Russland hat ein Müllproblem: Rund 100 Milliarden Tonnen unverarbeitete Abfälle lagern derzeit auf einer Fläche von ungefähr vier Millionen Hektar, was etwa der Größe der Schweiz entspricht. Das sind zumindest die offiziellen Zahlen, die Dunkelziffer dürfte größer sein. Haushaltsmüll macht dabei rund zwei Drittel aus – da allerdings über 90 Prozent davon nicht recycelt wird, wachsen die Müllberge täglich weiter.
Nachdem im Sommer 2017 in der Oblast Moskau massenhaft Deponien stillgelegt wurden, wird der in Moskau anfallende Haushaltsmüll auf die verblieben knapp 20 Halden verteilt. Viele davon platzen aus allen Nähten, in den Städten ringsum klagen Anwohner über giftige Gase, die krank machen.
Am 14. April fanden nun in neun betroffenen Orten der Oblast Moskau Protestveranstaltungen statt. Tausende Menschen gingen zum Geburtstag des Gouverneurs Andrej Worobjow auf die Straßen, um ihn auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Irina Gordijenko und Wlad Dokschin waren für die Novaya Gazeta in der Stadt Serpuchow dabei.
„Vor einigen Tagen hat das Schiedsgericht die Schließung der Mülldeponie Lesnaja angeordnet, gegen die wir seit fast einem Jahr kämpfen. Wir haben vor Gericht Recht bekommen“, die Demonstration in [der Ortschaft Bolschewik bei – dek] Serpuchow eröffnet der Organisator Nikolaj Dishur, ein Abgeordneter im Stadtkreis Tschechow. „Die Deponie muss jetzt unverzüglich geschlossen werden, ich wiederhole: un-ver-züg-lich. Sie ist nun per Gesetz verboten – und wir alle zusammen verkörpern jetzt hier und heute dieses Gesetz. Wir sind eine Macht.“
Durch die Menge geht ein zustimmendes Raunen.
Um die fünftausend Menschen haben sich hier versammelt. Überall schimmern bunte Flaggen, Luftballons, Plakate:
„Hört auf uns zu vergiften!“
„Moskaus Umland ist kein Müllplatz!“
„Worobjow, mach die Müllkippe dicht!“
Auf die größte Zustimmung, die lebhafteste Reaktion bei den Menschen jedoch stößt die Forderung: „Worobjow, ab in den Ruhestand!“
Viele sind mit ihren Kindern gekommen. Überall in der vier Kilometer von Serpuchow entfernten Ortschaft hingen bereits Tage vor der Demonstration riesige Plakate, die die Protestaktion ankündigten. Die Veranstalter hatten die Aktion ursprünglich in Serpuchow selbst durchführen wollen. Doch die dortige Stadtverwaltung hatte das untersagt und stattdessen eine eigene, alternative Demonstration abgehalten unter dem Motto „Mülltrennung“ – mit Musik, kostenlosem Essen und Volksbespaßung in Form von Tauziehen. Doch die Protestkundgebung in Bolschewik hat weitaus mehr Menschen mobilisiert.
Der Gestank erreicht nun auch die Städter
„Ich selbst wohne jetzt in Serpuchow – bei meiner Mutter“, erzählt die Teilnehmerin Tatjana der Novaya [Gazeta – dek]. „Aber unser Haus steht hier, praktisch direkt an der Lesnaja. Vor einem halben Jahr mussten wir es verlassen, weil sich das bei ihr gesundheitlich bemerkbar machte.“ Tatjana nickt in Richtung ihrer fünfjährigen Tochter. „Der Gestank war unerträglich. Früher haben die Städter unsere Proteste gegen die Müllhalde nicht verstanden. Aber vor einem halben Jahr hat der Gestank auch sie erreicht.“
Die Mülldeponie Lesnaja liegt vier Kilometer von Serpuchow entfernt. Drumherum – eine Reihe kleinerer Dörfer. Die Deponie belegt eine Fläche von 33 Hektar. Sie ist damit eine der größten in der Oblast Moskau – und aktuell die einzige im Süden des Gebiets.
„Die Deponie verstößt gegen drei Grundbedingungen: Der Müll wird nicht sortiert, es gibt kein Auffangsystem für das Sickerwasser, und das Wichtigste: Das Limit für die Mülleinfuhr ist längst ausgeschöpft“, erklärt Nikolaj Dishur. „Laut Projektkapazität kann die Halde 300.000 Tonnen Müll pro Jahr fassen. Unseren Berechnungen zufolge landen dort aber momentan übers Jahr rund 1,2 Millionen Tonnen. Innerhalb der letzten zwei Jahre ist der Müllberg auf die Höhe eines zehnstöckigen Hauses angewachsen, das ist mehr als in den ganzen 50 Jahren seiner Existenz. Wir haben ausgerechnet, dass unsere Deponie einen Gewinn von einer Milliarde Rubel [ca. 13 Millionen Euro – dek] abwirft. Und ich bin sicher, dass Gouverneur Worobjow und seine Leute – trotz des Gerichtsurteils – bis zum letzten Moment Widerstand leisten werden. Aber auch uns sollte man nicht unterschätzen.“
Erfolgreicher Hungerstreik
Dishur weiß, wovon er spricht. Im vergangenen Jahr konnten er und seine Mitstreiter die Schließung der Mülldeponie Kulakowo erreichen, in der Nähe der Stadt Tschechow, in deren Stadtduma er als Abgeordneter sitzt. Anfangs hatten die Abgeordneten sich um einen Dialog mit dem Gouverneur Worobjow bemüht und darauf verwiesen, dass die Müllkippe Kulakowo sich bis an die nahegelegene Schule ausgebreitet hat. Nur 480 Meter lagen dazwischen. Dabei schreiben die Gesundheitsauflagen eine Sperrzone von mindestens 500 Metern vor. Das Amt für Umweltnutzung und andere regionale Instanzen behaupteten allerdings stur, die Entfernung bis zum Schulgebäude betrage 501 Meter, es läge also kein Grund vor, die Deponie zu schließen. Daraufhin war eine dreizehnköpfige Initiativgruppe mit Dishur an der Spitze vor Gericht gezogen und am 1. Juni, dem Internationalen Tag des Kindes, in einen unbefristeten Hungerstreik getreten. Die Behörden des Gouvernements wurden sichtlich nervös. Und weil ihre Überredungsversuche nichts brachten, wurde die Mülldeponie Kulakowo zum 1. September im Eilverfahren stillgelegt.
„Die Schließung haben wir zwar erreicht. Aber die Müllkippe wurde einfach brach liegengelassen. Fast ein Jahr ist vergangen, aber allen Versprechen zum Trotz kümmert sich niemand um ihre Rekultivierung. Mit der Lesnaja wird das nicht so laufen. Wir fordern nicht nur die Schließung, sondern auch die Wiederurbarmachung. Andernfalls wird sich das ganze Moskauer Umland zum Protest erheben“, sagt Dishur.
Die Organisatoren der Protestaktionen in den verschiedenen Städten sind gut vernetzt. Außerdem haben Dishur und seine Mitstreiter im vergangenen Jahr die Organisation Bürgerforum registrieren lassen. Sie soll alle unabhängigen Abgeordneten, Stadt- und Bezirksvorsitzenden der Moskauer Oblast vereinen und so gemeinsam die „Interessen der Bevölkerung verteidigen“.
Unter Jubelrufen und Applaus betritt Alexander Schestun die Bühne. Er ist der Vorsitzende der Bezirksverwaltung Serpuchow.
„Noch ist es zu früh für eine Siegesfeier. Aber wir werden für unsere Rechte kämpfen, und wir werden nicht weichen“, sagt Schestun emotionsgeladen in die völlige Stille hinein. „Schauen Sie, Anhänger der unterschiedlichsten Parteien und Bewegungen haben sich hier versammelt. Wir halten zusammen. Ich werde Sie nicht enttäuschen. Jeder von Ihnen erfüllt mich mit Stolz. Danke. Zusammen mit Ihnen fühle ich mich sicher. Ich werde mich von Gouverneur Worobjow nicht unter Druck setzen lassen.“
In der allgemeinen Stille ertönt deutlich eine Frauenstimme:
„Vors Gericht mit ihm!“
Die Menge bricht in tosenden Beifall aus.
Alexander Schestun ist bereits in der dritten Legislaturperiode Vorsitzender des Deputiertenrats im Rajon Serpuchow. Er genießt in der Region tadellose Autorität. Und obwohl Schestun seit Langem in Konflikt mit den Behörden der Moskauer Oblast steht (er ist der einzige unter allen Vorsitzenden der Verwaltungskreise im Gebiet, der sich vehement gegen die Abschaffung der Direktwahl bei Kommunalwahlen wehrt – eine Reform, für die Worobjow lobbyiert), war der Druck auf ihn noch nie so enorm wie seit Beginn der Müll-Krise. Die Regionalverwaltungen werden laufend durchsucht; laut Schestun kommen Drohungen direkt von den Mitarbeitern des FSB und Beamten der Gouvernementsbehörden: Entweder du trittst von deiner Kandidatur bei den kommenden Wahlen zurück und stoppst die Proteste, oder es passiert was.
Malheur für die Regierungspartei
Vor dem Hintergrund der Müll-Proteste geriet [die Regierungspartei – dek] Einiges Russland – genauer, die hiesige Abteilung – in eine Bredouille. Die Jedinorossy im Rajon Serpuchow sind nämlich selbst aktive Teilnehmer der Müll-Proteste. Auf der Demonstration sind neben Flaggen der KPRF, der Anarchisten und von Jabloko auch zahlreiche blau-weiße Flaggen der Regierungspartei zu sehen. Und es ist längst nicht die erste Demo, an der hiesige Parteimitglieder teilnehmen.
Einige Tage zuvor, nach Bekanntwerden der Aufruhr, bekamen die Regionalpolitiker Besuch vom stellvertretenden Regierungsvorsitzenden der Oblast Alexander Kostomarow und von der Gebietsvorsitzenden der Partei Lidija Antonowa. Sie wollten ihre Parteigenossen zur Räson bringen. Doch der Trip war nicht von Erfolg gekrönt. „Leben Sie mal selbst hier auf der Müllkippe“, schlug man den Funktionären vor. Seit Montag, dem 16. April, soll die Abteilung der Partei Einiges Russland im Rajon Serpuchow nun per Eilbeschluss des Parteirats aufgelöst werden.
Die Kundgebung endete mit der Verabschiedung einer Resolution. Die drei Hauptforderungen lauten: Die Deponie ist sofort zu schließen. Die Verwaltung der Moskauer Oblast hat drei Monate Zeit, der Öffentlichkeit einen Rekultivierungs-Plan für die Mülldeponie vorzulegen. Ferner ist ein Plan für den Bau einer Recycling-Anlage zu erarbeiten.
