lieferungen aus dem Ausland kompensiert werden. Zwar hat die Ukraine früher viele Waffensysteme selbst produziert, doch all diese Hersteller sind durch die russische Luftwaffe zerstört worden.
Unterstützt wird die Ukraine, indem etwa Panzerabwehrlenkwaffen, Kurzstrecken-Panzerabwehrwaffen (zum Beispiel Panzerfäuste) und Fliegerabwehrsysteme mittlerer Reichweite, wie BUK und S-300, geliefert werden. Außerdem Munition, Schutzausrüstung und Feuerwaffen.Bisher wird in der Politik, wenn es um Waffenlieferungen geht, sehr kurzfristig agiert. Häufig wird das geliefert, was gerade gebraucht wird, mit Fokus auf Waffen sowjetischer Bauart und was an Lagerbeständen in Europa dazu verfügbar ist. Dazu gehört der Kampfpanzer T-72. Der Grund: Diese Waffensysteme sind den ukrainischen Streitkräften vertraut, sodass sie sofort eingesetzt werden können. Beim T-72 hat außerdem Polen zum Beispiel die Möglichkeit, Ersatzteile herzustellen.
Die Vorräte so ziemlich aller Waffensysteme sowjetischer Bauart sind in Europa begrenzt und gehen zur Neige
Darüber hinaus sind die Vorräte so ziemlich aller Waffensysteme sowjetischer Bauart in Europa begrenzt und gehen zur Neige. Sie wurden früher nur wenig gekauft, und es gibt keine Produktionsstätten dafür. Das betrifft zum Beispiel das Flug-Raketenabwehrsystem S-300. Und das sind gerade die Systeme, mit denen auch die russischen Marschflugkörper und Bomber im ukrainischen Luftraum abgeschossen werden können.
Diese Knappheit können auf Dauer nur westliche Waffensysteme kompensieren. Diese in die Ukraine einzuführen, ist jedoch ein sehr komplexer Vorgang. Es kann Monate dauern, bis die Truppen geschult sind, um diese Systeme bedienen zu können. Das hat damit zu tun, dass sich westliche Systeme von den Systemen sowjetischer Bauart grundlegend unterscheiden. Sie sind anders programmiert und sprechen elektronisch andere Sprachen. Das wäre so, als hätte man Microsoft, Apple oder Linux vor sich. Sprich: Bis die Ukraine neu gelieferte Waffensysteme, die nicht sowjetischer Bauart sind, verwenden kann, vergehen vielleicht drei Monate. In diesem Kontext sind auch die Erwägungen der Bundesregierung zu sehen, ukrainische Soldaten in Deutschland an solchen Systemen auszubilden2.
Gustav Gressel
European Council on Foreign Relations’3. Bedeutet die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine völkerrechtlich gesehen einen Kriegseintritt?
Nein, völkerrechtlich führen Waffenlieferungen grundsätzlich nicht dazu, dass die Bundesrepublik Kriegspartei wird3. Die Russische Föderation dürfte Deutschland deswegen nicht rechtmäßig angreifen – das wäre völkerrechtswidrig.
Der Grund: Waffenlieferungen wie auch die Ausbildung ukrainischer Streitkräfte – zum Beispiel an Bundeswehr-Standorten in Deutschland – stellen lediglich eine Unterstützung der Ukraine im Rahmen ihrer individuellen Selbstverteidigung gegen die Russische Föderation dar. Rechtlich betrachtet handelt es sich dabei um das bloße Zur-Verfügung-Stellen von Waffen (und die Einweisung an diesen), ohne dass dabei konkrete Instruktionen für einen spezifischen Angriff gegeben werden. Damit ist dieser Eingriff noch zu niedrigschwellig, um eine ausreichende Einflussnahme auf das Kampfgeschehen und damit einen Kriegsbeitritt darzustellen. Im Gegensatz dazu könnte man überlegen, ob das Weiterleiten konkreter Positionsangaben – zum Beispiel von Generälen, die anschließend angegriffen werden – diese Schwelle überschreitet und damit einen Eingriff in den Krieg als Konfliktpartei darstellt. Denn da ist der Grad der Einflussnahme deutlich höher. Im Ergebnis muss jede solcher Unterstützungshandlungen als Einzelfall abgewogen werden.
Sobald deutsche Soldatinnen und Soldaten in der Ukraine mitkämpfen, würde dies rechtlich betrachtet einen Kriegsbeitritt Deutschlands darstellen.
Allerdings kann sich Putin so oder so durch solche Schritte provoziert „fühlen“. Mit anderen Worten: Ob Putin sein Handeln davon abhängig macht, ist keine völkerrechtliche, sondern eine politisch-strategische Frage, auf die wir de facto nur begrenzt Einfluss haben. Denn er stützt sich nicht auf das Völkerrecht, wie seine Invasion ins Nachbarland von Beginn an demonstriert.
Anne Dienelt
Institut für Internationale Angelegenheiten, Universität Hamburg4. Ist die Gefahr eines Atomkriegs real?
Grundsätzlich besteht in einem Krieg mit Beteiligung von Atommächten eine latente Gefahr, dass Nuklearwaffen auch eingesetzt werden können. Doch selbst wenn man denjenigen argumentativ folgen würde, die Wladimir Putin als „durchgeknallt“ bezeichnen: Dass Russland die USA mit strategischen Kernwaffen angreifen wird, um in der Ukraine zu siegen, dürfte unwahrscheinlich sein. Diese Angst vor einem Atomkrieg treibt seit Wochen die halbe Welt um. Jedoch galt die Erhöhung der Alarmstufe, die Putin in den ersten Kriegswochen befahl, offenkundig „lediglich“ den strategischen Angriffskräften.
Das bedeutet: Die erhöhte Alarmstufe soll für eine größere Aufmerksamkeit sorgen. Putin ist noch nicht zu einer Strategie des sogenannten nuclear brinkmanship übergegangen, wenngleich die ausgelöste Alarmstufe ein subtiler Schritt in diese Richtung war. Zumal der Einsatz von taktischen Kernwaffen keinen Sinn in einem Land macht, in dem in großer Zahl eigene Truppen stehen.
Die Staaten des Westens könnten bereits jetzt durch Putin als Kriegspartei gewertet werden – auch wenn es völkerrechtlich keine Grundlage dafür gibt
Für John Erath, Senior Policy Director des Center for Arms Control and Non-Proliferation in Washington, ist klar, dass Putin weiß, dass „die Antwort für alle katastrophal wäre“. Sprich: Solange er, Putin, sich bewusst sei, dass ein Einsatz von Atomwaffen seinerseits auch einen für ihn vernichtenden Atomschlag beinhaltet, ist davon auszugehen, dass es sich um nukleare Erpressung handelt.
Diskutiert wird immer wieder, inwiefern die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine als Auslöser für einen Atomkrieg gelten könnte. Tatsächlich ist es so, dass die Staaten des Westens bereits jetzt durch Putin als Kriegspartei gewertet werden könnten – auch wenn es völkerrechtlich keine Grundlage dafür gibt.
Aktuell muss man davon ausgehen, dass das russische Militär ein westliches Eingreifen in der Ukraine (und sei es nur zum Zweck der Herstellung einer stabilen Friedenszone in der Westukraine) eher fürchtet, weil die russische Führung kaum Optionen hat, in einer Weise zu eskalieren, die russischen Zwecken dienen könnte.Prof. Dr. Joachim Krause
Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK)
KRIEGSVERLAUF I: Strategien, Ressourcen, Szenarien
5. Wie war die Kriegsstrategie der russischen Armee in der ersten Phase des Krieges?
Putins ursprünglicher Plan beruhte auf einer „Blitzkrieg“-Strategie: Der großflächige Angriff am 24. Februar 2022 erfolgte um 5 Uhr morgens, also zu einer Zeit, als die geringste Aufmerksamkeit bestand. In weniger als einer Stunde startete die russische Armee mehrere Luftangriffe auf Ziele in der gesamten Ukraine und Truppen drangen gleichzeitig über vier Achsen ins Land ein.
Der Widerstand der ukrainischen Streitkräfte verhinderte einen Sturm auf den Regierungssitz in Kiew – der offensichtlich das erste militärstrategische Ziel war.Der Widerstand der ukrainischen Streitkräfte verhinderte einen Sturm auf den Regierungssitz in Kiew – offensichtlich das erste militärstrategische Ziel
Dabei zeichnete sich bereits früh ab, dass die russischen Kräfte, die in die Ukraine vordrangen, gar nicht ausreichen würden, um das Land zu besetzen. In der Folge rückten sie nur langsam vor. Angriffe der ukrainischen Armee und eigene militärstrategische Fehler der russischen Armeeführung brachten erhebliche Verluste. Teilweise hatten die Truppen auch Kontakt zu ihren Kommandostellen verloren.
Das Vorgehen gegen Städte und Großstädte wurde während dieser ersten Kriegsphase mit jeder Woche brutaler, mit Angriffen, bei denen wahllos in Wohnviertel und gezielt auf Krankenhäuser und Geburtskliniken geschossen wurde. Städte wurden eingekesselt und von Wasser-, Strom- und Lebensmittelversorgung abgeschnitten. Wenn es überhaupt Einigungen auf Fluchtkorridore gibt, haben diese oft keinen Bestand, etwa weil fliehende Zivilisten mit ihren Autos dort doch beschossen werden. Hinzu kommt ein Vorgehen der russischen Armee, das bereits aus früheren Kriegen in Syrien und Tschetschenien bekannt ist: Sobald es gelingt, Frauen, Kinder und ältere Menschen über einen solchen Korridor rauszubringen, beginnt danach erst recht die Bombardierung der Stadt durch russische Artillerie.
Prof. Dr. Joachim Krause
Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK)6. Wie hat Russland den Frontverlauf Anfang April geändert – und warum?
Der Vormarsch auf die Hauptstadt Kiew und der Versuch, Präsident Selensky gewaltsam zu stürzen – ein zentrales Ziel der ersten Kriegsphase – wurde abgebrochen, weil das offensichtlich gescheitert war. Die russische Führung begann daher, die Truppen aus diesem Gebiet ab- und im Südosten der Ukraine zusammenzuziehen. Bis Mitte April zeigte sich die strategische Änderung auf dem Schlachtfeld deutlich. Seither gibt es nicht mehr vier, sondern zwei zentrale Fronten.
Erstens: die Donbass-Front, wo die russische Armee versucht, das gesamte Gebiet unter ihre Kontrolle zu bringen.
Zweitens: die Krim-Front im Süden, den Russland ebenfalls einzunehmen beabsichtigt.4
Die damit deklarierten Ziele: eine Landverbindung zur Krim zu schaffen und die Ukraine vollends von den Häfen abzuschneiden. Umkämpfte Städte im Süden – Mykolajew, Melitopol, Cherson und Odessa – liegen zudem alle auf dem Weg zum angrenzenden Transnistrien. Damit wächst die Bedrohung für die Republik Moldau.Besonders hart umkämpft von Beginn an: Mariupol, das bereits wochenlang eingekesselt war. Die ukrainische Armee konnte ihre Verteidigungslinie nur fern der Hafenstadt, etwa 120 Kilometer weit weg, halten. Sie hatte nicht genügend Waffen, um für eine Befreiung vorzustoßen. Die humanitäre Situation wurde entsprechend immer kritischer. Der Sprecher des Roten Kreuzes bezeichnete die Lage schon im März als „apokalyptisch“5. Es wird von vielen tausend toten Zivilisten ausgegangen.
Den letzten Verteidigern Mariupols gingen im April zunehmend Munition und Lebensmittel aus: Seit Mitte des Monats hielten sie sich im weitläufigen Gelände des Stahlwerks Asowstal verschanzt, unterschiedlichen Angaben zufolge suchten dort zwischenzeitlich bis zu 2000 Zivilisten Schutz. Anfang Mai begann die russische Armee, das Werk zu stürmen.
