Nach dem sensationellen Sieg im Elfmeterschießen gegen Spanien erreichte die russische Nationalmannschaft das Viertelfinale der Fußball-WM 2018. Dieser Sieg war der größte Erfolg einer russischen Nationalelf in der modernen Fußballgeschichte und er weckte große Hoffnungen: „Die WM fängt jetzt erst an“, kommentierte der russische Nationaltrainer Stanislaw Tschertschesow das Ereignis. Am 7. Juli spielte die Nationalelf schließlich im Viertelfinale gegen Kroatien. Landesweit hingen die Fans vor dem Fernseher und verfolgten live das spektakuläre und hochdramatische Spiel, in dem Russland nach dem Elfmeterschießen (2:2; 3:4) aus der WM ausschied.
DieNovaya Gazeta zeigt Fotos von Dokumentarfotografen aus zehn russischen Regionen, von Archangelsk über Irkutsk bis Wladiwostok. Auf Hochzeitsfeiern, in Wohnzimmern, Kneipen, Krankenhäusern schauten die Leute Fußball, „fieberten für ihre Mannschaft“ und waren trotz der Niederlage glücklich.
Familie Maslow (Nikolaj ist Physiker, Anna Fotografin). Akademgorodok, Nowosibirsk. Foto: Anton Unizyn
Gäste auf der Hochzeit der Familie Nowinskije im Restaurant Prag. Kotlas, Oblast Archangelsk. Foto: Anna Schuljatjewa
Im Zug St. Petersburg – Murmansk. Foto: Dimitri Markow
Walentina Nikolajewna, Patientin im Ersten Moskauer Hospiz. Foto: Viktoria Odissonova
Familie Pautow. Priwodino, Oblast Archangelsk. Foto: Aljona Trawkina
Public Viewing auf dem Driftsportplatz, Irkutsk. Foto: Anton Klimow
Irina Kulina mit Töchtern und Freunden, St. Petersburg. Irina arbeitet als Therapeutin in einer psychiatrischen Einrichtung. Foto: Oleg Ponomarev
Der Künstler Oleksandr Petljura zu Gast in der Familie des Künstlers Lawrenti Bruni, Tarusa. Foto: Anna Artemeva
Parkplatz vor dem Supermarkt, Wladiwostok. Foto: Iwan Beloserow
Notaufnahme, Kotlas, Oblast Archangelsk. Foto: Anna Schuljatjewa
Bewohner der Siedlung Jelowy in ihrem Hof, Oblast Irkutsk. Foto: Anton Klimow
Die Brüder Kamilow, Seiltänzer aus Usbekistan, in ihrem Haus, Souranda, Oblast Leningrad. Foto: Jelena Lukjanowa
Bar Leningrad. Magadan. Foto: Evgeny Serov
Familie Tschernikow in ihrer Einzimmerwohnung, Jekaterinburg. Foto: Fyodor Telkov
Erschienen am 13.07.2018 Quelle: Novaya Gazeta dekoder-Redaktion
Zehn Vizepremiers koordinieren derzeit die Arbeit der Regierung. Warum so viele? Und was haben sie zu entscheiden, wenn es außerdem 22 Ministerposten gibt und zudem noch eine Präsidialadministration?
Wie die Arbeit der Regierung funktioniert und inwieweit sie noch effizient sein kann, das fragt der Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Nekrassow auf Republic.
Sehr viele Vizepremiers, wie in Russland [derzeit sind es zehn – dek], gibt es in den meisten GUS-Staaten. Und zwar unabhängig vom Umfang demokratischer Prinzipien in ihrem jeweiligen politischen System – von Turkmenistan bis zur Ukraine, aber auch in einigen ehemaligen RGW-Staaten wie Bulgarien oder Rumänien, und auch in China.
Diese Situation ist zweifellos auf die Übernahme des Regierungsmodells zurückzuführen, das noch unter Stalin entwickelt wurde.
Dieses Modell basierte auf einer Logik, wonach die Minister fachlich versierte Experten sein sollten, die sich mit den Fragen des jeweiligen Industriezweigs auskennen. Fragen der globalen politischen Strategie sollten dann im engen Kreis von Genossen entschieden werden, die dem Politbüro oder dem Präsidium der Regierung angehörten (was sich oftmals überschnitt). Sie erarbeiteten und kontrollierten die Umsetzung der „allgemeinen Parteilinie“. Somit lag die politische Führung bei Regierungshandlungen in den Händen der Vizepremiers, die in der Regel auch Politbüro-Mitglieder waren, während die Minister für die technische Umsetzung der getroffenen Entscheidungen zuständig waren.
Clan-Logik entscheidet
Heutzutage gehört der Großteil der Vizepremiers in Russland (oder auch beispielsweise in der Ukraine) vor allem Clans oder politischen Einflussgruppen an, deren Interessen sie vertreten.
Auch bei der Ernennung von Ministern driften die Prinzipien zunehmend in Richtung einer klaren Clan-Logik. Bisher aber werden Minister immer noch eher aufgrund ihrer fachlichen Qualifikation ernannt, als das bei Vizepremiers der Fall ist.
Ein weiterer Grund für die hohe Zahl der Vizepremiers ist die im Vergleich mit anderen Industrieländern hohe Zahl von eigenständigen bürokratischen Strukturen. Bei allen Unterschieden in Aufbau und Bezeichnung, liegt die Zahl der Vorsitzenden von Ministerien und Behörden, die direkt dem Regierungsoberhaupt unterstehen, in mittel und hoch entwickelten Industrieländern im Schnitt bei 12 bis 25 Personen.
Bereits Cyril Northcote Parkinson schrieb, dass die Zahl der Regierungsmitglieder 20 bis 22 nicht übersteigen solle. Werde diese Grenze überschritten, verliere das Kabinett seine Regierbarkeit. In Russland gibt es formal 21 Ministerien [in der neuen Regierung sind es 22 – dek], allerdings müssen da noch mindestens 16 Agenturen und föderale Dienste hinzugerechnet werden. Außerdem sind viele Behörden, die formal bestimmten Ministerien unterstehen, de facto eigenständig und unmittelbar dem Regierungsoberhaupt unterstellt. Man denke nur an die Steuerbehörde, die formal dem Finanzministerium unterstellt ist. Berücksichtigt man all diese Strukturen, so steigt die Zahl der Behörden und Ministerien, die de facto zur Regierung gehören, auf über 70.
In diesem Kontext erscheint die Zahl der Vizepremiers dann gar nicht mehr so hoch.
Überflüssige Behörden
Bemerkenswert ist, dass die Zahl der Beamten pro 1000 Einwohner in Russland durchaus der Entwicklung des Landes entspricht und deutlich niedriger liegt als in den meisten Industrieländern. Aber es geht nicht um die absolute Größe des Staatsapparats, sondern um die hohe Anzahl überflüssiger Einheiten, die als eigenständige Behörden Funktionen übernehmen, die in Industrieländern für gewöhnlich von zusammengelegten Ministerien ausgeführt werden.
Auch hier zeigt sich das sowjetische Erbe. Wegen der Verwaltungsbesonderheiten der Planwirtschaft lag die Zahl der branchenbezogenen Ministerien in der UdSSR wesentlich höher als in Ländern mit freier Marktwirtschaft. Offenbar war es in den 30 Jahren seit dem Zerfall der Sowjetunion einfacher, die ökonomischen Prinzipien zu ändern, als die Zahl der Behörden an das neue Niveau anzupassen.
Sowjetisches Erbe
Ein weiteres „sowjetisches“ Merkmal ist, dass es neben der Regierung noch eine starke Präsidialadministration gibt, in der viele Regierungsfunktionen gedoppelt sind. Damit wiederholt sich das Modell „Regierung plus Apparat des Zentralkomitees der KPdSU“. Die Präsidialadministration hat sogar ihren Sitz im ehemaligen Gebäude des Zentralkomitee-Apparats und erfüllt eine ähnliche Funktion der „politischen Kontrolle“. Typisch ist, dass dieses Modell in fast allen GUS-Staaten erhalten geblieben ist.