Russland blockiert Telegram: Nach einem Gerichtsurteil am vergangenen Freitag hat die Medienaufsichtbehörde Roskomnadsorgestern mit der Sperrung des Messenger-Dienstes begonnen. Im Zuge dessen wurden hunderttausende IP-Adressen blockiert, darunter auch Cloud-Dienste von Amazon und Google. Auf diese war Telegram zunächst ausgewichen. Dem Urteil ging ein Streit zwischen Telegram und Roskomnadsor voraus über die Herausgabe verschlüsselter Daten.
Auf das Urteil am vergangenen Freitag reagierte die Redaktion des russischen Exilmediums Meduzain ihrem Newsletter mit bewegenden Worten:
[bilingbox]Die Sperrung von Telegram ist eine Attacke auf etwas, auf das das Land stolz sein sollte.
Ein „nationales Gut“ in Russland ist nicht Gazprom, das sich selbst so nennt, sondern Telegram. Wie viele russische Unternehmen kennen wir, die in der dritten Amtszeit von Putin entstanden sind und eine Weltsensation wurden? Wie viele russische Unternehmen haben Erfolg im Ausland, ohne auch nur eine Kopeke aus dem Staatssäckel erhalten zu haben, beziehungsweise ohne den Verkauf natürlicher Rohstoffe zu betreiben?
Die Sperrung von Telegram, das ist ein Schlag gegen die russische Wirtschaft.
Der russische Staat hätte Pawel Durow zu seinem Hauptverbündeten machen sollen, stattdessen erklärte er ihn zum Feind. Dank Durow haben wir VKontakte – ein Soziales Netzwerk, das unter dem Druck von Facebook nicht aufgegeben hat (wie viele davon gibt es noch auf der Welt?). Pawel Durow wurde der Held einer Generation, das ideale Vorbild, einer der berühmtesten Russen – berühmt im Übrigen nur für Gutes.
Die Sperrung von Telegram ist ein Schlag gegen unsere Zukunft.~~~Блокировка телеграма — это атака на то, чем страна должна гордиться. «Национальное достояние» в России — не «Газпром», который так себя называет, а Telegram. Сколько мы знаем российских компаний, появившихся во время третьего срока Путина и ставших мировой сенсацией? Сколько российских компаний добились успеха за рубежом, не взяв ни копейки из государственного бюджета и не занимаясь продажей природных ресурсов? Блокировка телеграма — это удар по российской экономике. Российское государство должно было сделать Павла Дурова своим главным союзником, а вместо этого объявило врагом. Благодаря Дурову у нас есть «ВКонтакте» — соцсеть, которая так и не сдалась под напором Facebook (много ли на земле осталось таких мест?). Павел Дуров стал героем поколения, идеальным примером для подражания, одним из самых известных россиян — причем известных только с лучшей стороны. Блокировка телеграма — это удар по нашему будущему. [/bilingbox]
In ganzer Länge erschien der Newsletter am 13.04.2018unter dem Titel Telegram – nazionalnoje dostojanije (dt. „Telegram – ein nationales Gut“). Das russische Original lesen Sie hier.
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In der Nacht auf Samstag haben die USA, Großbritannien und Frankreich syrische Ziele angegriffen. Diese Vergeltungsmaßnahme der Verbündeten für den mutmaßlichen Giftgaseinsatz in Syrien sollte laut US-Angaben Assad klarmachen, dass er rote Linien überschritten habe. Der russische UN-Botschafter Nebensja kritisierte das „neokoloniale Auftreten“ der Verbündeten, die das Völkerrecht ignorieren würden.
Noch im Vorfeld des Angriffs hatten russische Politiker damit gedroht, dass die Marschflugkörper der Verbündeten abgeschossen würden. Da es vereinzelt auch Stimmen gab, die den Gegenangriff auf US-amerikanische Raketenträger androhten, sprachen einige Analysten schon von einer neuen Kuba-Krise. Doch schließlich reagierte Russland nicht mit militärischen Mitteln – vermutlich auch, weil die Angriffsziele offenbar mit der russischen Seite abgestimmt waren. Umso massiver fällt nun die offizielle russische Kritik aus: Der Giftgasangriff sei nicht bewiesen, der Westen habe gegen das Völkerrecht gehandelt.
Welche Folgen hat der Angriff für die internationale Diplomatie? Und wie geht es nun weiter mit Russland und dem Westen? dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte.
Republic: Kuba-Krise gebannt, Russland geschwächt
Im Vorfeld des Luftschlags sprachen Politiker und Militärexperten schon von einer zweiten Kuba-Krise. Diese Gefahr ist nun zwar vorerst gebannt, Russland geht aus der Krise aber geschwächt hervor, meint der Außenpolitik-Experte Wladimir Frolow auf Republic:
[bilingbox]Russland hat in Syrien den Schlag gegen seinen Alliierten trotz militärischer Präsenz im Land weder verhindern noch abschwächen können – obwohl die lauten Statements die Planung der Operation für die USA etwas erschwert haben. Doch für die anderen Staaten der Region wurde die Schwäche Russlands offensichtlich. Den Anspruch auf die Rolle einer Alternative zum Kraftzentrum der USA und auf die des Sicherheits-Providers im nahen Osten kann Russland nicht erheben.~~~В Сирии Россия не смогла предотвратить или ослабить удар по своему союзнику даже в условиях военного присутствия в стране, хотя громкие заявления несколько затруднили планирование операции для США. Но для других государств региона эта российская слабость стала очевидной. Претендовать на роль альтернативного США центра силы и провайдера безопасности на Ближнем Востоке Россия не может. [/bilingbox]
erschienen am 16.04.2018
Novaya Gazeta: Krise zwischen Ost und West bleibt
„Aufatmen“ heißt es auch in der Novaya Gazeta – der Journalist und Militärexperte Pawel Felgengauer sieht die Eskalation aber noch nicht beendet:
[bilingbox]Kurz, es ist noch mal gut gegangen: Die russischen Militärs in Syrien und die Kampfschiffe im Mittelmeer haben nicht einmal auf Raketen geschossen, geschweige denn auf westliche Flugzeuge und Schiffe. Es wird also wegen Duma weder einen regionalen (innereuropäischen) noch einen globalen Krieg geben.
Aber die Krise zwischen Ost und West bleibt. Gegenseitige Beschimpfungen und Konfrontationen, auch die in Syrien, gehen weiter und werden wahrscheinlich noch an Schärfe gewinnen. Auf syrischem Boden sind amerikanische, französische und britische Spezialeinheiten aufgeschlagen. Und natürlich wollen sowohl Damaskus als auch Moskau als auch Teheran diese Truppen aus Syrien verdrängen.~~~Короче, обошлось: российские военные в Сирии и боевые корабли в Средиземном море даже по ракетам не стреляли, не то что по западным самолетам и кораблям. Не будет из-за Думы ни региональной (общеевропейской), ни глобальной войны.
Но кризис между Востоком и Западом никуда не делся. Взаимная ругань и противостояние, в том числе в Сирии, продолжатся и будут, наверное, еще более ожесточенными. В Сирии развернуты «на земле» силы американского, французского и британского спецназа. И Дамаск, и Москва, и Тегеран, конечно, хотят вытеснить эти силы из Сирии.[/bilingbox]
erschienen am 16.04.2018
Vedomosti: Sieht Assad nun Russlands Schwäche?
Die Vedomosti-Redaktion fragt nach möglichen Gründen für das vergleichsweise vorsichtige Vorgehen der westlichen Verbündeten und nach Russlands neuer Stellung in Syrien. Dabei zitiert sie den Außenpolitik-Experten Wladimir Frolow und den Nahost-Forscher Alexej Malaschenko:
[bilingbox]Es ist möglich, dass Moskaus Drohungen, Raketen abzuschießen und im Falle eines Schlags gegen russische Truppen deren Träger zu attackieren, zur Abmilderung des Szenarios beigetragen haben. Auch die harsche Rhetorik mag den Westen dazu gezwungen haben, vorsichtiger zu Handeln, so Frolow.
Doch nun findet sich Russland in einer schwierigen Situation wieder: Die Erklärung, man sei bereit, auf Anschläge der Koalition nur im Falle einer direkten Bedrohung für russisches Militär und russische Einrichtungen zu reagieren, war unter anderem auch eine Demonstration gegenüber Assad, dass man nicht willens ist, für ihn das Leben der eigenen Staatsbürger einzusetzen. Dies könnte in Damaskus als Schwäche ausgelegt werden, führt Malaschenko an.~~~Возможно, на смягчение сценария сработали угрозы Москвы сбивать ракеты и атаковать их носители в случае, если под ударом окажутся российские военные, жесткая риторика вынудила Запад действовать осторожнее, отмечает Фролов.