Die ukrainische Armee hielt der russischen Belagerung und den ständigen Raketenbeschüssen in Mariupol trotzdem lange stand. Damit waren über Wochen russische Truppen gebunden beziehungsweise abgenutzt worden. Doch in dieser Schlacht ist davon auszugehen, dass die Stadt (vorerst) an Russland fällt.Das, was als russisch besetzt beschrieben wird, [steht] nicht in jedem Fall auch tatsächlich unter russischer Kontrolle. (…) Die meisten Karten überschätzen den Umfang der eingenommenen Gebiete
Allerdings kommt die Offensive der russischen Truppen nicht überall so voran, wie es mitunter scheint. Beispiel Odessa: Die Stadt war zwar Ziel von russischen Angriffen mit Marschflugkörpern, die Treibstofflager, Militäreinrichtungen aber auch Wohnviertel trafen. Doch der Vormarsch stockt. Vor dem Hafen befinden sich im gebührenden Abstand Landungsschiffe der russischen Marine, die einen Angriff starten könnten und weitere Kriegsschiffe, die den Zugang zum Hafen blockieren. Für einen Angriff vom Wasser aus wurde die russische Schwarzmeerflotte allerdings stark geschwächt, weil die ukrainische Armee das Flaggschiff Moskwa versenkte.
Auch ist schwierig, abzusehen, wie groß die eingenommene Landfläche durch die russische Armee genau ist. Ein Mittel zur Darstellung sind Landkarten, die russische Geländegewinne und -verluste, Angriffsrichtungen und auch die Position von Formationen zeigen. Die zahlreichen Karten, die es gibt, stimmen aber nicht immer überein. Das bedeutet, dass das, was als russisch besetzt beschrieben wird, nicht in jedem Fall auch tatsächlich unter russischer Kontrolle steht. Da sich schwere und nicht manövrierfähige russische Kolonnen nur auf den großen Straßen bewegen können, bleiben viele Siedlungen und Gebiete, die sich fernab dieser Hauptstraßen befinden, unberührt und somit nicht besetzt. Die meisten Karten überschätzen daher den Umfang der eingenommenen Gebiete.
Prof. Dr. Joachim Krause
Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK)7. Wenn Russland den Osten einnehmen sollte: Ist der Krieg dann zuende?
Nein, es würde lediglich ein vorübergehendes Ende der Kampfhandlungen bedeuten, nicht aber ein Ende des russischen Angriffs auf die Ukraine. Die Idee, die speziell in der deutschen Öffentlichkeit viel diskutiert wird, man würde die russische Führung damit zufriedenstellen, ihr die Ostukraine zu überlassen, greift zu kurz.
Die Krux: Zum einen würde die Ukraine damit zum Objekt gemacht und über sie bestimmt. Zum anderen würde dies wenig Früchte tragen, da der Konflikt in erster Linie eingefroren, jedoch nicht gelöst wäre. Es würde zu einem Waffenstillstand kommen, jedoch nicht zu einer umfassenden Verhandlungslösung – schon gar nicht mit wirksamen Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Im Gegenteil: Es muss befürchtet werden, dass dies – vor allem solange sich russische Truppen auf ukrainischem Territorium befinden – nur das Vorspiel für einen späteren erneuten Angriffskrieg Russlands wäre. Dieser könnte sich auch gegen weitere Nachbarstaaten richten.
Nimmt Russland den Osten der Ukraine ein, wäre damit ziemlich wahrscheinlich ein Szenario verbunden, bei dem Moskau im Osten der Ukraine weitere Volksrepubliken entstehen lässt
Schauen wir uns das im Detail an: Nimmt Russland den Osten der Ukraine ein, wäre damit ziemlich wahrscheinlich ein Szenario verbunden, bei dem Moskau im Osten der Ukraine weitere sogenannte Volksrepubliken entstehen lässt, ebenso im Süden des Landes – je nachdem, wie viel Territorium Russland unter seine Kontrolle bringen konnte. Diese neu entstandenen Volksrepubliken würden möglicherweise später im Wege von arrangierten „Volksabstimmungen“ annektiert.
Das bisherige militärstrategische Vorgehen Russlands legt nahe, dass ein Waffenstillstand von seiten Moskaus unter zwei Bedingungen wahrscheinlich wäre: Erstens, sobald die russische Führung glaubt, unter den derzeitigen Bedingungen im Osten und Süden der Ukraine genügend Territorium unter seine Kontrolle gebracht zu haben. Zweitens, wenn weitergehende militärische Vorstöße erst einmal aussichtslos erscheinen. Die Frage ist, wann dieser Punkt erreicht ist.
Dieses Volksrepubliken-Szenario würde bedeuten, dass die Ukraine in einer unmöglichen und zerrissenen Situation verbleibt, die das Land auf Dauer zerstört, teilt, territorial verstümmelt, und in seinen Entwicklungsmöglichkeiten stoppt. Und die Gefahr eines erneuten Angriffskrieg bleibt bestehen.
Prof. Dr. Joachim Krause
Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK)8. Welche Rolle spielen russische Wehrpflichtige in diesem Krieg?
Zu Beginn des Krieges behauptete die russische Führung, Wehrpflichtige seien am Krieg nicht beteiligt. Doch es zeigte sich schnell6, dass das nicht stimmt. Genaue Zahlen – auch für den späteren Verlauf der Kriegshandlungen – fehlen dazu.
Doch die Praxis, Wehrpflichtige einzusetzen, ist bereits aus den Tschetschenien-Kriegen sowie dem Russisch-Georgischen Krieg bekannt. Zurückzuführen ist das auf die Struktur der russischen Armee, die sich trotz zahlreicher Reformbemühungen des vergangenen Jahrzehnts im Kern weiter auf zwei Säulen stützt: auf Wehrpflichtige und Reservisten. Sprich: Dort, wo eine konzentrierte Kampfkraft benötigt wird, ist der Einsatz von Wehrpflichtigen über kurz oder lang unabdingbar.Doch der Militärführung fehlt oft der personelle Nachwuchs. Nachweislich dienen derzeit mehrere Maßnahmen dazu, die Personallücken im Feld zu schließen, durch:
a) das Rekrutieren von Ausländern (zum Beispiel zentralasiatischer Arbeitsmigranten7),
b) den Abzug von Truppen aus Militärbasen in Georgien8 (die es in den abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien gibt)
c) das Zwangsrekrutieren von Wehrpflichtigen.9Unterschreiben junge Männer unter Zwang eine Verpflichtung, wonach sie ihren Dienst weiter als Vertragssoldat (und nicht länger als Wehrpflichtiger) ableisten, können sie ganz legal in die Ukraine geschickt werden
Unterschreiben junge Männer unter Zwang eine Verpflichtung, wonach sie ihren Dienst weiter als Vertragssoldat (und nicht länger als Wehrpflichtiger) ableisten, können sie ganz legal in die Ukraine geschickt werden. Dass es so etwas gibt, ist Menschenrechtlern seit Mitte der 2000er Jahre bekannt.
Vor diesem Hintergrund droht die laufende Einberufung neuer Wehrpflichtiger zu einem Fiasko für die russische Führung zu werden. Anfragen junger Männer und besorgter Angehöriger, die unter allen Umständen einer Einberufung entgehen wollen, häufen sich10 bei den Komitees der Soldatenmütter und anderen Menschenrechtsorganisationen.
Präsident Wladimir Putin hat Ende März angekündigt, dass in den folgenden drei Monaten 134.500 Wehrpflichtige einberufen werden sollen11. Es wird angenommen, dass die Militärkommissariate die Kriterien für die Rückstellung von Rekruten aufgrund von medizinischen Gründen aufweichen könnten.12Eine Mobilmachung der Armee, um mehr Soldaten zu rekrutieren, hat der Kreml bislang vermieden.
Nadja Douglas
Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS)
KRIEGSVERLAUF II: Ukrainische Erfolge, russische Verluste
9. Wie geht die ukrainische Armee vor, um gegen die russische Invasion Widerstand zu leisten?
Die ukrainische Armee kämpft mit dem gesamten Portfolio gepanzerter Verbände, vor allem mit Panzern und gepanzerten Fahrzeugen. Das ist ein enorm wichtiger Teil ihrer Verteidigung, ohne den zum Beispiel Kiew oder Charkiw eingekesselt worden wären. Dass die ukrainische Armee sich mit diesen gepanzerten Verbänden frei bewegen, sie zusammenziehen und Schwerpunkte bilden kann, ist möglich, weil sie von Flieger-Abwehrsystemen geschützt werden und zumindest örtlich und zeitlich begrenzt die russische Luftwaffe fernhalten.
Die Waffenlieferungen westlicher Staaten helfen der Ukraine dabei, sich weiter verteidigen zu können.
Wie wichtig die gepanzerten Verbände und die Flugabwehrsysteme für diesen Kampf sind, tritt medial – also in Bildern – nicht so in den Vordergrund. Präsenter durch soziale Medien war von Anfang an die agile Partisanen-Technik mit Angriffen aus Hinterhalten, auf russische Nachschubkonvois, aber auch auf zum Teil hochrangige Generäle, die so getötet wurden. Aufsehen erregen außerdem die Drohnenangriffe auf russische Panzer. Eigentlich ist das aber der kleinere Teil des Krieges, bei dem allerdings zahlreiches Filmmaterial ins Netz gelangt.Die ukrainische Armee kämpft mit dem gesamten Portfolio gepanzerter Verbände, vor allem mit Panzern und gepanzerten Fahrzeugen. Das ist ein enorm wichtiger Teil ihrer Verteidigung
Die Bayraktar-Drohne – ein in der Türkei produziertes Modell – ist in ihrer Wirksamkeit in diesem Krieg zugleich nicht zu unterschätzen. Der Grund: Während die ukrainische Luftwaffe ihre sonstigen Kapazitäten nutzt, um russische Kampfflugzeuge zu jagen, stehen diese Drohnen für Luftbodeneinsätze zur Verfügung. Damit kann die ukrainische Armee tiefer in die Reihen des Feindes vordringen als ihr das sonst vom Boden aus möglich wäre. Die Drohnen fliegen tief, sind klein und selbst von russischen Fliegern aus kaum zu sehen. Zum Teil gelangen der ukrainischen Armee auch deshalb viele Angriffe, weil die russische Armee zurückhaltend mit der Flugabwehr war: Zu groß war die Gefahr, in der Luft die eigenen Leute zu treffen. Die russische Seite hatte hier zu große Koordinationsschwierigkeiten. So haben die Bayraktar-Drohnen den Russen horrende Verluste zugefügt.
Die ukrainischen Streitkräfte (besonders das Heer) haben – anders als die russischen – außerdem vor Jahren damit begonnen, die Kommandostrukturen aus der Sowjetzeit abzulegen und Befehlshabern auf unteren Ebenen mehr Spielraum zu lassen. Das macht sie flexibler und bringt Vorteile gegenüber den starren Kommandostrukturen der russischen Armee, die bei dem früheren sowjetischen Prinzip geblieben ist.
Zudem hat sich auf ukrainischer Seite ein effektives Logistiksystem entwickelt, welches stark auf die Unterstützung von Freiwilligen aufbaut und das Informationen aus amerikanischen Quellen nutzen kann (zum Beispiel Satellitenbilder).
Aus dem privaten Sektor kam ebenfalls Unterstützung seitens der USA: Das sogenannte Starlink-System wurde von Eigentümer Elon Musk für die Ukraine zur Verfügung gestellt, um dort das Internet aufrechtzuerhalten.Gustav Gressel
European Council on Foreign Relations’Prof. Dr. Joachim Krause
Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK)10. Wie kommt es, dass so viele hochrangige russische Generäle gefallen sind?
Hauptgrund ist, dass der Krieg länger dauert, als es die russische Führung vorgesehen hatte. Die für den Einmarsch in die Ukraine aufgebaute Kommandostruktur war für länger anhaltende Kampfhandlungen nicht ausgelegt. Dieser strategische Fehler hat es später notwendig gemacht, dass neue Befehlshaber direkt an die Front mussten, um sich ein Bild der Lage zu machen. Das brachte sie in große Gefahr, weil sie sich dort normalerweise nicht aufhalten.