Direkt über den Behörden hängt bei uns also noch die dicke Schicht aus Präsidialadministration, aus einem – für internationale Verhältnisse riesigen – Regierungsapparat, den Vizepremiers und den Helfern des Präsidenten. Ist das historische Erbe in solchen Fragen wirklich so mächtig, dass völlig unnötige Verwaltungsebenen allem Praxissinn zum Trotz erhalten bleiben?
Ich denke, neben der objektiv hohen Zahl der eigenständigen bürokratischen Strukturen, liegt die Ursache für die Langlebigkeit solcher Zwischenämter an zwei weiteren Faktoren:
Zum einen an der Inflation von Titeln: Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist trotz Verkleinerung der Armee und Wissenschaft die Zahl der Generäle, Doktoren und Akademiker gestiegen. Dabei ist den Menschen durchaus bewusst, dass der Wert der Titel gesunken ist. Aber aller Devaluation zum Trotz hat etwas, das in der Kindheit für so wichtig erachtet wurde, für viele auch heute noch seinen Wert.
Zum anderen gibt es ein neues Mestnitschestwo, das gewissermaßen das Verhalten der Eliten vor Peter dem Großen wieder aufgreift. Viele Vertreter der heutigen russischen Elite wechseln oft ihre Posten, allerdings immer unter Beachtung mindestens zweier Mestnitschestwo-Regeln par exellence: a) der neue Posten darf vom Status nicht unter dem vorherigen liegen (es sei denn es handelt sich um eine ehrwürdige Verabschiedung in die Sinekure); b) der neue Vorgesetzte darf kein ehemaliger Untergebener sein.
Man kann nicht behaupten, diese Prinzipien würden immer und zu hundert Prozent gelten. Aber ein Putin, der immer wieder dasselbe Kartendeck mit ein und denselben Figuren mischt und verteilt, könnte schlecht all die Rochaden planen, hätte er nicht die große Zahl von Präsidentenberatern und -helfern, Vertretern des Präsidenten in den Regionen, stellvertretenden Leitern der Administration und deren ersten Stellvertretern, Vizepremiers und deren ersten Stellvertretern. Hätten wir nur 15 Ministerien wie die USA, wären all diese Rochaden stark erschwert – und die politische Verantwortung würde nicht derart verschwimmen hinter einer Vielzahl von involvierten Personen.
1. Die WM findet dieses Jahr zwar in Russland statt – aber interessieren sich die Russen überhaupt für Fußball? Ist Eishockey nicht viel wichtiger?
Im Gegenteil, Fußball ist in Russland sehr beliebt, das hat historische Gründe. In den 1920er Jahren wurde der Fußball zum urbanen Massenereignis in Moskau. Bereits in den 1930er Jahren sprachen sowjetische Offizielle vom Fußball als „Spiel des Volkes“ (russ. narodnaja Igra), das sich überall in der Sowjetunion großer Beliebtheit erfreue. Eishockey war damals auch wichtig, stand aber nie in Konkurrenz zum Fußball. Zunächst liegt das an den Spielzeiten der beiden Sportarten, die sich nie überschnitten. Lange war es Usus, dass Fußballspieler im Winter beim Eishockey mitmachten – wie etwa Wsewolod Bobrow, der berühmte Stürmer des Armeesportklubs ZDKA (heute ZSKA) in der Nachkriegszeit.
2. Eishockey war zu Zeiten der Sowjetunion international viel erfolgreicher als der Fußball, hatte es also nicht auch mehr Fans?
Im Kalten Krieg hatte das Eishockey eine andere Funktion als der Fußball. Die nationalen Meisterschaften galten als eher langweilig, da alle Mittel nach Moskau flossen, um eine schlagkräftige Auswahl bei internationalen Wettkämpfen zu haben. Der Fußball hingegen war in allen Sowjetrepubliken beliebt und gerade in der späten Sowjetunion von starker innerer Konkurrenz geprägt. Die große Liebe zum Fußball geht auf die Zeit der großen Derbys der starken Moskauer Mannschaften vor und nach dem Krieg zurück – und die Herausforderung durch Teams aus der Ukraine, Georgien und Armenien in den Jahrzehnten danach. Sie hält sich bis in die Gegenwart, auch wenn es lange – gerade international – wenig zu feiern gab (mit Ausnahme vielleicht der UEFA-Pokalsiege von ZSKA und Zenit, 2005 und 2008).
3. Man hört viel von Hooligans im russischen Fußball. Warum sehen wir davon (bislang) nichts während der WM?
Russland hat ein großes Interesse, die Organisation dieses sportlichen Mega-Ereignisses als solide erscheinen zu lassen. Bilder gewalttätiger Exzesse würden diesen Anschein trüben. Referenzbeispiel wäre die Fußball-EM 2016, wo es etwa in Marseille zu Straßenschlachten zwischen englischen und russischen Hooligans kam.
Inwiefern neben hoher Ticketpreise, dem Verteilsystem der FIFA sowie dem Sicherheitskonzept der Behörden auch informelle Kontakte zwischen Fangruppierungen und der Politik ursächlich dafür sind, dass es bislang ruhig geblieben ist, ist spekulativ. Für solch eine informelle Einflussnahme gäbe es jedenfalls historische Vorbilder. In den 1980er Jahren übte neben der sowjetischen Miliz auch die Jugendorganisation Komsomol Druck auf die Anführer der Fanbewegung aus. Deren aktuelle Anführer sind den Behörden auch heute bekannt.
4. Welche Fankultur gibt’s sonst noch im russischen Fußball?
Die „Fanbewegung“ (russ. fanatskoje Dwishenije) verbindet Elemente des Teamsupports aus der Ultrakultur, die ausgehend von Italien die Fankultur in vielen Ländern Europas revolutionierte, mit gewalttätigen Praktiken einer ursprünglich von englischen Vorbildern abgeleiteten Hooligankultur. Seit Mitte der 1970er Jahre entstand die Bewegung zunächst zur Unterstützung der großen Moskauer Mannschaft Spartak, bald darauf Dynamound ZSKA, und weitete sich Ende der 1970er Jahre in andere Städte der Sowjetunion aus. Teamsupport im Stadion, Auswärtsfahrten und Gewalt gegenüber anderen Gruppen und der Miliz (Polizei) verschmolzen zu einer Jugendkultur, die mit und nach dem Ende der Sowjetunion mit erwähnten Einflüssen aus Westeuropa angereichert wurde. Sie sucht sich ihre Vorbilder aber zunehmend in anderen Ländern Osteuropas, beziehungsweise betrachtet sich nun selbst als Vorbild für Fanbewegungen etwa in Deutschland.
5. Fans vom FC Zenit haben einen Spruch: „Zenit hat alle Farben außer Schwarz“. Wie sieht es mit Rassismus im russischen Fußball aus?
Der russische Fußball hat spätestens seit den späten 1980er Jahren ein großes Rassismusproblem. Rassistische Aussagen finden sich bei allen großen Mannschaften der beiden Hauptstädte, von Zenit über ZSKA, Dynamo, aber auch Spartak. Das Fallbeispiel Spartaks ist besonders interessant, da die Mannschaft in der sowjetischen Nachkriegszeit als multiethnische Mannschaft galt und auch in den Jahrzehnten danach eine sehr diverse Anhängerschaft an sich zog. Spartak verfügte auch in den frühen 2000er Jahren über den breitesten Support. Jedoch zeigte sich auch hier in den Jahren 2007 bis 2012 immer wieder, dass rechtsradikale Einstellungen unter den Anhängern Spartaks weit verbreitet waren. Dieses Problem wird dem russischen Fußball erhalten bleiben, solange es nicht gelingt, Fankultur (Teamsupport, Auswärtsfahrt) und Gewalt konzeptionell voneinander zu trennen, etwa durch die Förderung zivilgesellschaftlicher Strukturen in der Fußballkultur.