Но теперь и Россия оказалась в сложной ситуации: заявления о готовности отвечать на удары коалиции только в случае прямой угрозы российским военным и объектам были в том числе демонстрацией Асаду нежелания рисковать ради него жизнями своих граждан. Это может быть воспринято Дамаском как слабость, отмечает Малашенко.[/bilingbox]
erschienen am 15.04.2018
Kommersant: Völkerrechtswidriges Vorgehen
Russland wird oft wegen Nichteinhaltung des Völkerrechts kritisiert. Das berühmteste Beispiel dieser Kritik war die Angliederung der Krim. Im Interview mit Kommersant dreht nun Sergej Rjabkow – einer von zehn stellvertretenden Außenministern Russlands – den Spieß um:
[bilingbox]Die USA und ihre Verbündeten entfernen sich nicht nur immer weiter vom Imperativ der Einhaltung des Völkerrechts, sondern sogar von ganz schlichten Standards der diplomatischen Kommunikation und der internationalen Praxis. Unserer Meinung nach schaden sie damit nicht nur dem gesamten System der internationalen Beziehungen, sondern auch sich selbst. […] Aber zusammenarbeiten muss man. Und eine der Hauptaufgaben am heutigen Tag ist es, der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) zu ermöglichen, dass sie trotz allem ihre Arbeit tut und Experten nach Duma schickt, um Materialien und Fakten zu sammeln und entsprechende Gespräche zu führen.~~~Мы считаем, что США и их союзники, которые все дальше отдаляются не только от императива соблюдения норм международного права, но и просто даже от стандартных канонов дипломатического общения и международной практики, по большому счету наносят ущерб не только всей системе международных отношений, но и самим себе. […]
Но сотрудничать нужно. И одна из главных задач сегодняшнего дня — это обеспечить для Организации по запрещению химического оружия (ОЗХО) возможность все-таки выполнить свою работу и направить специалистов в (сирийский город — “Ъ”) Думу, чтобы они собрали материалы и факты, провели соответствующие беседы.[/bilingbox]
erschienen am 14.04.2018
Zvezda: Feige Haltung wird Westen zum Verhängnis
Der TV-Sender Zvezda steht dem Verteidigungsministerium nahe. Den Raketenangriff auf Syrien lässt er vom kremlnahen Politologen und Amerikanisten Rafael Orduchanjan kommentieren, der meint, man solle sich jetzt auf Terrorabwehr einstellen:
[bilingbox]Wir sehen gerade eine absolut feige Haltung, die der Westen, vertreten durch Frankreich, England und die USA, vereint an den Tag legt. […] Neue Terroranschläge in Westeuropa stehen unmittelbar bevor – dies nicht genau zu analysieren und zu verstehen, ist schlichtweg ein Verbrechen. ~~~«Мы сейчас видим абсолютно трусливую позицию, которую демонстрирует объединенный Запад в лице Франции, Англии и Америки» […] «Мы стоим в преддверии новых террористических актов в Западной Европе, и не анализировать и не знать это – это просто преступно».[/bilingbox]
Laut Pentagon ist die mission accomplished: Alle 105 Raketen hätten ihre Ziele – Kommandozentrale, Lager und Forschungseinrichtungen für Chemiewaffen – erreicht. Die staatsnahe Izvestia greift dabei eine Meldung des Assad-Regimes auf und behauptet, dass die meisten Raketen der Verbündeten abgeschossen wurden. Die entscheidende Rolle bei der Abwehr des Angriffs habe das russische Militär gespielt:
[bilingbox]Informierte Quellen des Portals iz.ru berichten, dass bei der Abwehr des Angriffs moderne Flugabwehr-Anlagen aus russischer Produktion eine entscheidende Rolle gespielt haben, darunter auch Ausrüstung, die im Laufe der vergangenen Wochen nach Syrien geliefert worden war. In erster Linie geht es hier um die Flugabwehrraketen-Systeme Panzir und BUK. Ein Teil der Geschütze, einschließlich schon früher aus Russland gelieferter Flugabwehrraketen-Systeme der neuen Generation, wurden von syrischer Seite bedient. Jedoch spielten russische Militär-Experten eine entscheidende Rolle bei der Abwehr des Angriffs.~~~Информированные источники портала iz.ru сообщают, что основную роль в отражении удара сыграли современные средства ПВО российского производства, в том числе поставленные в Сирию в течение последних нескольких недель. В первую очередь речь идет о зенитных ракетно-пушечных комплексах «Панцирь» и зенитных ракетных комплексах «Бук». Часть комплексов, в том числе ранее поставленные из России системы нового поколения, управлялась сирийскими расчетами, однако существенную роль в отражении удара сыграли российские военные специалисты.[/bilingbox]
erschienen am 16.04.2018
Facebook/Adagamow: Verteidigungsministerium als Münchhausen
Der bekannte russische Blogger Rustem Adagamow hat auf Facebook rund 180.000 Abonnenten. Die in den Staatsmedien gefeierten Erfolge der russisch-syrischen Koalition quittiert er mit einem Screenshot aus dem bekannten sowjetischen Film Genau jener Münchhausen. Dabei legt er dem Lügenbaron Münchhausen die Meldung des russischen Verteidigungsministeriums in den Mund:
„Die syrische Flugabwehr hat 71 von 103 Raketen erfolgreich abgefangen.“ Verteidigungsministerium der Russischen Föderation
Vorgestern hat Trump Russland gedroht, in Syrien „smarte“ Lenkwaffen einzusetzen. Nicht einmal eine Stunde später ruderte er zurück und sagte, dass es für die USA „easy“ wäre, Russlands darbender Wirtschaft zu helfen. Der Journalist und Militärexperte Pawel Felgengauer erklärt in der Novaya Gazeta, wie ein solcher Deal „Hilfe statt Raketen“ aussehen könnte:
[bilingbox]Die Sanktionen werden „easy“ aufgehoben. Russland bekommt Investitionen und Technologien, und die langjährige wirtschaftliche Stagnation wird dadurch beendet. Dafür muss man [Russland – dek] aber Assad aufgeben genauso wie die Donbass-Republiken. Und wir müssen die Minsker Vereinbarungen vollständig erfüllen. Erst dann werden alle zufrieden sein. Andernfalls werden Raketen abgeschossen. […]
Ja, als man sich in Moskau im November 2016 über Trumps Wahlsieg gefreut hatte, hat man sich einen zukünftigen Pakt, der die Spannungen mit den USA löst, anders vorgestellt. Anscheinend sind gewaltsame Deals grundlegend für Trumps Geschäftserfahrungen, ähnlich wie in Russland. Wenn es um Immobilien geht, dann kann es sein, dass eine solche Art der Übereinkunft funktioniert, und wenn sie es nicht tut – dann schreibt man einfach die Verluste ab und fängt irgendwas Neues an. Im Fall zweier atomarer Supermächte können die Verluste allerdings tatsächlich massiv ausfallen. In den USA sind viele davon überzeugt, dass Trump völlig fehl am Platze ist. Wie gefährlich das [diese Fehlbesetzung – dek] ist, ist nun auch in Moskau angekommen, wo er versucht, Russland gewaltsam zum Frieden zu zwingen.~~~Санкции будут сняты «легко», Россия получит инвестиции и технологии, многолетняя экономическая стагнация закончится, но надо «сдать» Асада. Еще, очевидно, надо «сдать» донбасские республики — безусловно, выполнить Минские соглашения, и всем будет хорошо. В случае отказа — полетят ракеты. […] Да, не таким представлялся будущий пакт с Трампом по глобальному разрешению противоречий с США, когда в Москве радовались в ноябре 2016-го его победе. Но, похоже, в бизнес-опыте Трампа именно такой силовой способ заключения сделок, схожий с российским, — основной. Если дело касается недвижимости, такой способ договариваться может работать, а не выйдет, то потери можно списать и браться за что-то другое. В случае двух ядерных сверхдержав потери могут оказаться вправду капитальными. В США многие уверены, что Трамп попал совсем не на свое место. Теперь, когда он пытается силой принудить Россию к миру, и до Москвы дошло, насколько это опасно.[/bilingbox]
In ganzer Länge erschien der Artikel am 13.04.2018 in der Novaya Gazeta unter dem Titel Tramp samedlennowo dejstwija (dt. „Trump mit Zeitzündung“). Das russische Original lesen Sie hier.
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Nach dem mutmaßlichen Giftgasangriff in Syrien drohte Trump mit einer „starken Reaktion“. Der russische UN-Botschafter Nebensja entgegnete, dass ein Angriff „schwerwiegende Folgen“ haben werde. In The New Times appelliert der russische Militärexperte Alexander Golz an die Vernunft der Verantwortlichen:
[bilingbox]Eine direkte kriegerische Konfrontation, die sich die Militärs Russlands und der USA noch im Februar – nach der Zerschlagung von Söldnertruppen durch die Amerikaner – nicht einzustehen getrauten, ist mittlerweile höchstwahrscheinlich. Die Gefahr wächst um ein Vielfaches, falls nun aus Moskau der Befehl folgt, amerikanische Raketenträger anzugreifen. Es ist klar, dass die vielfache amerikanische Überlegenheit (gewährleistet durch die Flugzeugträgerkampfgruppen der 6. Flotte, die strategische Luftwaffe sowie Stützpunkte auf Kreta, Zypern und in Neapel) Moskau wenig Chancen lässt, einen konventionellen Krieg zu gewinnen. O weh, das bedeutet, dass sehr bald die Verlockung aufkommen wird, mit dem Einsatz von Kernwaffen zu drohen … Da ist sie also, die neue Kubakrise in Zeiten der Postmoderne. Das einzige, was ein winziges bisschen Optimismus einflößt, ist die Hoffnung auf die Vernunft der Militärs, denen sehr bewusst ist, was folgen wird, wenn die Befehle erst ergangen sind.~~~Прямое военное столкновение, признать которое военные России и США побоялись в феврале, после разгрома американцами колонны наемников, сейчас становится весьма вероятным. Опасность возрастает многократно, если из Москвы последует приказ атаковать «носители» американских крылатых ракет. Понятно, что при многократном американском превосходстве (его обеспечивают авианосные группировки 6-го флота, стратегическая авиация, базы на Крите, Кипре, в Неаполе) у Москвы мало шансов победить в обычной войне. Увы, это означает, что очень скоро возникнет соблазн угрожать применением ядерного оружия… Вот он, новый Карибский кризис, эпохи постмодерна. Единственное, что внушает толику (очень малую) оптимизма, так это надежда на разумность военных, которые прекрасно понимают, что последует после того, как приказы будут отданы.[/bilingbox]
In ganzer Länge erschien der Artikel am 10.04.2018 in The New Times unter dem Titel Karibski Krisis 2.0 (dt.„Kuba-Krise 2.0“). Das russische Original lesen Sie hier.
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Die Beweislage im Fall Skripal ist nach derzeitigem Stand der Veröffentlichungen sehr dünn. Dennoch entschlossen sich rund 25 Länder, über 140 russische Diplomaten auszuweisen. Für viele unabhängige Beobachter in Russland ist der Fall klar: Es sei dem Westen nicht so sehr um Skripal gegangen, sondern vielmehr darum, einen Schulterschluss zu demonstrieren. Dieser sei notwendig gewesen, weil der Westen nicht anders auf die ständigen Herausforderungen seitens Russlands zu reagieren wusste. Angliederung der Krim, Krieg im Osten der Ukraine, Abschuss der MH17, Krieg in Syrien, Einmischung in Wahlen und so weiter – dies seien die eigentlichen Ursachen; der Fall Skripal sei nur der berühmte letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, so die Beobachter.
Auch der Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew kann nachvollziehen, warum der Westen trotz dürftiger Beweislage solch drastische Maßnahmen ergreift. Auf Snob meint der kritische Intellektuelle, dass der russischen Außenpolitik eine der wichtigsten Eigenschaften abhanden kommt – ihre Rationalität.
Die kürzliche Ausweisung von 139 russischen Diplomaten aus 24 Ländern ist außergewöhnlich. Besonders wenn man bedenkt, dass es keine Reaktion auf Provokationen dieser Staaten war, sondern ein Zeichen der Solidarität mit Großbritannien, das Russland des Attentats auf den ehemaligen Spion Sergej Skripal beschuldigt.
Derzeit ist es Mode, die aktuellen Ereignisse als einen neuen Kalten Krieg zu bezeichnen – und ich sage schon lange, dass das für die veränderte Form der russischen Beziehungen zum Westen durchaus angemessen ist. Allerdings gehen die Ereignisse mittlerweile womöglich darüber hinaus (oder genauer gesagt, in eine etwas andere Richtung).
Die Ereignisse von 2014 und 2015 in der Ukraine haben den Westen sehr beunruhigt; Putins Auftritte von 2007 und 2008 in München und in Bukarest, der fünftägige Georgienkrieg sowie Moskaus Versuche, seinen Einfluss auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zu festigen und freundschaftliche Beziehungen mit einigen Staatschefs Mitteleuropas auszubauen – das alles passte, zusammen mit dem aggressiven Vorgehen Russlands, sehr gut zu dem früheren Bild.
Verständlich wirkten auch die unterschiedlichen [russischen – dek] Reaktionen: Distanziertheit, Unterstützung der Verbündeten, Konkurrenz und Rivalität an der globalen Peripherie. Über Putin hieß es gemeinhin, er verstehe nur die Regeln eines Nullsummenspiels: Wenn einer Verluste macht, macht der andere Gewinne.