Sie mussten die Führung von Bataillonen übernehmen, die erst später zusätzlich ins Feld geschickt wurden. Das betraf Kommandeure, die zwei bis drei Bataillone neu zugeteilt bekamen und sich einen Überblick darüber verschaffen mussten, was diese Bataillone vor Ort eigentlich tun. Ebenso erging es den vorgesetzten Generälen aus dem jeweiligen Armeekommando. Ihnen unterstehen zum Teil sogar bis zu 17 Bataillone gleichzeitig, was sehr viel ist. Diese mussten sie persönlich einweisen. Das hat die ukrainische Armee ausgenutzt und begonnen, diese aus der Deckung gekommenen Kommandeure und Generäle13 durch Scharfschützen oder mit Artillerie gezielt zu töten.
Dazu hat beigetragen, dass die Struktur der russischen Armee noch aus Sowjetzeiten sehr hierarchisch aufgebaut ist – anders als die ukrainische Armee.
Gustav Gressel
European Council on Foreign Relations’
KRIEGSVERBRECHEN: Zivile Opfer und die Gerichte
11. Was lässt sich bisher zu (zivilen) Opferzahlen sagen?
In den Medien ist täglich von weiteren zivilen Kriegsopfern zu lesen. Grundsätzlich ist von hohen Opferzahlen in der ukrainischen Zivilbevölkerung auszugehen, vermutlich von mehreren tausend Toten14. Eine gesicherte, konkrete Zahl ist im Moment nicht seriös zu liefern.
Was die Verluste bei den Streitkräften angeht, so variieren auch hier die Angaben stark je nach Konfliktpartei. Im Zuge der Kriegspropaganda – diese umfasst eben auch die Opferzahlen – ist davon auszugehen, dass die Zahlen beider Seiten verfälscht sind. Zahlen, die im Internet und auch von Medien verbreitet werden, sind daher ebenso mit Vorsicht zu genießen. Was sich sagen lässt, ist, dass es auf beiden Seiten ebenfalls mehrere tausend gefallene Soldatinnen und Soldaten sein müssen.Auch die Menschen, die flüchten mussten, sind Opfer dieses Krieges: Schätzungen von neutralen Organisationen, wie beispielsweise dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes oder den Vereinten Nationen, legen nahe, dass mehr als sechs Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer das Land verlassen haben. Außerdem sind es wohl inzwischen rund 7,7 Millionen Menschen15, die innerhalb der Ukraine fliehen mussten (Binnenflüchtlinge).
Anne Dienelt
Institut für Internationale Angelegenheiten, Universität Hamburg12. Wie können die begangenen Kriegsverbrechen untersucht und völkerrechtlich geahndet werden?
Das ist ein langer juristischer Weg. Kriegsverbrechen, ebenso Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord, können vom Prinzip her sowohl von einer nationalen als auch von der Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag (IStGH) untersucht und verfolgt werden. In der Ukraine schockierten besonders die grausamen Bilder von mutmaßlich durch russische Soldaten getöteten Zivilisten aus Kiewer Vororten wie Butscha und Borodjanka.
Grundsätzlich gilt: Zivilisten – das ist völkerrechtlich verbindlich in den Genfer Konventionen geregelt – sind von den Kriegshandlungen auszunehmen; das heißt, sie dürfen im Krieg nicht direkt angegriffen werden. Liegen mutmaßliche Rechtsverstöße vor, so kann eins der damit betrauten Gerichte am Ende eines Strafprozesses, inklusive Beweisaufnahme, rechtskräftig feststellen, inwiefern Kriegsverbrechen verübt wurden, und wer dafür strafrechtlich verantwortlich ist. Dabei muss juristisch ausgeschlossen werden, dass es sich bei den getöteten Zivilisten nicht um ungewollte Opfer als Nebeneffekt eines Angriffs handelt (Kollateralschäden). Denn völkerrechtlich betrachtet gelten diese – so zynisch es in den Ohren juristischer Laien und der Betroffenen klingen mag – als rechtmäßig.[Es] muss juristisch ausgeschlossen werden, dass es sich bei den getöteten Zivilisten nicht um ungewollte Opfer als Nebeneffekt eines Angriffs handelt (Kollateralschäden)
Daher kommt der Beweissicherung für solche Verfahren zentrale Bedeutung zu: Die Ermittlungsbehörden müssen unter anderem Zeugenberichte, Fotos und Satellitenaufnahmen sammeln und auswerten. Besonders wichtig sind auch Obduktionen an den Opfern zur Feststellung des Tathergangs und der genauen Todesursache. In der Ukraine sind damit im Moment unterschiedliche Akteure befasst: Neben der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft, die zu Kriegsverbrechen aller beteiligten Streitkräfte – also auch der ukrainischen Seite16 selbst – ermittelt und in diesem Zuge auch Beweise sichert, sind weiterhin verschiedene investigative Medien wie Bellingcat beteiligt, außerdem internationale Organisationen wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs), darunter Human Rights Watch (HRW). Seitens der EU soll auch Eurojust ermitteln und Beweise sichern.
Auf die Beweissicherung folgt die Aufarbeitung durch Gerichte. Neben den nationalen ukrainischen Gerichten können außerdem Gerichte anderer Staaten Gräueltaten untersuchen. Dazu gehört auch die Bundesrepublik. So hat die deutsche Bundesgeneralanwaltschaft bereits Ermittlungen nach dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch aufgenommen17.Die ukrainische Regierung fordert überdies, ein Sondertribunal zur rechtlichen Aufarbeitung der Verbrechen bei den Vereinten Nationen einzurichten. Sondertribunale gab es mehrere seit den 1990er Jahren, unter anderem zum Völkermord von Rwanda. Vor diesem Sondertribunal sind im Laufe von 20 Jahren 61 der insgesamt 93 Angeklagten zu Haftstrafen von durchschnittlich 30 Jahren verurteilt worden18.
Anne Dienelt
Institut für Internationale Angelegenheiten, Universität Hamburg
Russland führt Krieg gegen die Ukraine. dekoder stellt die wichtigsten Fragen und Antworten zusammen. Gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern geht es in diesem FAQ darum, fakten- und wissenschaftsbasiert zu erklären und einzuordnen, was man zu Putins Angriffskrieg auf die Ukraine wissen muss.
Stellen Sie uns gern auch Ihre Fragen – per Email unter dekoder-lab@dekoder.org. Wir werden versuchen, mit Expertinnen und Experten aus europäischen Universitäten Antworten darauf zu finden.
Diese Reihe entsteht in Kooperation mit dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin und wird von der Alfred-Toepfer-Stiftung F.V.S. unterstützt.
Veröffentlicht am 13. Mai 2022
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Warum Putin die Ukraine grundsätzlich missversteht
BYSTRO #36: Putinismus und die frühere Sowjetunion – ein Vergleich
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FAQ #3: Neutrale Ukraine – ein Ausweg aus dem Krieg?
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Inmitten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gab es bereits mehrere Verhandlungsrunden. Viel Hoffnung auf eine schnelle diplomatische Lösung besteht nicht. Und doch fällt immer wieder ein Stichwort: ein „neutraler“ Status für die Ukraine und die Verankerung eines solchen Status in der ukrainischen Verfassung. Aber was heißt das überhaupt? Geht das? Und: Könnte der Krieg dadurch wirklich (so einfach) beendet werden?
FAQ #2: Wie kann man diesen Krieg beenden?
FAQ #1: Wie hat Wladimir Putin den Krieg begonnen, und wie rechtfertigt er ihn?
1. Neutrale Ukraine – ist doch DIE Lösung, oder?
2. Was genau liegt überhaupt auf dem Verhandlungstisch?
3. War die Ukraine bislang nicht sowieso neutral? (Spoiler: Jein)
4. Was soll das überhaupt sein – ein „neutrales“ Land – wenn man es auf dem Reißbrett entwirft?
5. Was ist mit der Idee einer „Finnlandisierung“?
6. Schweden oder Österreich – sind das die passenderen Modelle?
1. Neutrale Ukraine – ist doch DIE Lösung, oder?
Die Idee klingt tatsächlich nach einer einfachen Lösung: Die russische Führung würde mit einem neutralen Puffer-Staat („cordon sanitaire“) bekommen, was sie verlangt, und der Krieg könnte schnell enden.
So einfach ist es aber nicht und zwar aus drei zentralen Gründen:
Erstens: Die Ukraine ist kein Objekt von Verhandlungen, sondern ein souveräner Staat. Entscheidend ist also, was die ukrainische Regierung und die Menschen im Land als mögliche Lösung für den Krieg sehen ↓. Präsident Wolodymyr Selensky hat betont, dass Sicherheitsgarantien zum Schutz seines Landes zunächst am wichtigsten sind.
Zweitens: Egal, ob es am Ende um einen „neutralen“ Status geht oder um einen anderen Kompromiss – Sicherheitsgarantien sind dabei das Kernproblem, wie bisherige Forderungen der Ukraine ↓ zeigen. Alles dreht sich in dem, was dazu bislang bekannt ist, um die Frage, wer einer möglichen „neutralen“ Ukraine im Fall eines Angriffs militärisch beistehen würde, ohne Wenn und Aber. Andernfalls sähe sich die Ukraine als Nicht-NATO-Mitglied schutzlos einem Angreifer ausgeliefert. Entscheidend sind also Garanten, sprich: (Schutz-)Staaten (USA, Großbritannien etc.) oder internationale Organisationen, die rechtsverbindlich verpflichtet wären einzugreifen, notfalls militärisch. Allen voran müsste sich auch Russland darauf erst einmal einlassen. Und die Ukraine muss sich sicher sein können, dass die Garantien das Papier, auf dem sie stehen, auch wert sind.
Drittens: Die jüngere Geschichte der Ukraine mahnt zur größten Vorsicht, weil Russland mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 bereits ein Schutzabkommen gebrochen hat, nämlich das Budapester Memorandum von 1994. Über das Abkommen war der Ukraine territoriale Integrität, Souveränität und Schutz zugesichert worden – von Russland selbst, außerdem von den USA und Großbritannien. Im Gegenzug hat die Ukraine damals die auf ihrem Gebiet aus Sowjetzeiten „geerbten“ Atomwaffen abgegeben (aber keine „Neutralität“ versprochen ↓). Die Annexion hat gezeigt, dass das Budapester Memorandum keinen effektiven Schutz bot. Der Angriffskrieg seit dem 24. Februar 2022 unterstreicht das nur ein weiteres Mal.
Ganz grundsätzlich stellt sich die Frage, ob sich die russische Seite mit einer „Neutralität“ allein wirklich zufrieden geben würde. In den TV-Ansprachen vor der Invasion hat Russlands Präsident Wladimir Putin die Existenz der Ukraine als Staat wiederholt und mit Nachdruck generell infrage gestellt.
Cindy Wittke
Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)Stefan Wolff
Institute for Conflict Cooperation and Security, University of Birmingham2. Was genau liegt überhaupt auf dem Verhandlungstisch?
Momentan fungiert das Stichwort „Neutralität“ vor allem als eine Art Türöffner für die ersten Verhandlungsrunden zwischen Russland und der Ukraine – wobei unklar ist, ob das irgendwo hinführen kann.
Die zentralen Punkte, sowohl auf der russischen, als auch auf der ukrainischen Seite, zeigen, wie weit die Vorstellungen dabei auseinander liegen.Der russische Präsident Wladimir Putin hat drei zentrale Maximalforderungen genannt.
Erstens: Neutralität der Ukraine, verbunden mit einer Entmilitarisierung
Zweitens: Anerkennung der Krim als Teil Russlands
Drittens: Anerkennung der Unabhängigkeit der sogenannten Volksrepubliken im DonbassDas Ziel eines Regimewechsels in Kiew, der im russischen Propaganda-Narrativ „Entnazifizierung“ impliziert war, ist im Zuge der eigentlichen Verhandlungen kaum noch betont worden. Damit wird nun der ursprünglich angestrebte Regimewechsel in Kiew nicht explizit angesprochen und der Weg für direkte Gespräche zwischen Wladimir Putin und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky offen gehalten.
Selensky hat auf die russischen Verlautbarungen bisher deutlich ablehnend reagiert, insbesondere auf die Forderungen zwei und drei, die die territoriale Integrität der Ukraine infrage stellen.
Auch eine mögliche Neutralität legt Selensky anders aus.