6. In Moskau gibt es gleich vier wichtige Fußball-Klubs. Ist die Sportart auch außerhalb der Hauptstädte beliebt?
Der russisch-sowjetische Fußball entstand als urbaner Zuschauersport in Moskau und Leningrad in den 1920er Jahren. Er entwickelte sich in der späten Sowjetunion weiter – von wichtigen Ausnahmen wie Schachtjor Donezk oder Zenit Leningrad abgesehen – zum Spiel der Republikhauptstädte gegeneinander: Moskau, Kiew, Tbilissi, Jerewan, Minsk … Dabei war der „große“ Fußball aber dank Fernsehübertragungen seit den 1960er Jahren auch außerhalb dieser Städte bekannt und beliebt. Nach dem Ende der Sowjetunion durchlief der nun russische Fußball ein langes Jahrzehnt der Dominanz von Spartak Moskau. Viele Städte insbesondere aus dem europäischen Teil Russlands haben heute eine Mannschaft in der Premjer-Liga. Doch nach einigen Erfolgen neuer regionaler Herausforderer wie Rubin Kasan (Meister 2008 und 2009), ist die russische Meisterschaft nun wieder fest in der Hand der Moskauer Vereine und Zenit Sankt-Petersburgs, die auch außerhalb dieser Städte über viele Anhänger verfügen.
7. Ein weiterer Fanspruch lautet: „Liebe deine Mannschaft mehr als Siege“. Was ist für Russen wichtiger, Sieg oder Teilnahme?
Den Russen als solchen gibt es ja nicht. Das Besondere am Fußball ist, dass er Gemeinschaft erzeugt, während gleichzeitig jeder Einzelne sich seinen eigenen Reim darauf machen kann, was diese Gemeinschaft ausmacht und was sie bedeutet. Wenn man aber generalisieren wollte: Die Teilnahme an sich bedeutet wenig. Entscheidend sind aber nicht nur Siege, sondern auch das Leiden, das viele russische Fußballfans ein Leben lang erdulden, wenn sie ihrer Mannschaft treu bleiben. Das Leiden findet sich bereits im russischen Wort für Fan – „Bolelschtschik“ – man leidet, fiebert für seine Mannschaft. Gleichzeitig formierte sich eine Gemeinschaft in der Sowjetunion und auch in Russland häufig und sehr stark in Momenten des Sieges oder über Erinnerungen an vergangene Siege – mit dem Sieg im Großen Vaterländischen Krieg als prominentestes Beispiel. Sportliche Siege fügen sich hier ein. Geschichten über den russischen Fußball handeln nie einfach nur von Teilnahme. Es geht um den Sieg, aber es geht auch um das Leid.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Unmittelbar vor Beginn der Fußball-WM hat die Duma-Abgeordnete Tamara Pletnjowa russische Frauen gewarnt: Sie sollten sich während der WM nicht auf intime Beziehungen mit ausländischen Fans einlassen. Zumal nicht mit Fans einer anderen „Rasse“. Denn deren Kinder würden dann diskriminiert – eine Erfahrung, die Frauen und Kinder nach der Olympiade 1980 gemacht hätten, meint die Vorsitzende des Duma-Ausschusses für Familie, Frauen und Kinder.
Im Massenblatt Moskowski Komsomolez schrieb Platon Bessedin von der WM als einem „Zeitalter der Nutten“ und prangerte das angeblich enthemmte Verhalten seiner Landsfrauen an. Der Blogger Anton Troizki spricht nicht vom russischen „Futbol“, sondern vom „Sexbol“. Wie viel diese Diskussion mit der Realität zu tun hat und nicht eher der (männlichen) Fantasie entspringt, auch das wird debattiert.
Alexandra Archipowa vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Hochschule RANChiGS hat den historischen Wurzeln solcher und ähnlicher Debatten nachgespürt. In ihren Text auf Republic hat sie auch Umfrageergebnisse und Probanden-Interviews einer wissenschaftlichen Studie einfließen lassen. Ihr Blick in die Geschichte zeigt, dass mit der Angst vor dem ausländischen Touristen ein sowjetisches Propaganda-Phänomen wiederbelebt wird – das bis vor vier Jahren kaum noch Relevanz hatte.
Im Vorfeld der Fußball-WM wurden die Russen von Parlamentsmitgliedern (und nicht nur von diesen) vor möglichen Gefahren gewarnt: Ausländer wollen unseren Kindern mit Drogen gespickte Zigaretten geben (so der Direktor einer Moskauer Schule), sie wollen unsere Leute mit gefährlichen Krankheiten anstecken und sorgen schließlich dafür, dass in unserem Land eine Menge Babys „einer anderen Rasse“ geboren werden (meint die Vorsitzende des Duma-Ausschusses für Familien, Tamara Pletnjowa). Man kann sich natürlich wunderbar lustig machen über solche Meldungen und ihre Autoren, man kann aber auch versuchen zu verstehen, woher solche Ideen kommen.
Die Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1957 waren die erste derartige Veranstaltung. Für die damalige Zeit war das etwas Außerordentliches: Nach Stalins Tod, den Repressionen, dem Hunger, der Angst kamen plötzlich „andere Menschen“ nach Moskau – zigtausende Ausländer, mit denen man Filme und Konzerte besuchen konnte und reden, reden, reden.
Unkontrollierte Verbrüderung
Die unkontrollierte Verbrüderung des sowjetischen Volkes mit Ausländern versetzte die Parteiführung natürlich in Unruhe (vielleicht sogar Panik). Unter den Studenten und Jugendlichen aus aller Welt sahen sie Saboteure und Spione, die unsere Leute ruchlos ermorden würden. Und deswegen warnte Jekaterina Furzewa, später omnipotente Kulturministerin der UdSSR, vor Beginn des Festivals ihre Moskauer Kollegen vor möglichen Provokationen der „Ausländer mit Spritze“. Ihre Aussagen spiegeln sich in Gerüchten, die uns aus sowjetischen Briefen von 1957 bekannt sind: „In Moskau werden alle gegen Pest geimpft, weil es (das glauben unsere Leute) unter den Festivalgästen welche geben wird, die Ampullen mit Pestbakterien mitbringen.“
Das Bild des Ausländers, der den Sowjetbürger mit allerlei Krankheiten anstecken will, „noch dazu mit maximaler Hinterhältigkeit, unter dem Deckmantel der Freundschaft“, hat mit dem beginnenden Kalten Krieg zu tun. Die Frage ist, warum werden gerade Ampullen und Spritzen zur Waffe des Geheimagenten?
1952, der Koreakrieg war in vollem Gang, berichtet die sowjetische Presse am laufenden Band von Opfern der Imperialisten: von Bomben, aus denen mit Pest infizierte Mücken fliegen, von als medizinische Hilfe getarnten Impfungen mit dem Typhus-Erreger. Der sowjetischen Propaganda zufolge führten die amerikanischen Truppen keinen traditionellen Kontaktkrieg, sondern einen Krieg, der noch schrecklicher war – sie töteten mit biologischen Waffen aus großer Distanz.
Amerikanische Jeans, verseucht mit importierten Parasiten
In der Ära Breshnew wurde das Bild des Ausländers, der unsere Bürger vergiftet, ebenfalls häufig bemüht, und zwar zu ganz verschiedenen Zwecken. Amerikanische Jeans, verseucht mit importierten Parasiten, galten bei Komsomolzenführern als Beispiel für ideologische Subversion. Vor den Olympischen Spielen 1980 stand dem Sowjetmenschen wieder, wie 1957, die Konfrontation mit einem Schwung ausländischer Gäste bevor und mit all diesen Dingen, die sie mitbringen. Damals zirkulierten verstärkt Texte über Amerikaner, die Kaugummi, Jeans und Süßigkeiten vergiften. Allerdings hatte sich deren Inhalt 1980 schon deutlich weiterentwickelt.