Was hat der Kreml denn erreicht?
Schon seit Mitte der 2010er Jahre hat sich die Situation, wie mir scheint, allmählich verändert, auch wenn es nicht sofort zu bemerken war. Russlands Einmischung in die amerikanischen Wahlen, das Geschäker mit Europas radikalen Rechten, die offenkundige Unterstützung von Kriegsverbrechern wie Assad und der staatliche Terror gegen Regimegegner und Menschen, die Putin selbst oder sein Umfeld als Verräter betrachten – all das deutet nicht nur darauf hin, dass der Kreml keinerlei Regeln mehr anerkennt. Weit wichtiger ist, dass Moskau bei bestimmten Schritten seinen eigenen Nutzen überhaupt nicht mehr im Sinn hat.
Denn was hat der Kreml damit erreicht, dass er in der Geschichte der amerikanischen Wahlen 2016 eine schmutzige Spur hinterlassen hat? In Bezug auf Russland überhaupt nichts: Wer auch immer die Wahlen ohne die russische Einmischung gewonnen hätte – die Beziehungen zwischen beiden Länder wären wohl kaum schlechter, als sie es heute sind. Die einzigen Folgen sind eine übermäßige Anspannung im amerikanischen politischen System und die Verschärfung interner Kämpfe des Establishments in Washington. Und was erreicht der Kreml in Europa, wenn er antieuropäische Kräfte unterstützt und finanziert? Offenbar wiederum eine Destabilisierung.
Der Großteil Europas wird antirussischer werden
Bezeichnend ist, dass allein das Aufkommen der Rechten, sollte es dazu kommen, Russland nichts bringen wird. Die EU wird nicht auseinanderbrechen, nur weniger effektiv werden. Und die proeuropäischen Kräfte werden einfacher argumentieren können, dass sich die Länder des Alten Europa verbünden sollten – wenn nicht für etwas, dann doch gegen jemanden. Und sogar wenn die proputinschen Kräfte hier und da lokale Siege erringen sollten, ändert es nichts an der Gesamtsituation. Der Großteil Europas wird immer antirussischer werden.
Was hat Putin erreicht, indem er in Großbritannien allem Anschein nach mittlerweile etwa ein Dutzend seiner persönlichen Feinde ermorden ließ, die längst aller Möglichkeiten beraubt waren, Russland zu schaden? Man sollte doch meinen, es hätte niemand etwas davon, wenn Russland zum internationalen Outlaw wird.
Der Westen versteht Russland überhaupt nicht mehr – was nicht überraschend ist
Die Reaktion des Westens in Form von einer Ausweisung russischer Diplomaten zeugt von einer neuen Wirklichkeit, die vor allem darin besteht, dass der Westen Russland überhaupt nicht mehr versteht. Was nicht überraschend ist, denn es ist heute tatsächlich völlig unklar, was Putin will. Zum Diktator im eigenen Land werden, das nicht einmal mehr den Anschein einer Demokratie wahrt? Daran hindert ihn der Westen nicht, er versucht es nicht einmal besonders nachdrücklich. Die Sowjetunion wiedererrichten? Nur zu – fraglich ist nur, ob die zentralasiatischen Khans und Bais das wollen, bislang sehen Moskaus Versuche der Integration nicht sehr vielversprechend aus. (Die Ukraine ist ein Sonderfall, hier wäre es allerdings zielführender gewesen, mit dem ukrainischen Volk zu verhandeln anstatt mit Brüssel oder Washington.) In Russland gestohlenes Geld in Europa und anderen Offshores waschen? Ich habe bislang nichts davon gehört, dass russisches Kapital eingefroren oder Eigentum beschlagnahmt worden wäre. Weil der Westen Russland nicht versteht, geht er dazu über, Signale zu senden und anzudeuten, Putin möge doch zur Vernunft kommen: Er soll nicht einmal weniger antiwestlich werden, nur rationaler; vom Himmel auf die Erde zurückkehren, und nach Möglichkeit Chaos innerhalb der eigenen Grenzen anzetteln.
Russland ist deutlich verwundbarer
Der Kreml gibt vor, diese Signale nicht zu verstehen und handelt lieber nach dem Prinzip der „symmetrischen Reaktionen“. Doch was zu Zeiten des Kalten Krieges normal war, ist es heute nicht mehr. In den 1970ern hatten die Mitglieder des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei keine Villen in Südfrankreich und auch keine Firmenkonten in Luxemburg oder Delaware. Russische Betriebe waren nicht Teil von Unternehmen, die im Westen Kredite laufen hatten. Die heimische Industrie konnte die Bevölkerung mit dem Nötigsten versorgen und das, was fehlte, ließ sich über osteuropäische Satellitenstaaten beziehen. Heute ist alles anders. Russland ist deutlich verwundbarer, nicht mal so sehr durch amerikanische Atomraketen als vielmehr durch europäische Wirtschaftssanktionen.
Symmetrische Reaktionen waren brauchbar, als beide Seiten durch Interessen gelenkt waren. Handelt jedoch eine Seite aus einer banalen Kränkung heraus, werden sie kontraproduktiv. Moskau nimmt an, man würde es „hochnehmen“. Aber in Wirklichkeit bedeutet das Signal etwas anderes: Man hat mit dem Kreml nichts zu besprechen, allein die Vorstellung erscheint den meisten unangenehm. Wozu sollte man in dieser Situation in den Ländern der Gegner Botschaften haben, die stärker besetzt sind als die Auslandsvertretungen in den Ländern der treuesten Freunde?
Die Sanktionen sind quasi für immer
Will man auf Grundlage der letzten Schritte des Kreml Analogien finden, so erinnern sie weniger an die Handlungen von Chruschtschow oder Breshnew, als vielmehr an die Experimente aus der Stalinzeit: Als sowjetische Geheimdienste im Ausland [sogenannte – dek] Feinde der Revolution ausschalteten und der Kreml – trotz der nationalsozialistischen Gefahr – von den deutschen Kommunisten verlangte, nicht mit den Sozialdemokraten zu paktieren. Damals schien es, die maximale Destabilisierung der demokratischen Länder könne zu deren Kollaps und damit zur weltweiten Herrschaft des Proletariats führen.
Die Geschichte hat uns eines Besseren belehrt. Der Zusammenbruch der Weimarer Republik hat niemandem so sehr geschadet wie der Sowjetunion. Sollte die europäische Integration scheitern, wird Russland auch diesmal wohl kaum davon profitieren. Vor kurzem noch freuten wir uns über den Brexit, erinnert ihr euch? Gingen davon aus, dass ein selbstständiges Großbritannien die EU-Bürokratie schwächen würde. Allerdings sieht es bisher eher danach aus, als würde die „größere Selbstständigkeit“ des Vereinigten Königreichs seine Entschiedenheit im Vorgehen gegen Moskau verstärken, und Europa (und nicht nur Europa) scheint durchaus geneigt, den „Abtrünnigen“ zu unterstützen.
Ich kann also nur meine frühere Annahme wiederholen: Die Sanktionen gegen Russland sind quasi für immer. Denn anstatt die Ereignisse rational zu betrachten, das Für und Wider abzuwägen und eine Entscheidung zu treffen, die auf Deeskalation zielt, fährt Russland fort zu provozieren, zu lügen und sich herauszuwinden. Dem Westen fällt es schwer, mit militärischen Mitteln darauf zu reagieren, und das möchte auch niemand, deswegen werden die Zeichen der Ächtung immer weiter zunehmen. Darauf sollte sich Russland einstellen – oder anfangen sich zu verändern. Aber damit ist offensichtlich nicht zu rechnen.
Auf Andrej Makarewitsch und seine Band Maschina Wremeni – ein Urgestein der russischen Rockmusik – konnten sich jahrzehntelang breite Teile der Bevölkerung einigen.
Das änderte sich im Frühjahr 2014, als Makarewitsch – noch vor der Krim-Angliederung und dem Krieg im Donbass – vor einer „entfesselten Propaganda“ und einem möglichen Krieg mit der Ukraine warnte. Beim Friedensmarsch zeigte er sich mit einem Peace-Symbol und einer Schleife in den ukrainischen Nationalfarben. Wenig später hing im Zentrum Moskaus ein riesiges Banner mit der Aufschrift „Die Fünfte Kolonne“ – dazu die Gesichter von Makarewitsch, Juri Schewtschuk, Boris Nemzow, Alexej Nawalny und Ilja Ponomarjow.
Die Lage spitzte sich weiter zu, als Makarewitsch im August 2014 ein Konzert in der Ukraine gab – in einem dortigen Lager für Geflüchtete aus den umkämpften Donbass-Gebieten.
Dem Musiker wurde öffentlich „antirussisches“ Handeln vorgeworfen, Politiker sprachen von „Kooperation mit Faschisten“, in staatsnahen Medien erschienen Beiträge und Sendungen wie 13 Freunde der Junta, die Makarewitsch als Volksverräter darstellten, und das Netz füllte sich mit Hasskommentaren über den Musiker.
Die Shitstorms gegen Makarewitsch nehmen auch vier Jahre später kein Ende, wie ein aktueller Vorfall zeigt, in den sogar Außenamtssprecherin Maria Sacharowa involviert ist. Diesen kommentiert Oleg Kaschin auf Republic und fordert: Lasst den Klassiker in Ruhe!
Bevor ihr jemanden vom Dampfer der Modernität werft, denkt an seine Bedeutung für die Kultur unseres Landes – möglicherweise wiegt sie schwerer als die Worte und Taten, für die ihr ihn bestrafen wollt.
Natürlich ist es in Zeiten von Harvey Weinstein und Kevin Spacey merkwürdig, das zu sagen. Am nächsten an Weinstein und Spacey dran scheint in unserem Kontext der Abgeordnete Sluzki, doch nein, eine lineare Logik greift hier nicht. Sluzki steht eine Untersuchung in der Staatsduma bevor, aber sonst wohl erstmal nichts; zumindest gibt es bisher keinen Anlass zu sagen, dass alle gegen Sluzki wären. Klar, da sind diese drei Journalistinnen, da sind ein paar ihrer Kollegen, die sogar vor der Duma protestierten oder wie Sergej Dorenko zum Boykott aller Nachrichten mit Sluzki aufriefen.
Hingegen hat Wjatscheslaw Wolodin bereits Partei für den der Belästigung Beschuldigten ergriffen, und Duma-Kollegen, also Leute, die das Disziplinarverfahren gegen Sluzki durchführen werden, äußern sich nicht negativ über ihn. In diesem Sinne ist er von Weinstein offenbar noch meilenweit entfernt.
Weniger davon entfernt ist Andrej Makarewitsch. Der Vergleich mag weit hergeholt erscheinen, aber im Grunde ist es so: Den Platz, den in westlichen Gesellschaften sexuelle Belästigung einnimmt, besetzt bei uns echter oder (öfter) angeblicher Antipatriotismus.