Erstens: Er verwendet eine enge Definition von Neutralität und meint damit den Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft, die mit noch zu definierenden Sicherheitsgarantien durch eine größere Anzahl von Garantstaaten (darunter die USA, Großbritannien, Frankreich, Russland, oder auch die Türkei, Polen, Israel) abgesichert werden soll. Diese Sicherheitsgarantien und die Frage, wie sie durchgesetzt werden können, sind der eigentliche Knackpunkt ↑.
Zweitens: Eine Entmilitarisierung wird von der Ukraine abgelehnt
Drittens: Es besteht Selbstbestimmungsrecht in der politischen und wirtschaftlichen Westorientierung der Ukraine (EU-Integration)Die mehrheitliche gesellschaftliche Zustimmung in der Ukraine für die NATO-Mitgliedschaft ist seit 2019 gestiegen1 und bleibt auch jetzt im Krieg hoch. Daher ist unklar, ob ein möglicher Kompromiss seitens Selenskys überhaupt auf die nötige gesellschaftliche Akzeptanz stoßen würde. Der ukrainische Präsident hat ein Referendum über ein Abkommen angekündigt. Territoriale Fragen der Ukraine würden dabei voraussichtlich noch kontroverser in der Bevölkerung aufgenommen als ein Verzicht auf einen NATO-Beitritt.
Gwendolyn Sasse
Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS)3. War die Ukraine bislang nicht sowieso neutral? (Spoiler: Jein)
Die Kurzversion: Ja, die Ukraine gehört weder der NATO noch der EU an. Für die Ukraine gab und gibt es mittelfristig auch keine Perspektive, in die NATO aufgenommen zu werden. Was die EU angeht, hat sich dagegen seit dem Assoziierungsabkommen von 2014 eine potentielle Beitrittsperspektive eröffnet, wobei der Weg zum offiziellen Status als Beitrittskandidat noch weit ist.
Die Beantwortung dieser Frage ist jedoch etwas komplizierter und hilft zu verstehen, dass es zu einfach ist, eine Art „neutrale“ Ukraine als schnelle Lösung für den derzeitigen Krieg anzusehen. Also von vorn: Die Ukraine war und ist bündnisfrei, besaß jedoch nie einen offiziell „neutralen“ Status (wie etwa Finnland). Zugleich hatte die Ukraine seit 1994 mit dem Budapester Memorandum ↑ einen gewissen Schutzstatus genossen.
Die Außen- und Sicherheitspolitik war seither davon geprägt, sowohl in Richtung EU und NATO also auch in Richtung Russland zu blicken – je nachdem, ob der prorussische Viktor Janukowitsch oder prowestliche Kräfte wie Viktor Juschtschenko in Regierungsämtern waren. Unter Juschtschenko erhielt die Ukraine auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 eine grundsätzliche Beitrittsperspektive (neben Georgien). Hintergrund waren Ängste um die territoriale Integrität mit Russland als direktem Nachbarn und seinem Flottenstützpunkt auf der Krim, während ein Konflikt um die Lieferung russischen Gases schwelte.
Der Fünf-Tage-Krieg zwischen Russland und Georgien nur kurze Zeit später bestätigte solche Ängste. Damit wurde jedoch die NATO zögerlich. Wegen Bedenken, Länder aufzunehmen, die eine mögliche Konfrontation mit Russland als Bündnisfall mit sich bringen könnten, rückte eine Mitgliedschaft auch für die Ukraine schlagartig in die Ferne.
Mit Janukowitsch zurück im höchsten Staatsamt, ab 2011, erklärte sich die Ukraine sogar per Gesetz zu einem Staat ohne militärisches Bündnis. Als Janukowitsch auf Druck aus Moskau EU-Annäherungen stoppte, löste das im Winter 2013/14 die Maidan-Revolution gegen ihn aus. In der Folge annektierte Russland die Krim. Nur wenige Wochen später wurde der politische Kurs, in die NATO und die EU zu streben, von der neuen ukrainischen Regierung umso hartnäckiger wieder aufgenommen. Mit zunehmender Bedrohung wurden Allianzen verstärkt gesucht.Cindy Wittke
Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)Stefan Wolff
Institute for Conflict Cooperation and Security, University of Birmingham4. Was soll das überhaupt sein – ein „neutrales“ Land – wenn man es auf dem Reißbrett entwirft?
Neutral kann ein Land in zwei Hinsichten sein:
Zum einen, wenn ein Land sich nicht in geopolitische Rivalitäten von Großmächten einmischt – was in der Praxis einer Nicht-Paktgebundenheit entspricht. Oder zum anderen auch dann, wenn ein Land grundsätzlich im Kriegsfall seine Neutralität wahrt (abgesichert über einen entsprechenden „völkerrechtlichen Status“).
Neutralität bedeutet damit nicht zwangsläufig eine Entmilitarisierung: Es gibt auch eine sogenannte bewaffnete Neutralität. Sie räumt neutralen Staaten zumeist das Recht ein, eigene Streitkräfte zur Landesverteidigung zu unterhalten. Was dann sogar umso wichtiger ist, um sich gegen Angriffe selbst wehren zu können.
Traditionell war ein neutraler Status in zurückliegenden Jahrhunderten vor allem zum Schutz kleiner Staaten gedacht, insbesondere in Kriegszeiten. Daraus erklärt sich auch, dass in Bezug auf die Ukraine beim Stichwort „Entmilitarisierung“ und/oder „Neutralität“ viele, zum Teil sehr verschiedene Schlagworte wie „Finnlandisierung“ ↓ fallen, beziehungsweise von einem schwedischen oder von einem österreichischen Weg ↓ die Rede ist.Cindy Wittke
Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)Stefan Wolff
Institute for Conflict Cooperation and Security, University of Birmingham5. Was ist mit der Idee einer „Finnlandisierung“ der Ukraine?
Der Begriff „Finnlandisierung“ bezieht sich auf den neutralen Status Finnlands, den das Land seit den 1940er Jahren inne hat. Der wurde zwar zu Sowjetzeiten anders mit Leben gefüllt als das seit Ende des Kalten Krieges geschieht. Entscheidend aber ist, dass er weder damals noch heute ein passendes Modell für die Ukraine liefert.
Um das vor Augen zu führen, zunächst kurz zu den völkerrechtlich relevanten Prinzipien, auf denen das finnische Modell fußt: Es gibt eine gegenseitige Nichtangriffs-Garantie, eine gegenseitig zugesicherte Bündnisfreiheit und Begrenzungen der finnischen Streitkräfte, die in ihrer Größe und Ausrüstung lediglich Aufgaben der inneren Sicherheit und der Landesverteidigung entsprechen dürfen. Zugleich werden die Souveränität und territoriale Integrität Finnlands bekräftigt. Vertragspartner war einst die Sowjetunion, heute ist es der Rechtsnachfolger Russland.
Insofern bestehen die ursprünglich zu Sowjetzeiten geschlossenen Verträge fort. Doch die finnische Regierung hat sich Anfang der 1990er Jahre entschieden, das Land innerhalb des neutralen Status anders aufzustellen: So ist Finnland zwar nicht Mitglied der NATO, wohl aber Teil aller Partnerschaftsprogramme der NATO2 geworden und seit 1995 auch vollwertiges EU-Mitglied.Das Kernproblem bei der Idee einer neutralen Ukraine nach finnischem Vorbild: Die gegenwärtig bekannten russischen Forderungen gehen weit darüber hinaus. Russlands Vorstellung nach dürfte es keinerlei Armee geben, auch keinerlei Assoziierung mit Militärbündnissen wie der NATO. Damit wäre die Ukraine wehrlos. Russland würde sich de facto Einfluss auf den Nachbarn sichern, so wie es der Sowjetunion in Finnland bis zum Ende des Kalten Krieges schon gelang3 – weil die Bedrohung durch eine Atommacht ohne andere Schutzalternativen zu groß war.
Zudem bieten die (völkerrechtlichen) Grundlagen zur finnischen Neutralität so oder so nicht die notwendigen Sicherheitsgarantien ↑, die die Ukraine mit Blick auf die Erfahrungen aus Krim-Annexion und laufendem Angriffskrieg erwarten würde. Ob eine Aggression Russlands damit eingehegt werden kann, ist daher fraglich.
Cindy Wittke
Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)Stefan Wolff
Institute for Conflict Cooperation and Security, University of Birmingham6. Schweden oder Österreich – sind vielleicht das die passenderen Modelle?
Die Modelle von Schweden und Österreich sind ebenfalls in die Diskussion eingebracht worden. Beide sind aber noch weniger als eine „Finnlandisierung“ ↑ dazu geeignet, um auf die Ukraine angewendet zu werden, weil keine vertraglich verbindlich festgehaltenen Sicherheitsgarantien existieren – die aber bräuchte es jetzt ↑.
Schwedens Neutralität war freiwillig, also ohne jegliche Vertragsbindung und geht in die Zeit der napoleonischen Kriege im frühen 19. Jahrhundert zurück. Daher war die Umsetzung auch relativ uneben und besonders im Zweiten Weltkrieg hat Schweden seine neutrale Position nicht gehalten: Die Regierung hat Nazideutschland sowohl wirtschaftlich unterstützt als auch den Transit deutscher Truppen an die Ostfront ermöglicht. Nach 1945 war Schweden zwar weiterhin formell neutral, hat sich aber immer stärker auch militärisch an den Westen angelehnt und ist analog zu Finnland seit 1995 EU-Mitglied, wenngleich in militärischer Hinsicht weiter bündnisfrei.
Österreich ist ein weiterer Fall, der in der Diskussion um eine neutrale Ukraine eine Rolle spielt. Im Fokus stehen vor allem die zwischen Österreich und der damaligen Sowjetunion geschlossenen Abmachungen aus den frühen 1950er Jahren, mit denen Österreich seine Souveränität wiedererlangte. Die Neutralität des Landes ist in der Verfassung und in einem separaten Verfassungsgesetz verankert worden. Es gibt hier, wie im Falle von Schweden, keine Sicherheitsgarantien.
Außerdem hat Österreich sich über die Jahrzehnte strikt vorbehalten, selbst zu entscheiden, was mit seiner Neutralität vereinbar ist. Das hat unter anderem dazu geführt, dass es 1995 zu einer Novellierung des Verfassungsgesetzes zur Neutralität kam, so dass der Weg in die Europäische Union geebnet werden konnte – einschließlich einer Beteiligung an der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Union.Angesichts der russischen Forderungen ist es schon erstaunlich, dass diese Staaten überhaupt als Modelle einer vermeintlich einfachen Lösung herangezogen werden: Denn für sie sind eine EU-Mitgliedschaft und Kooperationen mit der NATO über die vergangenen Jahrzehnte zu einem wesentlichen Teil ihrer Außen- und Verteidigungspolitik geworden. Das zeigt sich auch im russischen Angriffskrieg selbst: Sowohl Finnland als auch Schweden haben Waffen an die Ukraine geliefert; Österreich hat der NATO erlaubt, seinen Luftraum für Überflüge zu nutzen.
Gwendolyn Sasse
Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS)Stefan Wolff
Institute for Conflict Cooperation and Security, University of Birmingham
Russland führt Krieg gegen die Ukraine. dekoder stellt die wichtigsten Fragen und Antworten zusammen. Gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern geht es in diesem FAQ darum, fakten- und wissenschaftsbasiert zu erklären und einzuordnen, was man zu Putins Angriffskrieg auf die Ukraine wissen muss.
Stellen Sie uns gern auch Ihre Fragen – per Email unter dekoder-lab@dekoder.org. Wir werden versuchen, mit Expertinnen und Experten aus europäischen Universitäten Antworten darauf zu finden.
Diese Reihe entsteht in Kooperation mit dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin und wird von der Alfred-Toepfer-Stiftung F.V.S. unterstützt.