Vor der Olympiade 1980 transformierte sich die vage Besorgnis vor dem Einfall der Fremdlinge endgültig zur massenhaften Überzeugung, dass die erwarteten Gäste aus dem Ausland nie dagewesene Infektionen übertragen würden – davon redeten buchstäblich alle. Solche Geschichten wurden mit pseudowissenschaftlichen Erkenntnissen unter Verwendung medizinischer Terminologie untermauert: Man sprach von „Viren“, „Mikroben“, „Infektionen“ und „entsetzlichen Geschlechtskrankheiten“ der Ausländer. In Moskau kursierten Gerüchte, Ausländer hätten das Marseille-Fieber „Olimpika“ gebracht, und das Tragen amerikanischer Jeans verursache Unfruchtbarkeit oder eine spezielle „Jeans-Dermatitis“.
Bei den Olympischen Spielen 1980 war der furchteinflößende Fremde, der eine Gefahr darstellte, vor allem der „Neger“. Viele Moskauer erzählten von ihren Befürchtungen während der Spiele, der Kontakt mit den „Negern“ gehe mit schweren Geschlechts- oder Hautkrankheiten einher, einschließlich Lepra und Syphilis. Solche Dinge hatten sie von Freunden, Eltern, Lehrern und Trainern im Bezirkskomitee gehört. Schülern wie Erwachsenen wurde erklärt: „Halte dich von den Negern aus Afrika fern, die haben Maden unter der Haut – das ist schon fast ihr Nationalstolz.“
Die größte Angst 1980 – das waren Geschichten über eine absichtliche Verseuchung des sowjetischen Volkes mit Geschlechtskrankheiten über attraktive Gegenstände des öffentlichen Gebrauchs, zum Beispiel über Automaten mit Sodagetränken. Witali, zur Zeit der Olympischen Spiele ein Teenager, erzählt, wie er hörte, dass „im Becher vom Soda-Automaten ganz früh am Morgen (um vier oder fünf) ein Neger seinen Penis gewaschen hat“.
Die sowjetische Führungsriege erwartete solche Gefahren von ausländischen Teilnehmern an Sportwettkämpfen und Festivals und war immer bereit, die Kontakte des sowjetischen Volkes mit potenziellen Feinden einzugrenzen. Solange, bis 1985 Michail Gorbatschow (seinem Assistenten zufolge erschüttert über das Gerede von den gefährlichen Ausländern) bei einer der Besprechungen zu den Weltjugendfestspielen in der UdSSR dieser Tradition ein Ende setzte: „Die Bedeutung direkter Kontakte von Ausländern mit Menschen aus der Sowjetunion [ist sehr wichtig für die Entstehung] wahrheitsgetreuer Vorstellungen über uns. Keine Angst – sollen nur möglichst viele kommen“ (Tagebucheintrag von Gorbatschows Assistenten M. Tschernjajew vom 27. August 1985).
Seit 2014 werden alte Ängste wieder aktuell
Mit dem Zerfall der Sowjetunion verschwanden diese Ängste scheinbar. Bei den Olympischen Winterspielen 2014 konnte sie unsere Forschungsgruppe tatsächlich fast nicht feststellen. In den letzten vier Jahren wurden sie aber wieder aktuell.
Im Frühling 2018 verlautbarte der Direktor einer Moskauer Schule, dass die zur WM anreisenden Amerikaner Zigaretten mit Drogen an Kinder verteilen würden, und forderte von den Eltern, ihre Kinder für die Zeit der WM aus Moskau hinauszubringen. Und in einem kleinen Städtchen im russischen Norden, wo im Frühling und Sommer viele ausländische Touristen hinkommen, um ein berühmtes Kloster zu besichtigen, gab es einen kleinen Elternaufstand. Die Touristen wurden nämlich nicht nur ins Kloster, sondern auch in die örtliche Schule geführt, wo sie sich mit den Schülern unterhielten und sie sogar fotografierten. Die Eltern wollten den Ausländern verbieten, ihre Kinder zu fotografieren, sogar mit ihnen zu reden: „Wer weiß, womit man sich da anstecken kann.“
Aber jetzt ist die Fußball-Weltmeisterschaft, und wieder, wie 1957 und 1980, droht den Russen der direkte Kontakt nicht nur mit Gruppen von 20 Touristen, sondern mit hunderttausenden Ausländern. Sprecher der Staatsduma übertragen wieder dieselben zwei Arten von nun gar nicht mehr latenter Angst auf die Öffentlichkeit.
In einer Situation, in der alle anderen Möglichkeiten zur Kontrolle von Interessen und Entwicklung der Gesellschaft ausgeschöpft sind und das Gefühl einer inneren sozialen Instabilität herrscht, ist das einzige Argument, das den Machthabern bleibt, eine Anweisung, den Kontakt zu Menschen aus der Außenwelt zu vermeiden – einfach aus dem Grund, weil sie nicht so sind wie wir. Wie Tamara Pletnjowa sagte: „Ich bin nicht nationalistisch, aber trotzdem.“ Die Angst vor dem „Fremdling“ war sehr viel früher da als der Begriff der Nation.
Die Nachricht erschüttert die Wissenschaftsszene: An der Moscow School of Social and Economic Sciences, einer der renommiertesten Hochschulen in Russland, dürfen keine staatlichen Diploma mehr erworben werden. Das gab das Rosobrnadsor, die staatliche Aufsichtsstelle für Bildung und Wissenschaft, Ende Juni bekannt. Zuvor hatte die Aufsichtsbehörde an der Schaninka, so wird die Hochschule nach ihrem britischen Gründer Teodor Shanin genannt, eine Überprüfung durchgeführt, die notwendig ist für die sogenannte Akkreditierung der Hochschule. Den Vorwurf des Rosobrnadsor, dass an der renommierten Schaninka bestimmte Bildungsstandards nicht eingehalten würden, halten viele für einen Vorwand. Unabhängige Beobachter werten die Entscheidung vielmehr als politisch motiviert. Die Schaninka pflegt enge Verbindungen nach Großbritannien. So können Studenten der Schaninka ihr Studium auch mit einem Diplom an der University of Manchester abschließen. Die Beziehungen zwischen Russland und Großbritannien jedoch gelten seit dem Fall Skripal als stark belastet.
Auch ohne staatliche Diplome können Studierende ihr Studium an der Schaninka abschließen und haben als Alumni dieser renommierten Hochschule hervorragende Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Was derzeit vielen Sorgen bereitet, ist vielmehr die Frage, wie frei Lehre und Forschung in Russland sind. Erst im September vergangenen Jahres hatte eine andere renommierte unabhängige Privathochschule – die Europäische Universität Sankt Petersburg – sogar ihre Lehr-Lizenz verloren. Inzwischen wird dort nur noch geforscht.
Die Schaninka erfährt derzeit viel Solidarität, mehr als 200 russische und internationale Wissenschaftler protestierten in einem offenen Brief gegen die Entscheidung des Rosobrnadsor.
Meduza hat mit dem Dekan der Soziologischen Fakultät Viktor Wachstein gesprochen. Auf Snob kommentiert Boris Grosowski den Fall.
Taissija Bekbulatow: Wie kann es sein, dass an einer Hochschule, die in diversen Rankings an der Spitze steht, so viele Verstöße [gegen die staatlichen Bildungsstandards – dek] gefunden werden?