Die Rolle einer gesellschaftlichen Naturgewalt, die Makarewitsch auf die Unzulässigkeit seiner Worte hinweist, spielen die loyalistische Presse und einige offizielle Personen. Darunter auch Maria Sacharowa vom Außenministerium. Ihren Bemühungen ist es zu verdanken, dass ein beiläufiger Facebook-Kommentar ordentlich eingedampft wurde. Wörtlich hieß es da: „Mir scheint, die staatliche Propaganda hat ein 25. Einzelbild erfunden, das die Menschen wahrhaftig in boshafte Deppen verwandelt“ und daraus wurde dann: „Makarewitsch nannte die Russen boshafte Deppen.“ Ausgerechnet dank jenen, die sich derart ereifern, wurde dieser Satz dermaßen ungeheuerlich und unzumutbar, als hätte Makarewitsch Russland den Krieg erklärt, und nicht nur erklärt, sondern sofort auf Kreml, Christ-Erlöser-Kathedrale und noch auf irgendeinen Kindergarten das Feuer eröffnet.
Als Zielscheibe staatlicher und staatsnaher Kritik steht Makarewitsch nicht alleine da – die Propaganda fällt in Russland regelmäßig über Leute her, die etwas gesagt haben, was irgendwie daneben war. Das letzte prominente Beispiel war die „Kraft, Unverschämtheit und Grobheit“ des Schauspielers Alexej Serebrjakow [Hauptdarsteller in Leviathan – dek].
Aber das Lieblings-Angriffsobjekt ist Makarewitsch, der die Macht der loyalistischen Missbilligung erstmals 2014 zu spüren bekam, als die Hetzjagd auf ihn begann für seinen Auftritt im Frontgebiet im Donbass, das von den ukrainischen Streitkräften kontrolliert wurde. Innerhalb von vier Jahren wurde Makarewitschs Image durch die Bemühungen von kremltreuen Medien und Aktivisten ernsthaft korrigiert – er ist nicht mehr unser Mick Jagger, kein ehrwürdiges Rock-Urgestein, sondern eher ein moderner Galitsch: für die einen Feind und ausgekochter Anti-Sowok, für die anderen, im Gegenteil, das Gewissen der Nation. In jedem Fall aber vor allem eine politische Figur, die vor einer einfachen Entscheidung steht – entweder durchhalten bis zum Zusammenbruch des Regimes, und dann am Tag der Bestattung der russischen „Himmlischen Hundertschaft“ am Roten Platz irgendwas Trauriges singen oder still und heimlich abziehen und seine Bürger-Lyrik einem immer größer werdenden Exilpublikum präsentieren. Klar ist die zweite Variante ungleich wahrscheinlicher und realistischer als die erste, doch eine dritte gibt es offenbar einfach nicht mehr (obwohl es sie ja gerade noch gab – vor nur zehn Jahren sang Makarewitsch bei der Inauguration Dimitri Medwedews und musste sich gegen Angriffe der liberalen Öffentlichkeit verteidigen).
Es geschieht ein furchtbares Unrecht, wenn das Schicksal eines unbestrittenen Klassikers der heimischen Popmusik formal in die Hände der Jungs von Lenta.ru und der Mädels von NTW gerät. Die Band Maschina Wremeni wird kommenden Frühling fünfzig, mit ihren Songs sind tatsächlich mehrere Generationen aufgewachsen (Nasche obschtscheje detstwo proschlo na odnich bukwarjach/dt. „Wir haben als Kinder alle aus der gleichen Fibel gelernt“). Man kann sie durchaus als einzigartige kulturelle Institution bezeichnen – wenn schon nicht wie das Bolschoi-Theater, so doch mindestens wie das Alexandrow-Ensemble, und eine solche Institution hat in jedem Fall eine sorgsame Behandlung verdient.
Tun wir doch nicht so, als würden beiläufige Kommentare auf Facebook tatsächlich jemanden kränken. Das sieht mir eher nach dem Testlauf irgendwelcher Medientechnologien aus, nach der Konstruktion eines Skandals aus dem Nichts, einer Mobilisierung der öffentlichen Meinung. Gut, offenbar braucht ihr solche Experimente, wie man längst erkennen kann, seid ihr ganz versessen auf Informationskriege. Aber was veranlasst euch, gerade mit diesem Menschen zu experimentieren, einem altehrwürdigen Künstler? Wenn er dadurch einen Herzinfarkt erleidet, wie gut schlaft ihr dann noch, wie lebt ihr dann überhaupt weiter?
Man kann darüber diskutieren, ob das Fernsehen seine Zuschauer zu boshaften Deppen macht, aber es steht völlig außer Frage, dass konkret Andrej Makarewitsch einen solchen Umgang nicht verdient, und sich ihm gegenüber so zu verhalten, wie seine Ankläger es tun, ist reinste, destillierte Niedertracht. Rein formal ist nicht bekannt, ob diese Niedertracht einen konkreten Autor hat. Sie verteilt sich auf beliebte Online-Publikationen, Boulevardblätter, staatliche Fernsehsender und öffentliche Personen, die es anscheinend nötig haben, Makarewitsch einen Tritt zu versetzen. Aber all diese Medien und all diese Personen eint, dass jeder von ihnen durch einen einzigen Anruf aus dem Kreml zu stoppen wäre.
Sergej Kirijenko, der 1999 beim Wahlbündnis Union der rechten Kräfte (SPS) die Liste anführte, sollte sich daran erinnern, wie während der Wahlkampfes gerade Maschina Wremeni Konzerte zur Unterstützung der SPS gab und in den TV-Wahlspots sang – wahrscheinlich für Geld, aber Kirijenko hat ja dieses Geld investiert, weil er dachte, gerade die Stimme Makarewitschs (und nicht etwa Kobsons) sei imstande, ihm die Stimmen der Wähler zu bringen.
Die russische Gesellschaft und vor allem jener Teil, um den es beim Thema Hetze gegen Makarewitsch geht, befindet sich derzeit nicht in einem Zustand, wo man auf ihre Klugheit und Nachsicht zählen könnte. Daher hätte es keinen Sinn, Makarewitschs Äußerung und ihre Unzulässigkeit inhaltlich zu erörtern – die Wahrheit kommt derzeit oft nicht im Disput ans Licht, sondern in direkten Anweisungen.
So wendet man sich besser direkt an Kirijenko und seine Kollegen: Zeigt Gewissen, gebietet der Jagd auf Makarewitsch Einhalt, und lügt nicht, dass ihr das nicht könnt.
Das Lied „Marionetten“ aus dem Jahr 1974 war in der Sowjetunion verboten. Erst während der Perestroika wurde es auf der Compilation „Zehn Jahre später“ veröffentlicht
Ende Februar 2014 , direkt nach den Ereignissen auf dem Maidan und noch vor der Angliederung der Krim, äußerte sich Andrej Makarewitsch in einer Kolumne, die auf Snob erschien. Diese Äußerungen bilden den Anfang der Demontage, der der Frontmann der Gruppe Maschina Wremeni laut Oleg Kaschin bis heute ausgesetzt ist und die im obigen Text kommentiert wird.
Deutsch
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Über die Widerwärtigkeit
Ich mache mir Sorgen ob der Ereignisse in der Ukraine. Aber noch mehr Sorgen bereitet mir das, was in diesem Zusammenhang bei uns geschieht. Ich habe schon Eindruck, dass unsere Staatsmacht denkt: Das Land, das Volk – das sind die, die regieren. Wenn ein Herrscher jedoch nicht auf sein Volk hört und er ihm darüber hinaus Gewalt antut, so wird das Volk ihn wegfegen. Insofern hat in der Ukraine eine ganz typische Revolution stattgefunden. Und bei all meiner Abscheu gegenüber Revolutionen, kann ich sie nicht als ungerechtfertigt bezeichnen. Jetzt kann man, soviel man will, mit den Flügeln schlagen oder die aufständischen Bürger als „braune Pest“ bezeichnen – es sieht einfach widerwärtig aus.
An eine solch entfesselte Propaganda und einе solche Menge von Lügen kann ich mich seit den besten Breshnew-Zeiten nicht erinnern. Und das lässt sich auch gar nicht vergleichen: Damals gab es viel weniger Möglichkeiten. Leute, was wollt ihr denn bloß? Ein öffentliches Klima schaffen für den Truppen-Einmarsch in das Gebiet eines souveränen Staates? Die Krim abhacken?
Das Zentralkomitee der KPdSU hatte sich vor der Entsendung von Truppen in die Tschechoslowakei nicht mit dem Volk abgestimmt. Und was war, außer dass sie sich vor der ganzen Welt bloßgestellt haben? Heute sind dort zwei Länder statt einem. Und was ist mit dem einen und dem anderen? Haben wir ihre Liebe gewonnen? Oder sonst irgendwas?
Es ist ja bereits gelungen, eine ziemlich große Masse von Idioten und Unbelehrbaren mit instabiler Psyche zu Zombies zu machen. Mit der Waffe in der Hand reißen sie sich schon darum, die russischsprachige Bevölkerung zu retten – als hätte sie darum gefleht. Und sie hat es tatsächlich geglaubt. Mensch, ihr Fernsehmacher, was wollt ihr denn bloß? Auf lange Zeit die Völker entzweien, die Seite an Seite leben? Das gelingt euch. Aber wisst ihr auch, wie das endet? Wollt ihr einen Krieg mit der Ukraine? Genau wie mit Abchasien wird das nicht klappen: Die Leute auf dem Maidan sind schon abgehärtet und wissen, wofür sie kämpfen: für ihr Land, für ihre Unabhängigkeit. Und für wen wir? Für Janukowitsch?
Mensch, Leute, warum habt ihr ihn in Russland versteckt? Ein ehrlicher Mensch wird keine Verbrecher und Diebe decken. Ein Dieb schon. Warum bringt ihr euch vor der Menschheit in Verruf? Ich weiß, es ist euch scheißegal, aber trotzdem?
Natürlich wurden in der Ukraine zahlreiche Dummheiten begangen – mit der russischen Sprache, mit dem Abriss von Denkmälern. Aber es ist unvermeidbar, dass eine Revolution von solchen Dummheiten begleitet wird – eine gespannte Feder entlädt sich in die Gegenrichtung. Aber danach findet alles seinen Platz – Dummheit kann nicht ewig dauern.
Mensch, Leute, wir müssen mit denen leben. Wie bisher in Nachbarschaft. Und nach Möglichkeit in Freundschaft. Und wie sie leben, das entscheiden sie selber.
Oder habt ihr Lust zu schießen? Es heißt, Patriotismus stärkt und festigt.