Veröffentlicht am 1. April 2022
1.Das zeigen Vergleichsdaten in den Umfragen des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS): Lagen Zustimmungswerte für einen NATO-Beitritt im Jahr 2014 noch bei 40 bis 45 Prozent, lagen diese im Dezember 2021 bei knapp 60 Prozent, vgl. Umfrage des KIIS aus 12/2021, vgl. Umfrage des KIIS aus 08/2019. ↑
2.In Finnland ist seit dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine auch erstmals die Idee einer NATO-Vollmitgliedschaft kein Tabu mehr, vgl. Deutschlandfunk: Der lange Abschied von der Neutralität. Trotzdem kann Finnland eine Vollmitgliedschaft in der NATO nicht so einfach anstreben, wie es manchmal in der öffentlichen Debatte den Anschein hat. Zwar kann Finnland in Fünfjahresabständen den Freundschaftsvertrag mit Russland als Rechtsnachfolger der UdSSR kündigen. Doch das Neutralitätsgebot (keinem Militärbündnis beizutreten) aus den Friedensverträgen von 1940, 1947 und dem Waffenstillstandsabkommen von 1944 verschwindet damit nicht. ↑
3.In Finnland herrschte zur Zeit des Kalten Krieges eine außenpolitische Linie, die sich den Interessen der Sowjetunion unterordnete. Auch innenpolitisch wurde Kritik am großen Nachbarn nicht geübt, was massive Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit, auf Kunst und Kultur hatte. In dieser Hinsicht gibt es auch Stimmen aus Finnland, die vor dem Pfad einer „Finnlandisierung“ als Modell für die Ukraine warnen, vgl. Deutschlandfunk: Interview mit Kai Sauer, Staatssekretär finnisches Außenministerium, zu: Ukraine (Ende März 2022). ↑
Weitere Themen
Anders sein – Dissens in der Sowjetunion
FAQ #1: Putins Angriffskrieg auf die Ukraine
FAQ #2: Wie kann man diesen Krieg beenden?
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FAQ #2: Wie kann man diesen Krieg beenden?
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Wie kann man Putin stoppen? Wie, durch wen und wann sich der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine beenden lässt, ist derzeit – man muss das so deutlich sagen – vor allem Gegenstand von Spekulationen. Eine Antwort gibt es darauf (noch) nicht. Aber es gibt Handlungsoptionen und Instrumente, die die russische Führung dazu bringen könnten, militärisch einzulenken:
Grundsätzlich besteht die Chance, einen Krieg diplomatisch zu beenden. Ziele der Verhandlungen sind: humanitäre Aufgaben wie etwa die Evakuierung von Städten, eine (vorübergehende) Waffenruhe bis hin zu einer „echten“ Beilegung des Kriegs.
Derzeit werden auch Zwangsmaßnahmen diskutiert, vor allem fordert die ukrainische Regierung die umstrittene Option einer Flugverbotszone, um Russland die Möglichkeit zu nehmen, seine Luftangriffe fortzusetzen. Andere Zwangsmaßnahmen sind die weitreichenden Sanktionen der internationalen Staatengemeinschaft gegen Russland, die längst in Kraft sind und sukzessive erweitert werden.
Ob der Krieg aus Russland heraus selbst beendet werden kann, wirft derzeit vor allem die Frage auf: Kann es eine Elitenspaltung im Land geben? Also eine Art „Palastrevolte“ gegen Präsident Wladimir Putin, die ihm die Befehlsgewalt im Kreml und damit über diesen Krieg nimmt und den politischen Kurs Russlands wendet?
In unserem FAQ, das Stück für Stück weiter wachsen wird, sammeln wir zentrale Fragen zum Krieg und lassen sie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beantworten.
Teil 2: Wie kann man diesen Krieg beenden?
FAQ #1: Wie hat Wladimir Putin den Krieg begonnen, und wie rechtfertigt er ihn?
FAQ #3: Neutrale Ukraine – ein Ausweg aus dem Krieg?1. Wie viel Hoffnung können wir in die Diplomatie setzen?
2. Es laufen bereits Verhandlungen mit Russland: Aber inwieweit kann man einem Aggressor überhaupt vertrauen?
3. Wer spricht wann mit wem – und was heißt das überhaupt?
4. Können Schutzzonen und humanitäre Korridore ein Schritt zum Frieden sein? Und woran scheitern sie, zum Beispiel in Mariupol?
5. Wäre ein Waffenstillstand eine Lösung?
6. Andere „Player“ von UN, OSZE bis Europarat – Was kann die Weltgemeinschaft ausrichten?
7. Was bringen die Sanktionen?
8. Inwiefern wenden sich eigene Eliten von Putin ab: Kann es eine Palastrevolte geben, die alles ändert?
9. Warum kann die NATO nicht einfach die diskutierte Flugverbotszone einrichten, um den Krieg zu beenden?
1. Wie viel Hoffnung können wir in die Diplomatie setzen?
Es gibt nicht viel Hoffnung auf eine schnelle diplomatische Lösung. Laufende Verhandlungen – wie es sie derzeit zwischen Russland und der Ukraine gibt – liefern noch keine Sicherheit, dass am Ende eine tragfähige Übereinkunft zwischen den Konfliktparteien stehen wird. Mit dem Angriffskrieg Russlands – einer Atommacht mit permanentem Sitz im UN-Sicherheitsrat – gegen die Ukraine haben wir es mit einem zwischenstaatlichen Großkonflikt zu tun, für dessen Lösung es keine Blaupause gibt.
Einige Optionen waren mit Russland als Aggressor zudem von Beginn an versperrt: Mit Russland als Vetomacht im UN-Sicherheitsrat ↓ besteht keine Möglichkeit, dort verbindlichen Resolutionen zuzustimmen, um den Verhandlungsweg zu erzwingen. Daher – und das zeichnete sich auch schon früh ab – werden voraussichtlich Dritte als Vermittler eine besondere Rolle spielen. Dafür kommen derzeit Israel und die Türkei in Frage – also Staaten und ihre Staatsoberhäupter, zu denen sowohl die Ukraine als auch Russland gute Beziehungen unterhalten.
Um jedoch das Fenster für eine umfassende und dauerhafte diplomatische Lösung aufzustoßen, ist der sogenannte Moment der „Reife“ nötig: Der tritt zum Beispiel dann ein, wenn keine der Parteien mehr in der Lage ist, den Krieg aus eigenen Kräften militärisch zu entscheiden und deswegen hofft, am Verhandlungstisch mehr zu erreichen als auf dem Schlachtfeld. Mit Blick auf die öffentlich bekannten Maximalforderungen Russlands – und dem ungebrochenen Willen auf ukrainischer Seite Widerstand zu leisten – ist nicht zu erwarten, dass die Konfliktparteien aktuell zu dem Schluss kommen, dass dieser Punkt erreicht ist. Ebenso wenig zeichnet sich bisher ab, dass eine Seite einen Grad militärischer Überlegenheit erreicht, der ein Ende des Krieges herbeiführt, weil eine Seite der anderen die Bedingungen diktieren kann.
Es ist also mit einem länger währenden Verhandlungsprozess mit Fort- und Rückschritten zu rechnen, parallel zu andauernden Kampfhandlungen und vor allem mit Opfern unter der Zivilbevölkerung.
Cindy Wittke
Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)Stefan Wolff
Institute for Conflict Cooperation and Security, University of Birmingham2. Es laufen bereits Verhandlungen mit Russland: Aber inwieweit kann man einem Aggressor überhaupt vertrauen?
Das ist eben die Frage. Es besteht ein Vertrauensdilemma, aus dem es keinen einfachen Ausweg gibt. Russland – davon ist mit Blick auf die bisherigen Verhandlungserfahrungen vor und nach Kriegsbeginn auszugehen – ist keine vertrauenswürdige Verhandlungspartei.
In einem solchen Vertrauensdilemma vermischen sich zwei verschiedene Fragen: Erstens wie sich ein Krieg beenden lässt und zweitens wie mit Aggressoren und Kriegsverbrechern umzugehen ist. Das Dilemma kann jedoch nicht dadurch aufgelöst werden, keine Gespräche zu führen.Für ein mögliches Verhandlungsergebnis zwischen Russland und der Ukraine heißt das: Weil das Vertrauen auf Zusagen besonders schwach sein wird, braucht es umso mehr ganz konkrete und effektive Sicherheitsgarantien für die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine. Das beinhaltet Mechanismen, durch die überwacht werden kann, dass ein Friedensabkommen umgesetzt wird: mögliche Verstöße müssen geahndet und Streitpunkte geschlichtet werden können, zum Beispiel unter Einsatz von Internationalen Organisationen.
Die Frage, ob Kriegsverbrecher Friedensabkommen verhandeln können, ist kein Novum. Sie stand in Kriegen jüngerer Zeit wiederholt im Raum: zum Beispiel als Omar al-Baschir im Darfur-Konflikt als damaliger sudanesischer Staatspräsident Verhandlungspartner war, oder Slobodan Milosevic bei der Verhandlung des hochkomplexen Daytoner Abkommens.
Cindy Wittke
Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)Stefan Wolff
Institute for Conflict Cooperation and Security, University of Birmingham3. Wer spricht wann mit wem – und was heißt das überhaupt?
Das heißt eine Menge: Daran, wer wann mit wem spricht, lässt sich ablesen, ob sich wirklich eine tragfähige Lösung für einen Konflikt abzeichnen könnte. Denn: Generell geht man davon aus, dass haltbare Ergebnisse allenfalls bei Verhandlungen auf höchster Ebene, also zwischen Präsidenten, zustandekommen. Ein Treffen zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin – gar begleitet von einem symbolischen Händedruck – wäre also ein starkes Zeichen. Vor allem Russland wird dies aber strategisch hinauszögern. Jedenfalls solange es die Lage auf dem Schlachtfeld und die wirtschaftliche sowie politische Lage in Russland ermöglicht ↑. Für Selensky wäre ein solches Zusammentreffen von großer Wirkung, da Putin ihm bisher nicht auf Augenhöhe begegnet ist und ihn öffentlich als „Neonazi“ verunglimpft hat.
Dazu muss man wissen: Es gehört zur Anbahnung diplomatischer Lösungen dazu, dass Gespräche zwischen den Konfliktparteien häufig auf mittlerer, also nicht ranghoher Ebene beginnen. So nehmen militärische und politische Repräsentanten – aber nicht die Führung – daran teil und verhandeln häufig zunächst vor allem Fragen zur Regulierung des Kriegsverlaufs, etwa Fragen zur Evakuierung ↓ von Städten oder zu Waffenruhen ↓ (die aber schnell gebrochen werden können).
Obwohl das alles zumeist unter dem Siegel der Verschwiegenheit abläuft, ist es trotzdem Teil dieses Prozesses, die öffentliche Bühne zu nutzen, um zum Beispiel Themen zu setzen. Das geschieht, indem Forderungen und Vorschläge von beiden Seiten publik gemacht werden: Lanciert wird zum Beispiel, es sei eine neutrale Ukraine denkbar und im Gegenzug der Abzug russischer Truppen. Das zeigte sich Mitte März besonders deutlich, als ein möglicher 15-Punkte-Plan der Verhandlungsparteien mit diesen Details an die Presse kam – und dann breit als vermeintlich positives Signal diskutiert wurde. Dabei liegen die öffentlich bekannten Forderungen beider Seiten weit auseinander: Die Ukraine als angegriffener Staat verlangt den Abzug der russischen Truppen und die Wiederherstellung ihrer territorialen Integrität – Russland die Anerkennung der ukrainischen Halbinsel Krim als Teil Russlands sowie der sogenannten Volksrepubliken DNR und LNR als unabhängige Staaten.
Für einen aussichtsreichen Verhandlungsverlauf entscheidend ist meist, ob und wann Punkte identifiziert werden können, die tatsächlich eine gemeinsame Verhandlungsgrundlage liefern – bevor die Gespräche offiziell zu höherrangigen Vertreterkreisen wechseln können.
Cindy Wittke
Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)Stefan Wolff
Institute for Conflict Cooperation and Security, University of Birmingham4. Können Schutzzonen und humanitäre Korridore ein Schritt zum Frieden sein? Und woran scheitern sie, zum Beispiel in Mariupol?
Schutzzonen sind mögliche Teillösungen, die zwar den Krieg nicht beenden, aber den Tod weiterer Zivilisten verhindern können. Die Konfliktparteien können sich auf solche Zonen oder Korridore entweder als Teil von Friedensverhandlungen oder auch losgelöst davon einigen – nebst Ort, Zeit und Dauer.
Solche Zonen effektiv einzurichten, gelingt in der Ukraine bislang nur teilweise, laut ukrainischer Behörden unter anderem für Sumy und Mariupol.