Viktor Wachstein: Lassen Sie uns diese Verstöße einmal genauer ansehen. Zum Beispiel gilt es als Verstoß, wenn ich mit meinen Studenten für ein Praxisseminar die Stadt verlasse. Das sind Studenten der Soziologie – Feldforscher. Ein weiterer Kritikpunkt sind die fehlenden Laborpraktika in Geschichte der Politik- und Rechtswissenschaften. Ich finde, diese ganze Farce mit der Akkreditierung an sich ist schon ein ziemlich gutes Laborpraktikum in der neuesten Geschichte der Politikwissenschaft. Zu den anderen Verstößen äußere ich mich nicht. Nicht einer davon hat etwas mit der Qualität der Lehre zu tun.
Wie bewerten Sie die Vorwürfe insgesamt?
Als bürokratischen Versuch, eine unvoreingenommene Beurteilung der Qualität von Lehre und Forschung zu imitieren.
Zu welchem Zeitpunkt wurde Ihnen klar, dass es Probleme geben könnte?
Den Verdacht hatte ich schon sehr früh. Als sie [die Inspektoren – dek] in die Hochschule kamen, haben sie zunächst wirklich gearbeitet – haben dagesessen und Berge von Papier durchwühlt: Die Unterlagen meines Fachbereichs passen nicht alle in mein Büro, ich musste sie im Büro des Hochschulpräsidenten stapeln. Aber dann plötzlich haben sie alles stehen und liegen gelassen und sind weggefahren. Und dann natürlich die Gespräche hinter verschlossenen Türen. Auch mit den Experten.
Eine Frage, die sich aufdrängt: Warum das alles?
Das weiß niemand. Nur eines ist klar – die Qualität der Lehre und Forschung ist nicht der Grund für die Entziehung der Akkreditierung.
Wenn die Entscheidung nicht vom Rosobrnadsor kommt, von wem dann?
Ich habe nicht die geringste Ahnung.
Inwiefern könnte die Situation mit den zunehmend schlechten Beziehungen zum Vereinigten Königreich zusammenhängen, wegen denen schon der British Council seine Arbeit einstellen musste?
Wir verlieren uns hier gerade in Mutmaßungen. Das ist einfach nur eine mögliche Variante. Ich persönlich denke, dass das vielleicht auch ein Grund war. Aber wohl kaum der Hauptgrund. Glauben Sie, dass der FSB etwas mit den Vorwürfen zu tun haben könnte?
Aktuell habe ich keinen Anlass, das zu glauben. Aber ich verfolge die Entwicklungen aufmerksam. Wie schätzen Sie die realen Folgen ein, welchen Schaden könnte die Entscheidung der Hochschule zufügen? Und auch den Studierenden?
Es wird sich natürlich auf die Bewerberzahlen niederschlagen. Aber vermutlich nicht zu stark. Unsere Studenten kommen nicht wegen der staatlichen Diplome. Die Schaninka hatte die längste Zeit ihrer Geschichte keine [staatliche – dek] russische Akkreditierung. Und sie ist bestens ohne sie ausgekommen. Wie ist die Stimmung an der Schaninka?
Ganz ehrlich, egal, was für Motive diejenigen haben, die uns damit zeigen wollten: „Für euch ist hier kein Platz“ – sie haben das genaue Gegenteil erreicht. Ich bin schon mein halbes Leben mit der Schaninka verbunden, aber noch nie habe ich eine so unglaubliche Solidarität unter Studenten, Professoren und Ehemaligen erlebt wie jetzt.
„Es gibt nur noch wenig Freiheit für Forschung und Lehre“
Der Fall Schaninka ist Ausdruck einer fatalen Entwicklung in der russischen Hochschullandschaft, kommentiert Boris Grosowski auf Snob.
Die Schaninka ist die führende Universität in Soziologie, Politikwissenschaft und Philosophie, in der Erinnerungsforschung und Geschichte der sowjetischen Zivilisation und in vielen anderen Bereichen. In einem Vierteljahrhundert wird man sich an die Angriffe gegen sie und an die Geschichte der Europäischen Universität in etwa so erinnern wie heute an die Zerschlagung der Genforschung und an die Schließung des Meyerhold-Theaters und an den Philosophen-Dampfer, der 1922 vom russischen Ufer ablegte.
Außerdem ist mittlerweile die seit Jahren laufende Zertrümmerung der RGGU vollbracht, und die Europäische Universität in Sankt Petersburg hat ihre Lehre eingestellt.
Bürokratisches Aufsichtssystem
Aber das Wichtigste ist: Es wurde ein bürokratisches Aufsichtssystem für Hochschulen geschaffen, das es ermöglicht, jede Uni wegen Verstößen gegen tausende kleiner formaler Anforderungen zu schließen. Es trägt den nicht allzu wohlklingenden Namen: Föderale Aufsichtsstelle im Bereich Bildung und Wissenschaft.
Die gesamte Arbeit einer Hochschule ist nun der Bürokratie untergeordnet: Der Wust an Dokumenten, die der Föderalen Aufsichtsstelle vorzulegen sind, übersteigt alle Grenzen der Vernunft. Die Dozenten, Institute, Fakultäten, Bachelor- und Master-Programme produzieren tonnenweise vollkommen sinnlose Berichte.
Über die Qualität der Lehre und Forschung sagen diese allerdings nichts aus. Die Föderale Aufsichtsstelle hat ein Aufsichtssystem geschaffen, das den Dozenten, Forschern und Universitätsmanagern das Leben unmöglich macht und das die besten Universitäten des Landes planmäßig vernichtet. Diese Aufsichtsstelle Rosobrnadsor sollte mitsamt ihrem Kontrollsystem dringend abgeschafft werden. Aber die Regierung hat andere Pläne. Sie will diese Aufsichtsstelle nicht abschaffen, sondern ihr sogar noch das Recht erteilen, wissenschaftliche Einrichtungen zu prüfen.
Ein System, das besten Universitäten das Leben unmöglich macht und sie planmäßig vernichtet
Die Autonomie der Universitäten und der Wissenschaft im weiteren Sinne ist eine der wichtigsten Errungenschaften in der Geistesgeschichte. In Russland ist es damit nun vorbei. Dabei ist die Bildungsaufsicht nur ein kleiner Schritt auf Russlands Weg in eine noch härtere Form des Autoritarismus. Die Geheimdienste brauchen keine Universitäten oder Forschungseinrichtungen, diese Brutstätten des freien Denkens. Wozu braucht es schon die sozial- und geisteswissenschaftliche Expertise der Schaninka? Wir haben eine ganz andere Art von Expertise: Ein vom Geheimdienst beauftragter Experte meldet, der Historiker Juri Dmitrijew beschäftige sich mit Kinderpornografie.
Es ist an der Zeit, offen zuzugeben, dass die Geheimdienste hinter der Zerstörung der Hochschulen stehen. Gleichsam als Vermächtnis der Väter träumen sie von jener Macht, über die die Tschekisten in der Sowjetunion verfügten, als sie der Genetik und der Molekularbiologie einen Riegel vorschoben.
Gigantische Liste von Minimalverstößen
Noch setzt die Schaninka ihre Arbeit fort, sie darf „nur“ keine staatlich anerkannten Diplome mehr ausstellen (so festgelegt für zwei Studienjahre). Aber bedenkt man die gigantische Liste von Minimalverstößen, die die Inspektoren bei der Schaninka festgestellt haben, fürchte ich, dass der Entzug der Lizenz nur eine Frage der Zeit ist. Oder eine Frage der „Kompromissfähigkeit“ der Leitung dieser Bildungseinrichtung und ihrer Fürsprecher bei der RANCHiGS (allein die Kooperation dieser staatlichen Akademie mit der nicht-staatlichen Schaninka lässt die für die Bildung zuständigen Geheimdienstler wohl wütend mit den Zähnen knirschen).
Eine gute Prognose lässt sich hier leider nicht machen. Die Freiheit der Forschung und Lehre wird zunehmend aus den Unis verjagt. Entweder weil Lizenzen entzogen oder weil fähige Forscher und Dozenten ersetzt werden.