Wenn aus und über Russland berichtet wird, so geht es meist um Moskau oder St. Petersburg: Hier werden die großen Geschäfte gemacht, die große Politik und zweifellos auch großartige journalistische Texte. Doch Russland, dazu reicht ein Blick auf die Karte, ist natürlich sehr viel mehr. Ein Moskauer Roofer, eine Altgläubige im tiefsten Nirgendwo von Sibirien und Lehrerinnen in der Taiga mögen zwar im selben Land leben – doch sie leben in Realitäten, die unterschiedlicher kaum sein könnten.
Um dieser Vielfalt ein wenig gerechter zu werden, übersetzen wir auf dekoder regelmäßig auch große und kleine Geschichten aus den Regionen Russlands. Die besten daraus sammeln wir in dieser Karte:
Es war eine konzertierte Aktion: Am Dienstag haben die USA, Kanada und mehrere europäische Länder russische Diplomaten ausgewiesen. Fast 150 Personen sind betroffen, in 26 Ländern, darunter 15 EU-Staaten. Dies ist eine Reaktion auf den Giftanschlag auf den Ex-Doppelagenten Skripal in Südengland. Das Auswärtige Amt begründete die Ausweisungen damit, dass Russland nicht zur Aufklärung des Falls beitrage. Die Entscheidung sei nicht leichtfertig getroffen worden, aber man wolle nun „Entschlossenheit“ signalisieren. Allerdings wurden auch im Westen die Maßnahmen mitunter kritisch kommentiert, zumal es keine Beweise gibt, dass Moskau tatsächlich hinter dem Giftanschlag auf den Ex-Doppelagenten steckt. Moskau kündigte an, die Ausweisungen würden nicht folgenlos bleiben. Bislang steht eine russische Reaktion noch aus.
Sind die Ausweisungen eine wichtige diplomatische Reaktion auf russische Herausforderungen seit 2014? Oder droht nun eine weitere Eskalation, die am Ende noch die Falschen trifft? dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte in russischen Medien.
Rossijskaja Gaseta: Schlimmer als Kalter Krieg
Der Außenpolitik-Experte Fjodor Lukjanow scheut in der Regierungszeitung Rossijskaja Gasetaden Vergleich mit dem Kalten Krieg – die Situation sei derzeit wesentlich unberechenbarer:
[bilingbox]Die Verwendung des Ausdrucks „Kalter Krieg“ ist im Grunde ziemlich riskant. Nicht weil das eine Übertreibung wäre – vom Geist und der Atmosphäre her stimmt das alles, der Grad gegenseitiger Entfremdung ist komplett. Aber der der alte Terminus bezieht sich auf eine Situation, die vierzig Jahre zurückliegt, die sehr viel verständlicher und kontrollierbarer war, die ziemlich klaren Verhaltensregeln unterworfen war, formellen wie informellen.
Aktuell ist das völlig anders, Symmetrie ist per Definition unmöglich (die ganze Welt ist voll von Asymmetrien; die jetzige multilaterale Ausweisung [von Diplomaten – dek], bei der völlig unklar ist, wie man darauf angemessen reagieren soll, ist der beste Beweis dafür). Die Verantwortungslosigkeit der öffentlichen Erklärungen lässt einen völlig ratlos zurück. Das heißt, tatsächlich ist die Lage wesentlich schlechter.
Wenn man die Spezifika der modernen Welt berücksichtigt, ist zu erwarten, dass die Wirtschaft den hauptsächlichen Schauplatz darstellen wird. Für ein neues Bündel Sanktionen ist also praktisch schon gesorgt bis hin zu Versuchen finanzieller Erdrosselung im Stile der Maßnahmen gegen den Iran (Gruß oder eher Tschüss an das berüchtigte SWIFT-System).~~~Вообще, употребление самого понятия "холодная война" довольно рискованно. Не потому что это преувеличение – по духу и атмосфере все так и есть, степень взаимного отчуждения полнейшая. Но прежний термин отсылает к ситуации сорокалетней давности, которая была намного более понятной, управляемой и подчинялась довольно четко определенным правилам поведения – формальным и неформальным. Сейчас ничего этого нет, симметричность невозможна по определению (весь мир состоит из сплошных асимметрий и данная многосторонняя высылка, где непонятно, как вообще правильно реагировать, тому убедительное свидетельство), а безответственность публичных заявлений вызывает настоящую оторопь. Так что на деле обстановка существенно хуже. Стоит ожидать, что основным полем – с учетом специфики современного мира – будет экономика, так что новый веер санкций практически обеспечен, вплоть до попытки финансового удушения в стиле мер против Ирана (привет, точнее, пока, пресловутый SWIFT).[/bilingbox]
erschienen am 26. März 2018
Facebook/Alexander Morosow: Zivilgesellschaft als Zielscheibe
Der kremlkritische Journalist Alexander Morosow warnt auf Facebook davor, dass die Reaktion Moskaus nun genau die Falschen treffen könnte:
[bilingbox]Für die meisten europäischen Länder ist es eine symbolische Geste, weil jeweils drei bis vier Menschen ausgewiesen wurden. […] Der „symbolische Charakter“ ändert aber nichts daran, dass Moskau reagieren wird – das alles ist wie ein Schneeball, der in den letzten Jahren immer schneller größer wird.
Deshalb kann man nun alles erwarten: sowohl Restriktionen im wissenschaftlichen und studentischen Austausch als auch gegenüber den Vertretungen zivilgesellschaftlicher Organisationen europäischer Länder in Russland, von denen auch schon davor viele ihre Büros aus Moskau abgezogen haben. Das wird ein neue lange Etappe der Konfrontation.~~~Для большинства европейских стран – это символический жест, поскольку выслали по 3-4 человека. […] Но "символический характер" ничего не меняет, поскольку Москва будет отвечать – и все это как снежный ком, быстро нарастает в последние годы. Поэтому ждать можно чего угодно и в сфере ограничения научного и студенческого обмена, и в отношении представительств гражданских организаций европейских стран в России – уже и ранее многие вывели свои офисы из Москвы, – а теперь будет новый длинный этап конфронтации.[/bilingbox]
erschienen am 26. März 2018
Rosbalt: Mauer des Unverständnisses
Die Debatte ist in Russland überschattet vom Großbrand im westsibirischen Kemerowo: Nur einen Tag danach erfolgten die Diplomatenausweisungen. Der Politikwissenschaftler Iwan Preobrashenski stellt auf Rosbalt fest, dass dies in westlichen Medien kaum Thema ist:
[bilingbox]Tatsächlich war früher alles deutlich anders. Zum Beispiel hat die Tragödie von Beslan Europa buchstäblich erschüttert, obwohl der Großteil der westlichen Presse Russland hart verurteilte für den Krieg in Tschetschenien. Für die Kinder aus Beslan gibt es heute Denkmäler in Europa, und die Erinnerung an diese Tragödie ist lebendig. Über die in Flammen gestorbenen Kinder aus Kemerowo erfahren viele Europäer aber schlicht nichts, weil in der Zwischenzeit eine Mauer des Unverständnisses, der Angst und des Misstrauens zwischen Russland und Westeuropa gewachsen ist.~~~Раньше, надо отметить, все было заметно иначе. Например, трагедия Беслана буквально потрясла Европу, и это несмотря на то, что ранее западная пресса в большинстве своем жестко осуждала Россию за войну в Чечне. Памятники детям Беслана есть сегодня во многих европейских странах и память об этой трагедии жива. А вот о сгоревших кемеровских детях многие европейцы видимо просто не узнают, потому что между Россией и западной частью европейского континента выросла за эти годы стена непонимания, страха и недоверия.[/bilingbox]
erschienen am 26. März 2018
Izvestia: Spektakel der Theresa May
In der kremlnahen Izvestia sieht Politologe Jewgeni Krutikow das Vorgehen als außenpolitisches Ablenkungsmanöver einer innenpolitisch angeschlagenen Theresa May:
[bilingbox]Wahrscheinlich wird es irgendeine Fortsetzung geben, ein Einfrieren irgendwelcher „toxischer“ russischer Vermögen. Doch das wäre das Höchstmaß des Spektakels einer Theresa May, die es nicht geschafft hat, eine Margaret Thatcher zu werden. Sie hat keine weiteren Möglichkeiten in petto. Nun, dann kommt Prinz Harry eben nicht zur Fußballweltmeisterschaft nach Moskau, dafür werden die Engländer mit großer Wahrscheinlichkeit die Vorrunde nicht überstehen. Sie sorgen sich schon jetzt um „die Sicherheit ihrer Familien“ in Moskau, die Ärmsten. Nun, dann fragen Sie mal Ihre Premierministerin, warum sie in der Welt Dummheit und Inkompetenz verbreitet.~~~Возможно, последует некое продолжение в виде ареста каких-то «токсичных» российских активов. Но всё это максимум того спектакля, который разыгрывается с подачи так и не ставшей Маргарет Тэтчер Терезы Мэй. Никаких дальнейших шагов в ее арсенале нет. Ну не приедет принц Гарри в Москву на чемпионат мира по футболу, так и англичане, скорее всего, из группы не выйдут. Они уже сейчас переживают «за безопасность своих семей» в Москве, бедняжки. Ну так и спросите со своего премьер-министра, зачем она разгоняет по миру глупость и некомпетентность.[/bilingbox]
erschienen am 26. März 2018
Facebook/Maria Sacharowa: Alle für einen, der eine für keinen
Außenamtssprecherin Maria Sacharowa wundert sich auf Facebook über so viel europäische Solidarität mit den Briten – angesichts des Brexit:
[bilingbox]Wenn London nicht mehr in der EU ist, wird es nicht nicht mehr an Verpflichtungen im Rahmen des einheitlichen außenpolitischen Kurses gebunden sein. Wenn es will, beginnt ein Spiel der Annäherung, wenn es will, entfernt es sich. Tja, und die in der Europäischen Union verbleibenden Staaten werden weiterhin gebunden sein an die Sippenhaft der antirussischen Solidarität, die ihnen seinerzeit von den Briten aufgehalst wurde. Alle für einen, der eine für keinen – das ist die neue Devise, die Brüssel von London geschenkt bekommen hat.~~~Когда Лондон из ЕС выйдет, его ничто не будет связывать обязательствами в рамках единого внешнеполитического курса. Захочет — начнет игру на сближение, захочет — на удаление. А вот оставшиеся в Европейском союзе страны так и будут связаны круговой порукой антироссийской солидарности, навязанной когда-то британцами. Один их всех, и все под одного — новый девиз, подаренный Лондоном Брюсселю.[/bilingbox]
erschienen am 26. März 2018
RBC: Angestauter Ärger
Die Politologin Tatjana Stanowaja sieht auf RBC die diplomatische Reaktion des Westens dagegen nicht allein als Reaktion auf den Fall Skripal:
[bilingbox]Die Ausweisung der Diplomaten sollte nicht zu sehr als Reaktion auf die Ereignisse von Salisbury gesehen werden, sondern vielmehr als angesammelte Verärgerung und Besorgnis bezüglich Russlands in Post-Krim-Zeiten. Die Ausweisung der Diplomaten ist nur der Anfang eines tiefgreifenden Prozesses, in der der außenpolitische Einfluss Russlands vom Westen kanalisiert wird und das Land [Russland – dek] sich als Reaktion darauf selbst isoliert.~~~Высылку дипломатов следует понимать не столько как ответ на события в Солсбери, а как проявление накопившегося раздражения и опасений, связанных с Россией посткрымского периода. Высылка дипломатов — только начало более глубокого процесса канализации Западом внешнего влияния России и ответной самоизоляции страны.[/bilingbox]
Es ist eine Tragödie: Der Großbrand in einem Einkaufszentrum im westsibirischen Kemerowo hat mehr als 60 Menschenleben gefordert – darunter viele Kinder. Die genauen Gründe für den Brand sind unklar, klar ist aber, dass hier Verschiedenes zusammengekommen sein muss. Zum einen stellten Behörden gravierende Verstöße gegen Bau- und Nutzungsrechte fest, es mangelte eklatant an Sicherheitsvorkehrungen, noch dazu soll ein Wachmann nach Ausbruch des Brands den Alarm ausgeschaltet haben. Von Korruption ist in Sozialen Netzwerken die Rede, als Präsident Putin Kemerowo am Dienstag besuchte, sprach er von „krimineller Nachlässigkeit und Schlamperei“. Ein großes Misstrauen in die Behörden, aber auch der Umgang der lokalen Politiker mit der Katastrophe, schürt die Wut und Trauer der Menschen nach dem Brand im Einkaufszentrum Simnjaja Wischnja. Viele trauen den offiziellen Angaben über die Opferzahlen nicht, es kursieren Gerüchte, die Zahl der Toten sei weit höher.