Das Beispiel der von russischen Truppen stetig angegriffenen Stadt Mariupol zeigt allerdings besonders eindringlich, wie schwierig die Verhandlungen für und das Einrichten solcher Fluchtwege sein können: Dort gab es zwischenzeitlich Angebote von Moskau, Korridore in Richtung Belarus und Russland einzurichten. Das lehnte Kiew ab – und forderte die russische Seite auf, Evakuierungen auch in andere Regionen innerhalb der Ukraine zu ermöglichen. Die Krux: Sobald die Menschen eigenständig in andere Landesteile der Ukraine fliehen und nicht über konkret vereinbarte Fluchtwege, genießen sie nicht mehr den durch den Korridor gesondert vereinbarten Schutz1.Gelingt die Einrichtung solcher Korridore, so heißt das nicht notwendig, dass mit solchen Teillösungen ein Schritt zu einem dauerhaften Waffenstillstand oder gar zu einem Friedensprozess geebnet wäre: Im syrischen Aleppo hat sich seinerzeit beispielsweise gezeigt, dass nach der Evakuierung über humanitäre Korridore eine systematische Bombardierung der Stadt durch russische Streitkräfte erfolgte. Dies wurde damit begründet, dass keine Zivilisten, sondern nur noch rechtmäßige militärische Ziele, darunter „Kombattanten“, in der Stadt verblieben seien. Diese Praxis stieß international auf breite Ablehnung und wurde als weiterer Völkerrechtsbruch gewertet.
Ob dies auch in der Ukraine zu erwarten ist, muss man sehen; es ist aber angesichts des bisherigen russischen Vorgehens nicht auszuschließen.Anne Dienelt
Institut für Internationale Angelegenheiten, Universität Hamburg5. Wäre ein Waffenstillstand eine Lösung?
Jein. Waffenruhen und Waffenstillstände sind häufig temporärer Natur. Die Verhandlungspartner definieren, wie lange sie gelten sollen und für welches konkrete Gebiet. Selten bieten sie eine „echte“ Lösung, sondern in der Regel nur einen Minimalkonsens, von dem auch unklar ist, wie lange er hält. Für den Moment aber kann ein Waffenstillstand den Tod weiterer Menschen verhindern.
Ein Risiko im Fall eines Waffenstillstands besteht darin, dass die Konfliktparteien die „Kampfpause“ dazu nutzen können, sich auszuruhen, sich neu zu ordnen, und dann erneute und häufig noch stärkere Angriffe und Kampfhandlungen vorzubereiten.
Für den Friedensprozess kann ein Waffenstillstand aber eine entscheidende erste Etappe sein – auf zwei Weisen: Erstens kann ein Waffenstillstand zur Voraussetzung gemacht werden, bevor sich Verhandlungspartner überhaupt erst an einen Tisch setzen. Dieses Vorgehen wählt im Moment der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky, indem er eine Feuerpause fordert, bevor es zu direkten Gesprächen zwischen ihm und Wladimir Putin kommen könne.
Zweitens kann ein Waffenstillstand erstes Ziel von Gesprächen auf der obersten Ebene (der Präsidentenebene) ↑ sein. Dafür müssen beide Seiten glaubhaft an einem Ende des Kriegs interessiert sein ↑.Wie sehr ein Waffenstillstand einen zeitlich begrenzten Charakter haben kann, zeigt sich allerdings an den Erfahrungen mit dem Minsker Abkommen zum Krieg in der Ostukraine: Minsk II hat den Krieg dort nicht beendet. Das Abkommen wurde vielmehr zu einem dauerhaften Verhandlungsgegenstand und politischem Pfand zwischen den Konfliktparteien in den Separatistengebieten. Russlands Interesse, darüber weiteren Einfluss auf Kiew auszuüben, stieß auf Gegenwehr in Kiew.
Mit dem 24. Februar 2022 hat Russland begonnen, den zuvor regional auf einen Teil der Ukraine begrenzten Krieg mit seiner brüchigen Waffenruhe zu einem offenen Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine auszuweiten.
Cindy Wittke
Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)Anne Dienelt
Institut für Internationale Angelegenheiten, Universität Hamburg6. Andere „Player“ von UN, OSZE bis Europarat – Was kann die Weltgemeinschaft ausrichten?
Bislang verfügen die internationalen Organisationen, in denen Russland und die Ukraine Mitglied sind, über keine Handhabe, mittels derer sie den Krieg unmittelbar beeinflussen könnten.
Der UN-Sicherheitsrat ist durch das russische Veto-Recht derzeit handlungsunfähig. Immerhin wurde aber in der anberaumten Dringlichkeitssitzung der UN-Generalversammlung vor den Augen der Welt über diesen Krieg verhandelt und eine – wenn auch rechtlich nicht bindende – Resolution verabschiedet: Damit weiß Russland nun, dass 141 der 193 UN-Staaten den Einmarsch in die Ukraine verurteilen, sich 35 Staaten enthalten und nur vier weitere an der Seite Russlands stehen. Das sind Belarus, Eritrea, Nordkorea und Syrien.
So nimmt Russland als Preis seines Kriegs in der Ukraine den Weg in die internationale Selbstisolation in Kauf. Das zeigt sich auch daran, dass das Land Mitte März seinem drohenden Ausschluss aus dem Europarat zuvorkam – nach 26 Jahren Mitgliedschaft.
Bleibt noch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) als möglicher einflussnehmender Akteur, deren Vorgängerorganisation KSZE bereits während des Kalten Krieges funktionierte. Fraglos wird Russland in der OSZE scharf verurteilt, aber diese Beschlüsse sind ebenfalls rechtlich nicht bindend. Damit hängen sie vom politischen Willen der Konfliktparteien ab.
Weitere Möglichkeiten der Weltgemeinschaft auf ein Ende des Krieges hinzuwirken, liegen bei den internationalen Gerichten: dem Internationalen Strafgerichtshof (Haager Tribunal) und dem Internationalen Gerichtshof (dem IGH, höchstes UN-Gericht). Mitte März hat der IGH per Eilentscheid Russland aufgefordert, die militärischen Handlungen zu unterbrechen. Da bei Nichtbefolgung von Gerichtshofsurteilen allerdings der aktuell blockierte UN-Sicherheitsrat die zentrale Umsetzungsinstanz wäre, dürfte dies ohne praktische Auswirkung bleiben. Tatsächlich gibt es bislang keine Anzeichen, dass dieser Gerichtsentscheid die russische Kriegsstrategie beeinflussen würde.
Vergebens sind die Entscheidungen und Verträge von UN und OSZE aber nicht: Sie stellen den wichtigsten Bezugsrahmen für einzelstaatliche Bemühungen dar, um sich mit der Ukraine zu solidarisieren sowie um zwischen Russland und der Ukraine zu vermitteln. Die zentrale Handhabe scheint im Moment aber eher bei Waffenlieferungen und den verhängten Sanktionen gegen Russland zu liegen. Im Nachgang eines eventuellen Waffenstillstands könnten die genannten Institutionen aber fraglos wieder eine entscheidende Rolle spielen.
Andrea Gawrich
Justus-Liebig-Universität Gießen7. Was bringen die Sanktionen?
Mit Sanktionen alleine lässt sich der russische Vormarsch in der Ukraine nicht stoppen. Allerdings ist es möglich, damit den Druck auf das System Putin zu erhöhen, damit es den Krieg selber stoppt. Mittel- bis langfristig können Sanktionen außerdem die militärischen Möglichkeiten Russlands in künftig denkbaren Kriegen oder militärischen Konflikten einschränken.
Bei der Verhängung von Sanktionen geht es um die Fragen, wie schnell sie wirken und wie viel Angriffsfläche es gibt. Die bietet Russland in der Tat – wegen der enormen Abhängigkeit von westlicher Technologie, und auch in Finanzfragen, weil es so tief in das globale Finanzsystem integriert war.
Die Sanktionen wurden innerhalb weniger Tage verhängt. Es ist eine historische Situation: Noch nie wurde ein so großes Land innerhalb so kurzer Zeit so massiv und von so vielen Staaten gleichzeitig mit Sanktionen belegt. Bei dieser Konstellation gibt es viele Variablen, weshalb nicht klar ist, wie es weitergeht.Im Hinblick auf die Reaktion der russischen Bevölkerung werden zwei Argumente diskutiert: Die einen erwarten eine „Rally around the Flag“, also dass das Volk sich erst recht hinter den Präsidenten stellt und den Westen im Allgemeinen für die Lage verantwortlich macht. Das würde an die russische Propaganda vom Russland als umzingelte Festung anknüpfen, die man in die Knie zwingen wolle. Möglich ist aber auch, dass die Menschen die Machthaber für die wirtschaftlichen Probleme beschuldigen. Die Erfahrungen von 2014 zeigten, dass es für die Machthaber opportun schien, die Wirkungen der Strafmaßnahmen kleinzureden. In der Staatspropaganda wird berichtet werden, dass die Sanktionen zwar lästig sind, aber eigentlich kein großes Problem. Vor diesem Hintergrund dürfte sich eine Diskrepanz auftun: Das Realeinkommen fällt ja schon kontinuierlich seit 2014, 2022 droht aber noch eine weitaus höhere Inflation als bei der optimistischen Prognose der Zentralbank, die auch schon Preissteigerungen von 20 Prozent erwartet. Eine hohe Arbeitslosenquote ist zudem nicht mehr ganz so unwahrscheinlich wie in vergangenen Jahren – und damit auch fortschreitende Armut. Wenn den Menschen dann im Fernsehen etwas von der Wirkungslosigkeit westlicher Sanktionen erzählt wird, könnte sie das durchaus verärgern – und sie stellen ihre Verarmung dann eher mit „denen da oben“ in Zusammenhang – das könnte den Effekt der „Rally around the Flag“ reduzieren und für die Machthaber langfristig zum Problem werden.
Allerdings: Der föderale russische Staatshaushalt, der für das Militär verantwortlich ist, speist sich zu einem großen Teil direkt und indirekt aus den Exporten von Energieträgern. Trotz aller Sanktionen dürfte der Devisenzufluss immer noch hoch sein, aufgrund der hohen Gas- und Ölpreise.
Janis Kluge
Stiftung Wissenschaft und PolitikDie ganze Analyse Bystro #34: Kann ein Staatsbankrott Putin stoppen? lesen Sie hier.
8. Inwiefern wenden sich eigene Eliten von Putin ab: Kann es eine Palastrevolte geben, die alles ändert?
Diese Frage betrifft den inneren Zirkel der Macht im Kreml, in den wir letztlich kaum einen Einblick haben. Dennoch ist eine Palastrevolte gegenwärtig sehr unwahrscheinlich: Das politische System hängt an der Person Putin. Er ist der alleinige Entscheidungsträger in strategischen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Die Machtelite im Kreml setzt sich heute vornehmlich aus Jugendfreunden und engsten Vertrauten mit ähnlichen Ansichten und Überzeugungen zusammen. In der Armee, den Sicherheitsorganen und der Staatsduma wird das Vorgehen des Präsidenten, mit sehr wenigen Ausnahmen (zumindest öffentlich) breit unterstützt. Eine organisierte Opposition zur Politik des Kreml existiert nicht, auch keine Masse, die sie tragen würde.
Es gibt zwar einige gewichtige russische Wirtschaftsvertreter, die den Militäreinsatz auch angesichts der harten westlichen Sanktionen kritisch sehen, aber deren politischer Einfluss ist gering. Einer der prominentesten, zumal aus dem erweiterten Umfeld des Präsidenten, ist Arkadi Dworkowitsch als ehemaliger stellvertretender Ministerpräsident, der seit 2018 den Schachweltverband FIDE führt. Nach öffentlicher Beschimpfung als Verräter gab er allerdings den Vorsitz des zentralen russischen Innovationszentrums Skolkowo auf.
Auch gibt es vereinzelte Kritik von Künstlern und aus Kreisen der Wissen- und Studierendenschaft. Doch der Kreml reagiert auf Dissens derzeit mit zunehmender staatlicher Repression und Propaganda. Proteste werden massiv unterdrückt.