Die 2010er haben sich als äußerst schwere Zeit für die russische Wissenschaft und Bildung erwiesen. Und es wird eher schlimmer als besser.
Nach dreieinhalb Jahren Haft kam Oleg Nawalny am 29. Juni 2018 auf freien Fuß. Zu diesem Strafmaß wurde er 2014 verurteilt, genauso wie sein Bruder. Die Strafe des prominenten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny wurde allerdings auf Bewährung ausgesetzt. Die Anklage lautete auf Betrug des französischen Kosmetikkonzerns Yves Rocher, mit dem eine Firma der beiden Brüder Geschäfte gemacht hatte.
Schon während des Prozesses betonte Alexej Nawalny, dass die Anschuldigungen haltlos seien und sein Bruder nur in Sippenhaft genommen worden sei. Auch Vertreter von Yves Rocher bestritten während des Prozesses die Vorwürfe und äußerten mehrfach, die Geschäfte seien zur Zufriedenheit beider Seiten abgewickelt worden. Unabhängige Beobachter attestierten dem Verfahren einen politisch-motivierten Hintergrund. Schließlich befand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Oktober 2017 das Urteil des russischen Gerichts als „willkürlich und deutlich rechtswidrig“.
Diese vernichtende Einschätzung quittierte das Präsidium des Obersten Gerichtshofes Russlands Ende April 2018 mit Schulterzucken: Das Urteil sei rechtsgültig, die Nawalny-Brüder bleiben vorbestraft. Damit zahlt der russische Staat ihnen auch die vom EGMR zugesprochene Entschädigung von insgesamt 97.000 US-Dollar nicht.
Warum diese Entscheidung einer Bankrotterklärung des russischen Rechtssystems gleiche und was man tun müsse, um aus Russland einen Rechtsstaat zu machen – das erklärt Alexander Wereschtschagin auf Republic.
Die Entscheidung des Obersten Gerichts im Fall Yves Rocher (so heißt der Fall der Nawalny-Brüder) kann zugleich als Urteil über das russische Rechtssystem angesehen werden.
Das Präsidium des Obersten Gerichts ist die höchste gerichtliche Instanz der Russischen Föderation, gegen deren Entscheidung man nirgendwo im Land Berufung einlegen kann. Es hatte sich mit dem Fall befassen müssen, weil der Europäische Gerichtshof in Straßburg (EGMR) darin eine Reihe von Verstößen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention erkannt hat. Nach russischem Recht ist das Urteil des Europäischen Gerichtshofs ein „neuer Sachverhalt“ und somit ein Grund für eine Revision des Falls.
Urteilsaufhebung oder Urteilsabänderung – das sind die beiden Möglichkeiten, die das Gesetz dem Präsidium lässt. Die Möglichkeit, es unverändert beizubehalten, gibt es nicht.
Aber wie es bei uns so schön heißt: „Willst du was und darfst es nicht, musst du’s nur wirklich wollen.“ In diesem Fall wollte man es wirklich. Und so verkündete das Präsidium einen abenteuerlichen Beschluss, der vom Gesetz nicht vorgesehen ist: Das Urteil im Fall Yves Rocher wird nicht geändert.
Eine Frage der Technik
Gerechterweise muss man sagen, dass es das zwar sehr selten, aber nicht zum ersten Mal gibt. Das Präsidium hat lange darauf hingearbeitet. Schon vor zehn Jahren tauchten in seiner Verordnung interessante Formulierungen auf. Denen zufolge hat das Präsidium eine Zusatzbedingung für die Revision eines Falls aufgestellt: Es ist nicht genug, dass der Europäische Gerichtshof Verstöße attestiert. Die Urteile, in denen er sie vorfindet, müssen auch rechtswidrig, unzulässig oder unbegründet sein.
Was folgt, ist eine Frage der Technik: Man braucht nur noch zu beweisen, dass ein Urteil, das nach Ansicht des EGMR gegen die Konvention verstößt, doch rechtmäßig, zulässig und begründet ist. Aber weil es keine gerichtliche Instanz gibt, die über dem Präsidium steht und vor der man sich streiten könnte, muss das Präsidium letztlich nur sich selbst überzeugen.
Und genau das hat es getan – in einem beispiellos langen Urteil (etwa zehn Mal so lang wie üblich), das zunächst einmal in allen Einzelheiten darlegt, was für Gauner die Nawalny-Brüder sind. Dann haspelt das Präsidium im Schnelldurchlauf runter, dass „der Europäische Gerichtshof das Strafverfahren […] für ‚fundamental‘ ungerecht hält“, dann verkündet das Präsidium ohne Umschweife: „Ich bin aber anderer Meinung als der Europäische Gerichtshof!“, und bekräftigt seine Position mit einem erneuten Wortschwall über die kriminellen Machenschaften der beiden Brüder und die Gerechtigkeit ihres Gerichtsverfahrens. Und alles nur, um zum erwünschten Schluss zu kommen: Das Verfahren wird wieder aufgenommen, aber die Gerichtsurteile bleiben unverändert.
Ich bin aber anderer Meinung als der Europäische Gerichtshof!
Es ist das erste Mal, dass das Präsidium dem EGMR in der Sache widersprochen hat, wobei es nicht um Aspekte der Prozessführung, sondern um die Bewertung der materiellen Norm selbst geht: Der EGMR wirft den russischen Gerichten vor, das Strafgesetz zu breit und willkürlich ausgelegt zu haben, wodurch eine gewöhnliche unternehmerische Aktivität kriminalisiert wurde; das Präsidium kann nichts dergleichen erkennen und beharrt stur auf seinem Standpunkt, womit es der Position des Europäischen Gerichtshofs jede juristische Bedeutung abspricht.
Genetische Gründe
Kommt diese Entscheidung, trotz ihrer Präzedenzlosigkeit, wirklich überraschend? Wohl eher nicht. Eine echte, grundlegende Reform hat es in den letzten 30 Jahren nicht gegeben; allenfalls oberflächliche Reförmchen – Reparaturen und Rekonstruktionen, die das Wesen des Systems nicht berührten. Von der Justiz als einem eigenständigen Zweig der Staatsgewalt kann keine Rede sein, eigenständig ist sie nur in nebensächlichen Fragen (wie jedes andere Verwaltungsorgan auch), in prinzipiellen Fragen jedoch werden ausschließlich Urteile gesprochen, die der Obersten Gewalt genehm sind – in Russland ist die verkörpert durch den Präsidenten. Und der sieht in Nawalny, wie wir alle wissen, seinen Feind (wozu er natürlich allen Grund hat).
Auf diese Weise bleibt unserem Gerichtssystem das Sowjetische in den Genen. Und ein sowjetisches Gericht ist den Feinden des Regimes gegenüber erbarmungslos, sie dürfen kein Wohlwollen, ja nicht einmal bloße Objektivität von ihm erwarten. Als 1952 das Kriegskollegium des Obersten Gerichts sich mit dem Fall des sogenannten Jüdischen Antifaschistischen Komitees befasste, war es das Politbüro, das die Richter anwies, alle Angeklagten bis auf einen zum Tode zu verurteilen.
Neues Gericht statt Reform
Was sich heute von damals unterscheidet, ist allein die Schwere der Urteile und die Zahl der Personen, die das Regime als seine Feinde ansieht. Ihre Chancen auf ein faires Verfahren sind nach wie vor gleich Null. Und das ist nur natürlich, denn an der Macht sind Sowjetmenschen, deren Gewohnheiten, Stereotypen und Vorstellungen von Rechtsprechung aus einer Epoche stammen, in der Recht nichts anderes war als der Wille der herrschenden Klasse, und das Gericht – sein Werkzeug.
Das Wesen der sowjetischen Justiz ist simpel: Ein „böser Mensch“ muss verurteilt werden, egal wie. Formalitäten, und erst recht die Meinung eines „bourgeoisen“ Gerichts in Straßburg, dürfen dem „Triumph der Wahrheit“ in seinem spezifisch sowjetischen Sinn dabei nicht im Weg stehen: „Der Feind gehört ins Gefängnis“, oder wenigstens schuldig gesprochen.