Gouverneur Aman Tulejew entschuldigte sich zwar bei Putin – aber nicht bei den Opfern der Brandkatastrophe. Zu einer Demonstration in Kemerowo kam nicht der Gouverneur, sondern sein Stellvertreter Sergej Ziwiljow. Unter dem Druck der Menge fiel er schließlich auf die Knie, unter Pfiffen und Buhrufen. Auf der Kundgebung sagte er unter anderem auch: „Ich bin ernannt, ich bin nicht gewählt.“ Staatliche Fernsehsender berichteten über den Besuch Putins, aber kaum über die rund 5000 Demonstranten in der Stadt am gleichen Tag. Doch die Anteilnahme im ganzen Land am heutigen Mittwoch, einem offiziellen Tag der Trauer, ist sehr hoch. In Moskau etwa gab es schon am Vorabend Trauer- und Solidaritätsbekundungen auf zentralen Plätzen der Stadt.
Nach der Brandkatastrophe in Kemerowo werfen dabei gerade unabhängige Medien viele Fragen auf: Nicht nur nach der Kluft zwischen Politik und Volk, wie sie derzeit, kurz nach den Wahlen, viele empfinden. Sondern auch Fragen nach der Kluft zwischen Russland und dem Westen. Darunter fällt auch die Ausweisung zahlreicher russischer Diplomaten, zu der es im Zusammenhang mit dem Fall Skripal kam – nur einen Tag nach der Katastrophe in Kemerowo.
Update (25.03.2019): Laut offiziellen Zahlen starben bei der Brandkatastrophe in Kemerowo 60 Menschen, darunter 37 Kinder. Als Ursachen gelten derzeit Fahrlässigkeit der Einkaufszentrums-Betreiber, Verstoß gegen Brandschutzvorkehrungen und Korruption. Seit einigen Monaten läuft ein Ermittlungsverfahren gegen insgesamt 15 Verdächtige.
[Am Dienstag, 27. März – dek] gegen 10 Uhr treten der stellvertretende und der Vize-Gouverneur der Oblast Kemerowo Wladimir Tschernow und Sergej Ziwiljow vor die Menschenmenge.
„Wollen wir hier herumbrüllen oder sprechen?“, fragt Ziwiljow laut.
„Wir wollen Fragen stellen!“, ruft ein Mensch in der Menge. „Warum mussten die Menschen sterben?“
„Tatsächlich eine interessante Frage“, antwortet Ziwiljow gelassen. „Um sie zu beantworten ist eine Sonderermittlungsbrigade aus Moskau hergeschickt worden.“
Ein Pfeifkonzert geht los.
„Wieviel Menschen sind umgekommen?“
„64.“
Die Menge reagiert mit wütendem Gebrüll. Die offizielle Zahl glaubt hier niemand. Die Menschen wiederholen Mal um Mal ein und dieselben Gerüchte – es gebe 150 bis 400 [Tote]. Dass die Leichenhallen überfüllt seien und die Toten in einem Kühlhaus-Kombinat versteckt würden. Dass auf dem Südfriedhof von Kemerowo bereits 200 neue Gräber ausgehoben seien. Dass eine ganze Schulklasse aus dem Dorf Treschtschewski gekommen sei, 30 Kinder, und sie alle verbrannt seien. (Uns haben Menschen aus Treschtschewski gesagt, dass im Einkaufszentrum Simnjaja Wischnja [dt. Winterkirsche] fünf Fünftklässlerinnen verbrannt seien – N.G.)
Anscheinend spürt der Vize-Gouverneur die wachsende Anspannung nicht und ruft die Anwesenden auf, bitte Namen von Opfern zu nennen, die nicht auf den offiziellen Listen ständen. Niemand nennt Namen, die Staatsvertreter werden erneut ausgepfiffen.
Auf dem Platz gibt es keinerlei Lautsprecher, die Staatsvertreter sind nur in den ersten Reihen zu hören. Dennoch strömen die Menschen weiter und füllen den Platz – gegen 11 Uhr vormittags sind es schon 3000 bis 4000 Menschen.
Nach zwei Stunden ergreift der Kemerower Geschäftsmann Igor Wostrikow das Wort – und bringt selbst ein Mikrofon mit. Der Mann sagt zunächst, dass er im Simnjaja Wischnja seine ganze Familie verloren und seine Tochter anhand der Schuhe identifiziert hätte.
„Wollen Sie jetzt mit Trauer PR betreiben, junger Mann?“, äußert sich der Vize-Gouverneur Wostrikow gegenüber. Igor wird rot und zischt dem Gouverneur leise ins Gesicht:
„Meine Familie ist umgekommen, meine Schwester Aljona, meine Frau Jelena und meine drei Kinder: 7, 5 und 2 Jahre alt.“
Der Vize-Gouverneur ist sichtlich betroffen und legt Wostrikow väterlich die Hand auf die Schulter.
Dieser Mann wird faktisch zum Anführer der Kundgebung. Er gibt das Mikrofon anderen weiter, die der Reihe nach das Wort ergreifen und Ziwiljow und Tschernow ihre Fragen stellen. Er bietet an, sich an die städtischen Leichenhäuser zu wenden, die Informationen über die Opferzahlen zu überprüfen und eine E-Mail-Adresse einzurichten, an die alle Angehörigen von Opfern Informationen senden könnten.
Einige Journalisten und die aktivsten Versammlungsteilnehmer fahren mit dem Bürgermeister von Kemerowo zu den Leichenhallen. Im Laufe des Tages sind unter der eingerichteten Mail-Adresse Informationen zu 85 Vermissten eingegangen. Wostrikow zufolge wurden alle an die Polizei weitergegeben.
Die Teilnehmer der Versammlung verlangen ein Mikrofon, unter dem Gelächter der Menge: „Wie wollen Sie eigentlich eine Oblast verwalten und regieren, wenn Sie nicht mal ein Mikrofon herbeischaffen können.“ Mehr als zwei Stunden dauert es, bis endlich eine Verstärkeranlage auftaucht. Bis dahin wirkt die Versammlung ziemlich absurd: Versammlungsteilnehmer schreien Fragen aus der Menge, Ziwiljow und Tschernow antworten etwas, was ohne Mikrofon kaum zu verstehen ist. Als klar ist, dass sie sowieso niemand hört, verfallen die Staatsvertreter in Schweigen. Inmitten der schreienden, Mat-Beleidigungen ausstoßenden Menge stehen sie da und schweigen, senken zuweilen ihren Blick auf ihre Smartphones oder wenden sich ihren Helfern zu. Da buht und pfeift die mehrere tausend Menschen umfassende Menge los und ruft: „Schau uns in die Augen!“
Manchmal streckt jemand mit Absicht den Staatsdienern Wostrikows Mikrofon hin:
„Wann treten Sie zurück?“, rufen sie Ziwiljow zu. Der weicht dem Mikro schweigend aus.
„Sie klauen auf dem Posten schon seit zwei Jahren, was nur geht!“, schreit jemand Tschernow an.
„Erst anderthalb“, antwortet er.
Dann kommen Mikrofone und Verstärker.
Auf dem Platz beginnt so etwas wie „Das freie Mikrofon“ nach dem Vorbild aus den 1990ern: Die Menschen drängen sich der Reihe nach in die Mitte und sprechen über ihre Anliegen: Es geht von Angehörigen, die beim Brand ums Leben kamen, bis hin zu Problemen mit dem städtischen Wohnungsamt. Es scheint, dass allein die Möglichkeit frei und unzensiert zu sprechen die Menschen beruhigt und den Hass auf dem Platz sinken lässt.
Die Versammlung dauert fast elf Stunden. Erst bei Einbruch der Dunkelheit löst sie sich auf.