Ein Machtwechsel scheint nur unter der Prämisse einer extremen Verschlechterung der militärischen Lage für Russland in der Ukraine oder eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs des Landes denkbar. Vertraute des Präsidenten, darunter Verteidigungsminister Sergej Schoigu und der Sekretär des Sicherheitsrates, Nikolaj Patruschew, könnten in diesem Fall zur Einsicht gelangen, dass der eigene Machterhalt in Russland nur ohne Putin möglich ist. Das könnte zunächst ein Ende des Krieges bedeuten. Aber selbst dann würde der strategische Konflikt zwischen dem Westen und Russland bestehen bleiben.
Alexander Graef
Institute for Peace Research and Security Policy, Universität Hamburg9. Warum kann die NATO nicht einfach die diskutierte Flugverbotszone einrichten, um den Krieg zu beenden?
Eine Flugverbotszone für den ukrainischen Luftraum ist nur auf den ersten Blick eine einfache, erfolgversprechende Idee. Die Implikationen sind jedoch weitreichend und sollten gewissenhaft abgewogen werden: Je nach Staat oder Organisation, welcher oder welche diese Zone einrichtet, könnte damit das Potential für den Ausbruch eines dritten Weltkriegs gegeben sein, mit der Gefahr einer nuklearen Eskalation. Sollte die NATO, wie von der Ukraine gefordert, eine Flugverbotszone einrichten, wäre im Ernstfall eine direkte Beteiligung des Verteidigungsbündnisses am bewaffneten Konflikt zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation gegeben.
Denn die Einigung auf eine Flugverbotszone wäre im Lichte der verheerenden russischen Luftangriffe zwar ein politisches Zeichen, doch müsste sie im Fall der Fälle auch durchgesetzt werden. Das hieße: Wird der für militärische Flugzeuge gesperrte Luftraum verletzt, müssten die NATO oder ihre Mitgliedstaaten militärisch eingreifen. Dies könnte in der Praxis bedeuten, eindringende russische Kampfflugzeuge abzudrängen oder, im äußersten Fall, abzuschießen. Eine effektive Umsetzung einer Flugverbotszone könnte es sogar mit sich bringen, auf russischem Territorium beispielsweise Flugabwehrstandorte anzugreifen. Solche Eingriffe könnten durch Russland als direkte militärische Konfrontation gewertet werden.Häufig wird angenommen, dass eine Flugverbotszone Zivilisten besser schützt. Das aber ist umstritten: Tatsächlich führt sie eher zu einer anderen Art der Kriegsführung. Es wird vermehrt auf Artillerie gesetzt. Beispielsweise wurden auch im Zweiten Golfkrieg 1991, im Libyenkrieg 2011 und im Bosnienkrieg 1992 Flugverbotszonen eingerichtet, doch brachten solche Zonen oft nur mäßigen Erfolg. Beispielsweise kam es trotz Flugverbotszone im Bosnienkrieg zum Völkermord von Srebrenica.
Die verständliche Forderung der Ukraine nach einer No Fly-Zone hat aber zumindest dazu geführt, dass die NATO-Staaten mehr (Luftabwehr-)Waffen in die Ukraine liefern, sodass sie ihren Luftraum selbst verteidigen kann. Solche Waffenlieferungen werden mehrheitlich nicht als Eintrittshandlung in einen bewaffneten Konflikt gewertet, sodass mit dieser Unterstützung der Ukraine bisher keine weitere Eskalationsstufe erreicht wurde.
Anne Dienelt
Institut für Internationale Angelegenheiten, Universität Hamburg
Russland führt Krieg gegen die Ukraine. dekoder stellt die wichtigsten Fragen und Antworten zusammen. Gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern geht es in diesem FAQ darum, fakten- und wissenschaftsbasiert zu erklären und einzuordnen, was man zu Putins Angriffskrieg auf die Ukraine wissen muss.
Stellen Sie uns gern auch Ihre Fragen – per Email unter dekoder-lab@dekoder.org. Wir werden versuchen, mit Expertinnen und Experten aus europäischen Universitäten Antworten darauf zu finden.
Diese Reihe entsteht in Kooperation mit dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin und wird von der Alfred-Toepfer-Stiftung F.V.S. unterstützt.
Veröffentlicht am 22. März 2022
1.Den Medien war zu entnehmen, dass einige Korridore vermint gewesen sein sollen, sodass die Fluchtwege nicht sicher waren. Wenn sich bestätigt, dass eine der Kriegsparteien dafür verantwortlich war, erfüllt das den Tatbestand der Perfidie und ist völkerrechtlich verboten. Auch hieß es, Zivilisten seien beschossen worden. ↑
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FAQ #1: Putins Angriffskrieg auf die Ukraine
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Seit Donnerstag, 24. Februar 2022, führt Russland einen Krieg gegen die Ukraine. In einem FAQ, das Stück für Stück weiter wachsen wird, sammelt dekoder zentrale Fragen zum Krieg und lässt sie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beantworten.
Teil 1: Wie hat Wladimir Putin den Krieg begonnen, und wie rechtfertigt er ihn?
FAQ #2: Wie kann man diesen Krieg beenden?
FAQ #3: Neutrale Ukraine – ein Ausweg aus dem Krieg?
FAQ #4: Kriegsverlauf in der Ukraine1. Wie hat Putin den Krieg begonnen?
2. Wie hat Wladimir Putin die Invasion gerechtfertigt?
3. „Genozid“: Was ist an dem Argument dran?
6. Und warum „Entnazifizierung“? Wird die Ukraine von Nazis regiert?
7. Ich habe noch mehr Fragen zum Krieg – wie kann ich sie loswerden?
1. Wie hat Putin den Krieg begonnen?
Am Morgen des 24. Februar 2022 hat Russland mit dem Überfall auf die Ukraine begonnen. Um sich zu vergegenwärtigen, wie großflächig der Angriff von Beginn an ausgeführt wurde und entsprechend auch so vorbereitet worden war, ist es von Bedeutung, sich das militärstrategische Muster klar vor Augen zu führen: Der erste Tag machte deutlich, dass Wladimir Putins Truppen von Belarus aus versucht haben, die Hauptstadt Kiew zu erreichen, mit dem Ziel, den Regierungssitz des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky zu erstürmen – eingeleitet über eine Luftlandeoperation gegen den nahegelegenen Flughafen Hostomel, der eingenommen werden sollte. Dies ist jedoch am massiven Widerstand der ukrainischen Streitkräfte gescheitert.
Insgesamt erfolgt der russische Einmarsch in die Ukraine entlang von vier Achsen gleichzeitig: Die erste Angriffsachse ist die auf Kiew. Die zweite Achse hat die ostukrainische Metropole Charkiw im Visier. Die dritte Achse zielt auf die Eroberung des restlichen Donbass und die Eroberung der Hafenstadt Mariupol, um damit eine Landbrücke herzustellen in Richtung der Halbinsel Krim, die Russland 2014 annektierte. Die vierte Achse besteht aus Versuchen, von der Krim her den Süden der Ukraine zu erobern und das Land gänzlich von seinen Seegebieten abzuschneiden. Daneben gab und gibt es von Beginn an Luftangriffe gegen militärische und zivile Ziele in praktisch allen Teilen der Ukraine.
Joachim Krause und Stefan Hansen
Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK)
Die Analyse der ersten Kriegstage bis Anfang März des ISPK in voller Länge2. Wie hat Wladimir Putin die Invasion gerechtfertigt?
Putin nutzt vor allem drei Argumente, mit denen er seinen völkerrechtswidrigen Angriff legitim erscheinen lassen will:
Erstens: die NATO-Osterweiterung.
Zweitens: ein „Genozid“ in der Ostukraine.
Drittens: eine militärische Gefahr – so die Behauptung Putins – die von der Ukraine ausgehe, die sich seit mehreren Jahren militarisiert habe und mit NATO-Waffen aufgerüstet worden sei.Die Versuche, seit acht Jahren – gemeint ist seit Annexion der Krim und dem Anfang des Donbass-Krieges – eine diplomatische Lösung zu finden, seien gescheitert. Deswegen habe er, Putin, sich dazu entschlossen, eine „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine durchzuführen, um – in seinen Worten – eine „Entmilitarisierung“ und „Entnazifizierung“ ↓ der Ukraine zu erreichen. Das vorgebliche Ziel: der Schutz der Menschen in der Ostukraine.
Das hat er in zwei Fernsehansprachen unmittelbar vor dem Großangriff auf die Ukraine erläutert. In der ersten hat er die Anerkennung der zwei selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (21. Februar) angekündigt, in der zweiten den Beginn einer „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine (24. Februar).
Beide Ansprachen können als zwei Teile einer Rede verstanden werden: Putin wirft in beiden die gleichen geschichts- und geopolitischen Narrative auf; insbesondere spricht er der Ukraine die eigene Staatlichkeit und Existenzberechtigung ab.
Und doch folgen beide Ansprachen einer jeweils eigenen Logik: Beide Reden haben offensichtlich verschiedene Adressatenkreise. Die erste Rede richtet sich vor allem an die russische Bevölkerung. Sie sollte aber wohl auch die russischsprachige Bevölkerung in anderen Staaten erreichen, vor allem jedoch in der Ukraine. Ihnen gilt die historisierte völkerrechtliche Argumentation1, wenn Putin etwa behauptet, die Ukraine sei ein „integraler Bestandteil unserer eigenen Geschichte“, also Russlands – womit er auf gemeinsame Wurzeln im mittelalterlichen Großreich Kiewer Rus rekurriert.Dies hat den Zweck, der russischsprachigen Bevölkerung den Grund für einen „gerechten Krieg“ gegen die Ukraine darzulegen. Hier erfolgt eine Instrumentalisierung von Geschichte, aber auch von vermeintlichen völkerrechtlichen Argumenten, indem er auf die Schutzbehauptung eines angeblichen Genozids an der russischsprachigen Bevölkerung in den sogenannten Volksrepubliken zurückgreift. Das ist bei Putin Teil einer hybriden Kriegsführung.
Die zweite Rede ist vor allem eine Abrechnung mit „dem Westen“; sie richtet sich an die russischsprachige Bevölkerung, aber sie soll nach allem, was dort zu vernehmen war, auch einen transnationalen Anti-Amerikanismus ansprechen, etwa wenn er glauben machen will, der Westen versuche Russland, „seine Pseudowerte aufzudrängen“, die das Land „von innen zerfressen sollen“. Wobei Russland – behauptet Putin weiter – grundlos zum Feind erklärt worden sei, und mit der Ukraine angeblich eine ständige Bedrohung bestehe, weil – kurz rekapituliert – die NATO als Instrument der USA den Nachbarn militärisch erschließe und ein „Anti-Russland“ geschaffen werden solle.
Letztlich lässt sich aus diesen beiden Reden schließen, dass Putin dem souveränen Staat Ukraine den Krieg erklärt hat – und den Westen verbal mit angreift. Wobei die vergangenen Monate gezeigt haben, dass rhetorische Drohungen bei Putin reelle Handlungsoptionen darstellen können.
Die erste Rede in Auszügen auf Deutsch zum Nachlesen bei Der Spiegel
Die zweite Rede im Wortlaut auf Deutsch zum Nachlesen in der Zeitschrift OsteuropaCindy Wittke
Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)3. „Genozid“: Was ist an dem Argument dran?
Kurz gesagt: nichts. Ein Genozid, ein Völkermord also, ist keine subjektive politische Einschätzung, sondern ein völkerrechtlicher Begriff, der in der „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ der Vereinten Nationen definiert wird. Der Konvention zufolge findet ein Völkermord statt, wenn eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe – unter Vorsatz und gezielt – als solche ganz oder teilweise zerstört wird. Unter „zerstört“ wird unter anderem das Töten von einzelnen Mitgliedern einer Gruppe (Art. II a) genauso wie die Verursachung schwerer körperlicher oder seelischer Schäden an einzelnen Mitgliedern der Gruppe verstanden (Art. II b)2. Belege für einen Genozid, also die gezielte Verfolgung und Auslöschung einer Bevölkerungsgruppe in der Ostukraine, gibt es nicht.