Die einen kann man nicht zur Rechenschaft ziehen, weil sie an der Macht sind, die anderen sind machtlos gegen alle falschen Vorwürfe
Es gibt einen bestimmten Kreis von Personen, bei denen Rechtsprechung unmöglich ist: Die einen kann man nicht zur Rechenschaft ziehen, weil sie an der Macht sind, die anderen sind machtlos gegen die Vorwürfe, die man gegen sie erhebt, weil sie entweder Feinde der Ersteren sind oder als ein machtfeindliches Element gelten.
Letztendlich läuft es auf die Frage hinaus, ob unsere Richter-Kaste ihre „sowjetischen Gene“ überwinden kann, die sie dazu bringen, sich in jedem politisch gefärbten Fall automatisch auf die Seite der Macht zu stellen. So lange dieser Umbruch noch nicht vollzogen ist (und der Fall Yves Rocher ist eine weitere verpasste Chance), kann von einem Rechtssystem im wahren Sinne des Wortes nicht die Rede sein. Deshalb sollten wir endlich nicht mehr über Reformen diskutieren, sondern darüber, ein neues Rechtssystem zu schaffen.
Die Philologin und Publizistin Irina Prochorowa ist eine der wichtigsten russischen Intellektuellen. Im Radiosender Echo Moskwyspricht sie über das Russland jenseits von Putin und über das Russland jenseits glänzender WM-Fassaden.
Olga Shurawljowa: Haben Sie den Eindruck, dass sich die Stadt verändert hat, wenn Sie jetzt durch die Straßen gehen? Ist irgendetwas passiert, weil das große Fußballfest bei uns stattfindet?
Irina Prochorowa: Es gibt viele ausländische Fans. Die Stimmung ist gut, wie beim Karneval, die Leute sind ausgelassen und ziemlich freundlich.
Gibt es mehr Freiheit?
Ich habe zumindest keine harten Einschränkungen bemerkt. Mir ist etwas anderes aufgefallen: Wie sauber Moskau plötzlich ist. Denn ich laufe ja viel durch die Innenstadt – eigentlich ist es immer ziemlich dreckig: überall Staub, Smog, Schmutz und so. Aber jetzt ist alles blitzblank. Da denke ich mir, interessant, sie können’s ja, wenn sie wollen. Es wäre schön, wenn das einfach auch nach der WM so bliebe.
Das ist natürlich unwahrscheinlich. Während solcher internationalen Großereignisse wird ja auch gern diskutiert, dass sie ein wichtiger Sieg für Putin seien – eine schicke, großartige WM mit bemerkenswert schönen Bildern und einer Riesenmenge Fans. Das könnte doch Putins Image tatsächlich korrigieren, was meinen Sie?
Vielleicht. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Letzten Endes wird es auch etwas Gutes haben … Die Menschen freuen sich, die Fans freuen sich … Und schauen sich um …
Wir denken die ganze Zeit nur an einen Menschen und reden auch immer nur über diesen einen Menschen. Was machen wir uns die ganze Zeit Gedanken um den Präsidenten? Der Präsident kommt ganz gut ohne uns zurecht.
Was machen wir uns die ganze Zeit Gedanken um den Präsidenten? Wichtiger wäre, dass wir uns über unsere eigenen Aufgaben klar werden
Wichtiger wäre es, dass wir uns erstmal über unsere eigenen Aufgaben klar werden. Und Ziele benennen, die für uns wichtig sind, damit wir ein würdiges Leben führen. Bisher gelingt uns das nicht besonders. Wir sind nicht gut darin, uns zu organisieren und haben bislang keine Mittel gefunden, um unsere Anliegen durchzubringen.
Dann stelle ich die Frage anders: Ist die WM eine Möglichkeit, Putins Image oder das Image Russlands und der Russen zu verbessern?
Wenn alles gut läuft und es zu keinen Exzessen kommt, und das nicht zuletzt, weil für die Ausländer besondere Bedingungen geschaffen wurden, werden die Menschen wahrscheinlich in ihre Länder zurückkehren und sagen: „Mensch, war das toll!“
Und da ist noch etwas, das mich beschleicht. Plötzlich laufe ich durch Moskau, sehe die Stadt mit den Augen eines Zugereisten und denke mir: Wirklich eine schöne Stadt, verdammt nochmal!
Im Endeffekt werden die Menschen nicht nur die Putinregierung sehen, sondern auch, dass es hier ganz normale Menschen gibt …
Ganz genau. Gewissermaßen geht es nicht um das Image der Regierung, manchmal funktioniert das völlig anders. Es geht darum, dass es ein anderes Leben gibt, jenseits von Putin, jenseits aller politischen Skandale …
Die Leute sehen nicht nur die Putinregierung, sondern auch, dass es hier ganz normale Menschen gibt
Ich erzähle gern eine erstaunliche Geschichte, die ich einfach nicht vergessen kann. Als ich Anfang der 1990er nach Österreich reiste, gestand mir ein beeindruckender Österreicher, er sei völlig verblüfft gewesen, als er Ende der 1980er eine Liveaufnahme von den Straßen Moskaus gesehen habe. Warum? Er sah eine europäische Stadt, europäische, gutaussehende Menschen, die sogar ganz schick gekleidet waren. Ich sagte: „Mein Gott! Was haben Sie denn erwartet?“ Und er erwiderte: „Ich weiß es nicht. Aber die Propaganda war so mächtig, dass ich nicht damit gerechnet habe, normale Menschen zu sehen.“
Deswegen denke ich: Es kann nicht schaden, wenn sie sehen, dass hier ganz normale Menschen leben.
Aber irgendwie stellen Sie nur traurige Fragen.
Die WM scheint sogar noch das fröhlichste unserer Themen zu sein. Leider geschehen parallel dazu viele Dinge, die derzeit nicht viel Beachtung finden. Doch es gibt Menschen, die jeden Tag von SenzowsHungerstreik mitzählen.
Man kann immer etwas tun. Wenn die Gesellschaft nicht reagiert, hat ein Mensch keine Chance. Wenn wir uns neben Senzow, über den viel gesprochen und geschrieben wird …
Dmitrijew zum Beispiel, sein Fall wird neu aufgerollt.
Ganz richtig. Nehmen wir Juri Dmitrijew, für dessen Freiheit wurde lange gekämpft, und das Gericht hatte ihn praktisch schon freigesprochen. Und plötzlich hebt das Oberste Gericht von Karelien den Freispruch wieder auf …
Der Prozess wird neu aufgerollt. Es wurde nicht nur der Freispruch, sondern auch die Verurteilung annulliert. [Update: Am 28. Juni 2018 ordnete das Gericht in Petrosawodsk an, dass Dmitrijew in zweimonatige Untersuchungshaft muss – dek] Es geht also wieder von vorn los. Ich war ehrlich gesagt nicht sehr überrascht, ich kenne ja unser Rechtssystem. Zu dessen Aufgaben gehört der Schutz von Menschen leider nur selten …
Die Gesellschaft muss einen langen, schweren Kampf gegen diesen Repressionsapparat führen
Was ich sagen will, ist: Die Gesellschaft wird offenbar einen langen, schweren Kampf gegen diesen Repressionsapparat führen müssen, der einen unschuldigen Menschen einfach fertigmachen will … ihn im Gefängnis einfach umbringen will. Denn Dmitrijew ist ein alter Mann, wenn er verurteilt wird, wird er seine Freilassung wohl kaum noch erleben.
Und trotz all dem, wenn die Gesellschaft nicht nachgibt und weiterkämpft, kommen Gespräche zwischen den Menschenrechtsbeauftragten in Gang, die internationale Gemeinschaft entrüstet sich. Und wenn die da oben noch so oft behaupten, es sei uns schnurz – es ist uns nicht schnurz.