Später erklärt Aman Tulejew im Gespräch mit Putin, dass die Teilnehmer der Demonstration in Kemerowo in Wirklichkeit gar keine Angehörigen der Brandopfer seien:
„Heute sind da 200 Menschen. Das sind überhaupt keine Angehörigen der Brandopfer, das sind ständige Unruhestifter. Es ist Frevel, wenn Trauer herrscht und du dabei deine Probleme lösen willst.“
Text: Jelena Ratschewa
Novaya Gazeta: Eine Folge der totalen Korruption
Julia Latynina beklagt in der Novaya Gazeta, dass zahlreiche Tote hätten vermieden werden können, wenn man die Fluchttür des Kinosaals nicht abgeschlossen und einfachste Vorkehrungen des Brandschutzes beachtet hätte. Das Problem mit Letzterem sieht sie als ein strukturelles in Russland:
[bilingbox]Das schrecklichste und unvorstellbarste ist, dass der Brand absolut unkompliziert war. Klar, wenn irgendein Grenfell Tower mit 24 Etagen abbrennt: Hochhausbrände sind technisch ein Alptraum. Aber hier? 4 Etagen. Mitten am Tag. Ein Gebäude, in dem alle Leute auf den Beinen sind und laufen können. Es hätte eigentlich kein Problem sein dürfen: Der Feueralarm geht los, die Türen fliegen auf und alle Leute rennen raus, innerhalb von wenigen Minuten, bis zum letzten Mann. Vielleicht würde jemand eine Rauchvergiftung erleiden, aber mehr auch nicht. In der gesamten zivilisierten Welt hat sich eine einfache Sache eingebürgert: Türen, die nur in eine Richtung aufgehen. […] Man hätte neben der Tür einen Knopf anbringen können, mit dem sich die Tür öffnen lässt und der gleichzeitig den Feueralarm auslöst. Man hätte ein Glaskästchen mit einem Schlüssel daneben klatschen können. Oder eine Axt oder weiß der Teufel! Aber bei der russischen Brandschutzbehörde, da geht es ums Abzwacken von Kohle und um Nobelkarossen für die Chefs. Nicht um die Sicherheit der Bevölkerung. […] Diese Geschichte handelt davon, dass eine moderne, hochtechnologisierte Megapolis nicht funktionieren kann unter den Bedingungen von totaler Korruption, mittelalterlichen Bauvorschriften und Populismus. ~~~Самое ужасное, непредставимое — это совершенная несложность пожара. Понятно, когда сгорает какая-нибудь Grenfell Tower, там 24 этажа, пожары в высотках — это технический кошмар. Но тут? 4 этажа. Середина дня. Здание, где все люди были на ногах. Никакой проблемы не было бы и не должно было быть: звучит сигнализация, распахиваются двери, и люди выбегают все, в считанные минуты, до единого человека: ну разве что кто-нибудь дымом чуть отравится. Во всем цивилизованном мире освоена простая штука: двери без запоров, которые в одну сторону раскрываются, а в другую — нет. […] Можно установить рядом с дверью кнопку, которая ее открывает, а когда дверь открывается — на пульте тут же срабатывает сигнализация. Можно рядом с дверью присобачить стеклянный ящичек, а в него положить ключ. Можно топор, черт возьми, повесить у этой двери! Но наш Роспожнадзор — это про срубание бабок и «лексусы» у начальников. Он не про безопасность населения. […] Это история о том, что современный высокотехнологичный мегаполис не может функционировать в условиях тотальной коррупции, средневековых строительных норм и популизма. [/bilingbox]
Snob: Keine Menschlichkeit
In seiner Trauerrede fragte Wladimir Putin: „Was passiert bei uns? […] Wir reden über Demographie und verlieren so viele Menschen.“ Diese Wortwahl erregte in unabhängigen Medien viel Aufmerksamkeit, auch Andrej Perzew fragte für Snob nach den Hintergründen einer solchen Rhetorik:
[bilingbox]Im Augenblick einer Tragödie klingen solche Aussagen grausam. Die Machthaber finden nicht zur Menschlichkeit zurück: Laut Putin besteht die Schuld der Beamten aus Kemerowo darin, dass der Staat eine Ressource verloren hat. Das ist auch ein Argument, aber im Fall von Massen von Opfern steht es an fünfter oder zehnter Stelle. Von der Idee her muss ein Staat um der Bürger willen existieren und nicht umgekehrt. Aber in der Logik eines Wladimir Putin ist es besser, Bürger als Bevölkerung zu bezeichnen, die mit Ziffern benannt wird und sonst mit nichts. Solche Definitionen haben auch eine praktische Bedeutung: Denn Bürger kontrollieren die Regierenden, die Bevölkerung aber wird von den Regierenden kontrolliert.~~~В момент трагедии такие высказывания звучат дико. Власть не может вернуться к человечности. Вина кемеровских чиновников, по Путину, в том, что государство потеряло ресурс. Это тоже аргумент, но в случае массовых жертв — пятый и десятый. По идее, государство должно существовать ради граждан, а не наоборот. Но в логике Владимира Путина граждан, скорее, лучше называть населением, которое обозначается цифрами и больше ничем. У этих определений есть и практическое значение, ведь граждане управляют властью, а населением управляет власть.[/bilingbox]
Colta: Mythos der Beliebtheit
Kemerowo ist bei Weitem kein Einzelfall, und auch deswegen wird vermehrt Kritik an der Staatsführung laut. Vor diesem Hintergrund fragt Fjodor Krascheninnikow auf Colta, was Putins triumphales Ergebnis bei der Präsidentschaftswahl vor zwei Wochen eigentlich aussagt:
[bilingbox]In der Oblast Kemerowo stimmten laut offiziellen Zahlen 85,57 Prozent für Putin, und 96,69 Prozent der Bevölkerung stimmten 2015 für den immer noch waltenden Gouverneur Tulejew. […] Doch weder Putin noch Tulejew sind vor die Menschen getreten. Vermutlich deshalb, weil sie selbst keinerlei Illusionen über ihre tatsächliche Beliebtheit haben – vor allem unter den Verwandten und Nahestehenden der lebendig verbrannten Menschen. Der Mythos über die unglaubliche Beliebtheit der russischen Staatsmacht bei der Bevölkerung lebte nach der Präsidentschaftswahl nur zehn Tage. Er starb in Kemerowo, auf dem Platz der Räte.~~~За Путина в Кемеровской области голосовали, по официальным данным, 85,57% избирателей, а за все еще действующего губернатора Тулеева в 2015 году якобы проголосовали и вовсе 96,69% населения. […] Но к людям не вышли ни Путин, ни Тулеев. Возможно, потому, что сами они не питают никаких иллюзий относительно истинных масштабов своей популярности — особенно среди родных и близких заживо сгоревших людей. Миф о невероятной популярности российской власти среди населения прожил всего 10 дней после президентских выборов и умер в Кемерове, на площади Советов.[/bilingbox]
Novaya Gazeta: Verhöhnende Worte
Irina Petrowskaja zeigt sich in der Novaya Gazeta entsetzt über den Umgang der staatlichen Fernsehsender mit der Katastrophe und macht das an einem besonders frappierenden Beispiel des TV-Senders Rossija-1 deutlich:
[bilingbox]Als es in Kemerowo bereits Nacht wurde und die Feuerwehr immer noch mit den Flammen kämpfte, ging Dimitri Kisseljows Wochenrückblick Westi Nedeli auf Sendung. Der Moderator und seine Kollegen hatten mindestens sieben Stunden Zeit, um die Sendung umzustellen. Aber sie „schätzten das Ausmaß der Tragödie falsch ein“ und stellten nichts um. Sie begannen nicht mit der Tragödie, sondern mit dem Triumph: den beispiellosen Ergebnissen der Präsidentschaftswahl. Und erst nach 20 Minuten (so lange dauerte dieser Beitrag) wich Kisseljow für drei Minuten vom vorab festgelegten Programm ab und berichte im Schnellsprech vom Brand in Kemerowo. […] Drei Minuten – dann berichtet Kisseljow schon wieder voller Elan über den gerade abgeschlossenen Wettbewerb des Verteidigungsministeriums um die beste Bezeichnung für Russlands neueste Waffentypen. „Auch ich habe meinen Vorschlag für eine der Raketen eingereicht“, brüstete sich der Moderator: „Asche.“ Einer der höchsten Medien-Funktionäre des Landes, der Preisträger des TEFI-Preises und mehrfache Vater Kisseljow musste dabei nicht schlucken und hat vermutlich nicht einmal daran gedacht, wie verhöhnend seine Worte in dem Moment klingen, als gerade ein Feuer Dutzende Erwachsene und Kinder in Asche verwandelt. ~~~Когда в Кемерове уже наступила ночь, а пожарные все еще боролись с огнем, в эфир вышла итоговая программа Дмитрия Киселева «Вести недели». У ведущего и его сотрудников было как минимум 7 часов на то, чтобы переверстать выпуск, но… не «представляя масштабов трагедии», они этого делать не стали и начали не с трагедии, а с триумфа — беспрецедентных итогов президентских выборов. И лишь спустя 20 минут (столько длился сюжет) Киселев на 3 минуты отвлекся от заранее утвержденной верстки, скороговоркой сообщив о пожаре в Кемерове. […] Три минуты — и вот уже Киселев с воодушевлением докладывает о только что завершившемся всенародном конкурсе Министерства обороны на лучшее название современных образцов вооружения. «Я тоже предлагал свое название для одной из ракет, — похвастался он личным участием в конкурсе. — «Пепел». Один из высших медийных чиновников страны, лауреат ТЭФИ и просто многодетный отец, не поперхнулся и, наверное, даже не подумал, сколь кощунственно звучат его слова в этот час, когда огонь превращает в пепел десятки взрослых и детей! [/bilingbox]
Facebook/Wladimir Warfolomejew: Große Angst
Bei aller Wut und Trauer, bei allem Protest stellt Wladimir Warfolomejew vom Radiosender Echo Moskwy vor Ort fest, wie groß die Angst der Menschen ist, wie er auf Facebook schreibt:
[bilingbox]Wir sprechen hier nur von einer technisch bedingten Katastrophe. Es geht nicht um einen Terroranschlag, politische Verschwörung oder eine militärische Aggression. Aber was für eine Angst haben die Kusbass-Bewohner, die heute nicht laut darüber sprechen können?! In den letzten 24 Stunden hat uns etwa die Hälfte unserer Gesprächspartner gebeten, ihre Namen nicht zu nennen. Einige der Befragten bestanden sogar darauf, dass wir ihre Stimmen verfremden. Und das sind Menschen, die uns von den Ereignissen in einer Stadt berichteten und keine, die Staatsgeheimnisse verraten.~~~Это ведь просто техногенная катастрофа, а не теракт, не политический заговор или военная агрессия. Но какой же дикий страх перед властью испытывают жители Кузбасса, которые сегодня боятся говорить вслух о том, что произошло. За эти сутки около половины, наверное, наших источников в Кемерове попросили не называть своих имён. Кое-кто даже настоял на том, чтобы мы изменили их голоса в эфире. А ведь эти люди всего лишь рассказывали про происходящее в городе, а не выдавали государственные секреты.[/bilingbox]
Rosbalt: Mauer zwischen Russland und dem Westen
Der Politikwissenschaftler Iwan Preobrashenski hat sich in ausländischen Medien umgeschaut und festgestellt, dass Russland vor allem wegen der neuen Eskalation im Fall Skripal in den Schlagzeilen ist. Auf Rosbalt kommentiert er:
[bilingbox]Man muss bemerken, dass das früher alles merklich anders war. Zum Beispiel hat die Tragödie von Beslan Europa buchstäblich erschüttert, obwohl der Großteil der westlichen Presse Russland hart verurteilte für den Krieg in Tschetschenien. Für die Kinder aus Beslan gibt es heute Denkmäler in Europa, und die Erinnerung an diese Tragödie ist lebendig. Über die in Flammen gestorbenen Kinder aus Kemerowo erfahren viele Europäer aber schlicht nichts, weil in der Zwischenzeit eine Mauer des Unverständnisses, der Angst und des Misstrauens zwischen Russland und Westeuropa gewachsen ist.~~~Раньше, надо отметить, все было заметно иначе. Например, трагедия Беслана буквально потрясла Европу, и это несмотря на то, что ранее западная пресса в большинстве своем жестко осуждала Россию за войну в Чечне. Памятники детям Беслана есть сегодня во многих европейских странах и память об этой трагедии жива. А вот о сгоревших кемеровских детях многие европейцы видимо просто не узнают, потому что между Россией и западной частью европейского континента выросла за эти годы стена непонимания, страха и недоверия.[/bilingbox]