Die Gefechte, die es seit April 2014 in den umkämpften Gebieten zwischen sogenannten Separatisten – die Russland mal verdeckt mal offen als Teil seiner hybriden Kriegsführung unterstützte – und der ukrainischen Armee gab, wurden durch eine OSZE-Sonderbeobachtermission3 begleitet (auch Russland ist Mitglied der OSZE). Bis zu den russischen Angriffen auf die Ukraine hatten die OSZE-Beobachter an der sogenannten Kontaktlinie, also an der Front, Kampfhandlungen und Gefechte sowie die Zahl der Toten und Verletzten dokumentiert und ab 2015 den brüchigen Waffenstillstand überwacht4. Diesem Donbass-Krieg waren den Angaben nach mehr als 13.000 Menschen beider Seiten zum Opfer gefallen, darunter mehr als 3.000 Zivilisten (OSZE-Report). Mindestens 1,5 Millionen Menschen flüchteten in Richtung Russland, rund eine Million Menschen in andere Teile des Landes innerhalb der Ukraine. Putin entwirft mit dem Vorwurf eines „Genozids“ an der russischen beziehungsweise russischsprachigen Bevölkerung wiederholt das Feindbild eines „ukrainischen Nazi-Regimes“.
Am 27. Februar 2022 leitete die Ukraine ein Verfahren gegen Russland vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag ein und ersuchte den Gerichtshof, sogenannte vorläufige Maßnahmen zu erlassen. Die Ukraine legt in ihrem Antrag5 dar, dass der Einmarsch Russlands auf der falschen Behauptung eines Völkermordes beruht und daher mit der Völkermordkonvention unvereinbar sei und die Rechte der Ukraine verletzte. Bei der ersten Anhörung vor dem IGH am 07. März 2022 blieben die Plätze der russischen Seite im Gerichtssaal ohne Stellungnahme leer. Russland scheint sich damit immer weiter außerhalb der internationalen Rechtsordnung zu positionieren.
Cindy Wittke
Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)4. Putin bezieht sich auf den Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen – das Selbstverteidigungsrecht. Geht das?
Der Krieg in der Ukraine ist keine Selbstverteidigung seitens Russlands, sondern ein Angriffskrieg. Putin beruft sich für diesen Angriff, den er selbst als „militärische Spezialoperation“ bezeichnet, zwar auf Artikel 51 in Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen: auf das Recht auf Selbstverteidigung. Doch liegt keinerlei erfüllte Grundvoraussetzung dafür vor.
Dazu muss man wissen: Die Charta der Vereinten Nationen wurde 1945 angesichts der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs formuliert. Die Präambel hält als Ziel fest, „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren“. Artikel 2 der Charta beinhaltet unter anderem das Gewalt- und Interventionsverbot und die Verpflichtung der Staatenwelt zur friedlichen Streitbeilegung. Im Kontext dieses Gewaltverbots ist Artikel 51 der UN-Charta zu sehen, denn er stellt so etwas wie eine letzte Möglichkeit zur Notwehr dar – wenn alle anderen Systeme der kollektiven Sicherheit, die die Staatenwelt seit 1945 aufgebaut hat, zum Beispiel Verhandlungen, als friedliches Mittel, versagen.
Das Recht auf Selbstverteidigung besteht dabei explizit für den Fall, dass ein Staat einem, wie es in Artikel 51 heißt, „bewaffneten Angriff“ durch einen anderen Staat unterliegt. Artikel 51 ist sehr vorsichtig formuliert und legt den Fokus darauf, keinem Staat im Fall der Fälle eine Notwehr abzusprechen.
Mögliche humanitäre Interventionen als Rechtfertigung müssen mit konkreten und massiven Menschenrechtsverletzungen begründet sein (etwa im Fall eines „Genozids“, der in der Ukraine nicht vorliegt) und der herrschenden Meinung nach durch ein Mandat der Vereinten Nationen abgesegnet werden.
Im Gegenteil ist es so, dass die militärische Invasion der russischen Armee von mehreren Seiten in das Territorium der Ukraine unmittelbar das Recht auf Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta gegen Russland auslöst.Cindy Wittke
Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)5. Putin bezeichnet die Angriffe als eine „militärische Spezialoperation“. Aber es ist doch eindeutig ein Krieg – oder nicht?
Ja, das ist ein Krieg. Bei dem Begriff „militärische Spezialoperation“, der rechtlich nicht definiert ist, handelt es sich um eine euphemistische Wortschöpfung, die verdecken soll, dass Russland in der Ukraine de facto einen Krieg führt. Der Kreml platziert den Begriff in den russischen Staatsmedien – und setzt alles daran, das auch mit massiven Repressionen in den letzten verbliebenen unabhängigen Medien des Landes durchzusetzen. Doch ein Krieg bleibt ein Krieg. Mit dem Schritt zum Angriff hat Russland eigenmächtig außerhalb der seit dem Zweiten Weltkrieg bestehenden globalen Sicherheits- und Friedensordnung gehandelt.
Das ist nach der Definition der Vereinten Nationen ein Akt der Aggression6: Es handelt sich um Waffengewalt eines Staates, Russland, gegen einen anderen souveränen Staat, die Ukraine. Wladimir Putin verletzt damit die territoriale Integrität und die Unabhängigkeit der Ukraine – wobei er die völkerrechtlich zugesicherte Unverletzlichkeit des ukrainischen Hoheitsgebiets bereits mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 ignoriert hat. Diese vor acht Jahren begonnene Aggression gegen das Nachbarland hat er am 24. Februar 2022 zu einem großflächigen Angriffskrieg ausgeweitet.
Dass Russland die selbst ernannten Volksrepubliken DNR und LNR – also ukrainisches Staatsgebiet – wenige Tage zuvor einseitig als unabhängige Staaten anerkannt hat, war bereits ein weiterer Völkerrechtsbruch. Die Führung dieser Gebiete bat Russland daraufhin offiziell um militärische Hilfe gegen eine vermeintlich unmittelbar bevorstehende ukrainische Aggression, zudem finde ein „Genozid“ statt. Das war noch ein völkerrechtspolitischer Schachzug, um die Invasion nach einer humanitären Intervention auf Einladung aussehen zu lassen.
Der Kreml scheint hier zudem einem ähnlichen Skript gefolgt zu sein, wie man es bereits im Georgienkrieg von 2008 und bei der Annexion der Krim 2014 gesehen hatte. Damals wurde in beiden Fällen der angeblich notwendige Schutz für eine russische beziehungsweise russischsprachige Bevölkerung proklamiert. So war auch in Georgien explizit die Rede von einem Schutz vor „Genozid“. Im Unterschied zu 2008 und 2014 erstreckt sich der jetzige Krieg nicht nur auf ein militärisches Vorgehen innerhalb der jeweiligen fraglichen Regionen, sondern faktisch auf das gesamte Territorium des Staates, hier der Ukraine.
Cindy Wittke
Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)6. Und warum „Entnazifizierung“? Wird die Ukraine von Nazis regiert?
Nein, die Ukraine wird nicht von „Nazis“ regiert. Wladimir Putin greift damit auf einen in Russland verbreiteten Mythos zurück, in dem die Ukrainerinnen und Ukrainer als eine Nation von angeblich rechtsextremen „banderowzy“ (nach Stepan Bandera, s. u.) verunglimpft werden. Der Vorwurf des Faschismus dient also dazu, Russlands vermeintliche Feinde zu markieren und abzuwerten.
Das Narrativ reicht in die Zeit des Zweiten Weltkrieges zurück und erhielt nach dem Euromaidan von 2013 neue Nahrung. Damals erlangten Rechtsextreme in der Ukraine eine gewisse politische Akzeptanz, weil sie die Protestierenden in Kiew in der gewaltsamen Phase an vorderster Front gegen die Polizei verteidigten. Trotz einigem Einfluss auf den politischen Diskurs konnten sie sich in der Folge aber nicht als ernstzunehmende politische Kraft im Parlament festsetzen: Bei den Wahlen von 2014 erhielt die ultranationalistische Partei Swoboda unter fünf Prozent, 2019 gerade einmal zwei Prozent der Stimmen. Mit der demokratisch gewählten Regierung und der Lebensrealität in der Ukraine hat das nichts zu tun.
Besonders absurd sind Putins Verdrehungen, in der Ukraine herrsche eine Nazi-Regierung, mit Blick auf den ukrainischen Präsidenten: Nicht nur ist Wolodymyr Selensky in einer russischsprachigen jüdischen Familie aufgewachsen, sondern er ist bei den Wahlen von 2019 mit einem explizit nicht nationalistischen Programm angetreten. Während sein Opponent Petro Poroschenko eine nationalistische Kampagne unter dem Slogan Sprache, Glaube, Armee führte, signalisierte Selensky Gesprächsbereitschaft mit Russland und trat als zweisprachiger Versöhner auf. Selbst inmitten des Kriegs sendet er versöhnliche Botschaften an die russische Bevölkerung und verzichtet auf jegliche Dämonisierung der Russischsprachigen im Land.
Trotzdem lässt sich historisch erklären, weshalb die russische Propaganda die ukrainische Regierung ausgerechnet als Nazis und Faschisten verunglimpft. Das Kreml-Narrativ ist aus der Geschichte des Zweiten Weltkriegs abgeleitet, als ukrainische Nationalisten mit den Nazi-Besatzern kollaborierten. Manche nationalistischen Gruppen beteiligten sich am Holocaust und an grausamen Gewaltverbrechen gegen die polnische Bevölkerung der Westukraine. Anführer der nationalistischen Gruppen dieser Zeit, darunter Stepan Bandera, werden bis heute von Teilen der ukrainischen Gesellschaft als Nationalhelden verehrt. Nach dem Krieg leisteten ukrainische Nationalisten der Sowjetherrschaft noch jahrelang Widerstand; die sowjetische Erinnerung an „ukrainische Faschisten“ wirkt in Russland bis heute nach. Das Narrativ vom „Kampf gegen die Faschisten“ findet zudem ganz grundsätzlich Anschluss an den sowjetischen Sieg über den Faschismus im Großen Vaterländischen Krieg 1945 – ein historisches Erbe, dem sich vor allem die ältere Generation in Russland verpflichtet fühlt.
Fabian Baumann
The University of Chicago7. Ich habe noch mehr Fragen zum Krieg – wie kann ich sie loswerden?
Russland führt Krieg gegen die Ukraine. dekoder stellt die wichtigsten Fragen und Antworten zusammen. Gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern geht es in diesem FAQ darum, fakten- und wissenschaftsbasiert zu erklären und einzuordnen, was man zu Putins Angriffskrieg auf die Ukraine wissen muss.
Stellen Sie uns gern auch Ihre Fragen – per Email unter dekoder-lab@dekoder.org. Wir werden versuchen, mit Expertinnen und Experten aus europäischen Universitäten Antworten darauf zu finden.
Diese Reihe entsteht in Kooperation mit dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin und wird von der Alfred-Toepfer-Stiftung F.V.S. unterstützt.
Veröffentlicht am 7. März 2022
1.osteuropa-historiker.de: Stellungnahme des VOH zur Rede des Präsidenten Russlands Vladimir Putin vom 21. Februar 2022 ↑
2.Heidelmeyer, Wolfgang (1997, Hrsg.): Die Menschenrechte: Erklärungen, Verfassungsartikel, Internationale Abkommen, Paderborn etc., S.170; Informationen der Vereinten Nationen zur Konvention: Genocide ↑
3.osce.org: OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine ↑
4.Die OSZE-Beobachter sind nach Angaben von Margareta Cederfelt, Präsidentin der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, mit Beginn des Angriffskriegs vorübergehend aus den Konfliktgebieten gebracht worden, s.: osce.org: The Reinforced Meeting of the OSCE Permanent Council at the Ministerial Level ↑
5.„Die Ukraine bestreitet außerdem nachdrücklich, dass ein solcher Völkermord stattgefunden hat, und erklärt, dass sie den Antrag eingereicht hat, um festzustellen, dass Russland keine rechtliche Grundlage hat, um in der und gegen die Ukraine Maßnahmen zu ergreifen, um einen angeblichen Völkermord zu verhindern und zu bestrafen.“ In dem Antrag beschuldigt die Ukraine Russland außerdem selbst „Akte des Völkermordes in der Ukraine zu planen“. ↑
6.Erarbeitet 1974 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen, in der Anlage zur Resolution 3314 ↑
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