Ja, wir sehen am Fall von Serebrennikow sehr gut, wie die internationale Gemeinschaft handelt: Kein Festival, keine Veranstaltung vergeht, ohne dass jemand Serebrennikow erwähnt.
Genau. Und das ist sehr wichtig. Es geht hier nicht nur darum, dass es sich um einen herausragenden Regisseur handelt. Auch dieser Fall ist allem Anschein nach – ich war bei zwei Gerichtssitzungen dabei – von vorn bis hinten mit heißen Nadeln gestrickt. Es liegt nicht die Spur eines Diebstahls vor. Die Sache wurde aus dem Nichts aufgeblasen.
Ich denke, darauf muss man die Aufmerksamkeit lenken und bis zum Letzten kämpfen. Das ist weitaus wichtiger als über das Image vom Präsidenten, Premierminister oder sonstwem nachzudenken.
Aber wir hoffen doch, dass denen ein Prestigeverlust nicht völlig egal ist.
Einen Prestigeverlust wird es nur geben, wenn genügend Menschen geschlossen verkünden: „Wir lassen das nicht zu.“ Das heißt nicht, dass wir dann sofort gewinnen. Dennoch ist es wichtig.
Wenn wir daran denken, dass in unserem Land ein Menschenleben und die Menschenwürde überhaupt nichts wert sind: Ein Lebensabend nach der Pensionierung – das hättet ihr wohl gern! Das Soll erfüllt und ab ins Grab; medizinische Versorgung gibt es für euch auch keine, versorgt euch selbst …
In unserem Land sind Menschenleben und die Menschenwürde überhaupt nichts wert
Von der Rechtsprechung ganz zu schweigen. Das ganze Justizsystem, das den Bürger vor staatlicher Willkür schützen sollte, tut bei uns seit Sowjetzeiten das exakte Gegenteil.
Sicher, wir haben noch keine ausgeprägte Rechtskultur, sie ist noch sehr jung. Ich finde, es scheint nur so, als würden wir uns mit Kleinigkeiten befassen – was sind schon eine Handvoll Menschen, die für irgendeine Person eintreten. Aber das ist falsch. Denn es wird trotzdem wahrgenommen und beeinflusst die öffentliche Meinung.
Keine Regierung, und sei sie noch so hart, kann das ignorieren. Deswegen denke ich, dass es großartig ist und wir mit großer Beharrlichkeit weitermachen sollten.
Wir haben Ojub Titijew noch nicht erwähnt.
Richtig. Ein ganz einfacher Mensch – und Fälle wie seiner häufen sich – kann einfach so, völlig nichtsahnend in diesen Fleischwolf geraten.
Auch dieser arme Junge, der, an sich völlig loyal, nach Deutschland gefahren ist und dort irgendetwas im Bundestag gesagt hat, von wegen nicht alle Deutschen wollten kämpfen. Womit er ja völlig Recht hat! Denn wissen Sie, wenn ein Krieg ausbricht, wird niemand gefragt, ob er kämpfen will oder nicht. Gewehr in die Hand und Abmarsch. Und was ist passiert? Man hat eine Riesenhysterie wegen nichts losgetreten.
Das arme Kind versteht wahrscheinlich bis heute nicht, wo das Problem lag – es gibt ja auch keins. Es ist einfach plötzlich der Mechanismus der Hexenjagd angesprungen. Man hatte ihnen schon lange niemanden zum Fraß vorgeworfen, wie man so sagt.
Allerdings ist hier ein Mechanismus quasi von unten angesprungen. Bei uns beginnen unzählige Prozesse damit, dass es irgendeinem Bürger in den Fingern juckt.
Damals hat sich, glaube ich, irgendein Abgeordneter empört, es kam also nicht ganz von unten. Wissen Sie, wenn man es provoziert – es wird ja sogar dazu aufgerufen, zu denunzieren – dann entsteht natürlich ein System, dass die Leute anregt, so etwas zu tun. Dann tauchen all diese Hetzer auf. Kein Wunder! Die gibt es immer und überall, in jeder Gesellschaft. Die Frage ist allerdings, was dann aus diesen Vorfällen wird.
Und da wird das Problem mit unserem Rechtssystem offensichtlich. Die schrecklichste Situation ist die absolute Hilflosigkeit eines Menschen, der sich nirgends hinwenden kann. Die Rechtsprechung funktioniert nicht.
Wir haben einen Direkten Draht zum Präsidenten.
Ich würde sagen, selbst wenn unser Präsident ein Engel wäre, könnte er als Einzelperson nicht jedem helfen, nicht mal ein bisschen. Er hat einigen wenigen geholfen. Das sind tatsächlich Glückspilze.
Aber wir wissen doch, dass ein Staat als System funktionieren muss, dass es Mechanismen geben muss, die es ermöglichen, Gerechtigkeit und Wahrheit zu erlangen. Wenn diese Mechanismen nicht funktionieren, kann auch der mächtigste Präsident der Welt nichts ausrichten.
Ich fürchte, dass wir in diesem Stadium immer noch auf irgendeine Einzelperson hoffen, die alles regelt. Offen gesagt: Ich kenne die Antwort nicht. Aber ich stelle zumindest Fragen.
Vielen Dank! Das war Irina Prochorowa, die Chefredakteurin von Nowoje Literaturnoje Obosrenije. Mein Name ist Olga Shurawljowa. Ich danke allen, auf Wiedersehen!
Am Eröffnungstag der Fußball-WM in Russland wurde es verkündet: Die Regierung plant, das Rentenalter anzuheben. Für Frauen soll es bis 2034 schrittweise auf 63 Jahre steigen, für Männer bis 2028 auf 65 Jahre – bei einer derzeitigen Lebenserwartung von 67,5 Jahren für Männer. Seit 1932 gehen Frauen in Russland mit 55, Männer mit 60 Jahren in Rente. Sozialpolitische Maßnahmen hatte Putin bereits bei seiner Antrittsrede im Mai angekündigt.
Die geplante Reform findet im Volk nur wenig Anklang und stößt auch bei Gewerkschaften auf viel Unmut. Der Oppositionelle Alexej Nawalny hat für kommenden Sonntag, 1. Juli, Proteste in mehreren russischen Städten angekündigt – allerdings nicht in den WM-Austragungsorten, wo während der Fußball-Weltmeisterschaft ein Versammlungs- und Protestverbot gilt. Einzelne Oppositionsparteien, die liberale Jabloko-Partei und die linksradikale Lewy Front, kündeten trotz des Verbots für den 3. und 4. Juli Proteste auch in Moskau an.
Oleg Kaschin kommentiert auf Republic, warum es allerdings sein kann, dass der wirkmächtigste Protest gegen die Rentenreform aus dem Machtzirkel selbst kommt.
Was die Wortverbindung „menschlicher Faktor“ eigentlich bedeutet, das hat uns das Leben innerhalb weniger Tage auf verblüffende Weise neu vor Augen geführt. Klar, dieser Faktor muss stets beachtet werden: Hinter allen Maschinen, Lenkrädern, Computern, überall stehen und sitzen lebendige Menschen, die Menschen haben Nerven, die Nerven können versagen, der Mensch kann alles vermurksen. Darüber wurden Hunderte von Büchern geschrieben, das ist nichts Neues.
Aber so anschaulich und klar wie diesmal, das ist doch sehr selten und sucht seinesgleichen. Da sitzen sie, in ihren Ministerien, in Instituten, im Kreml, und offenbar hat Kudrin kluge Köpfe um sich – Ökonomen, Finanzanalysten, Soziologen, PR-Leute. Sie sitzen, bereiten die Rentenreform vor, kalkulieren, was sich gehört, analysieren Risiken, zeichnen Tabellen und Grafiken. Alles durchdacht, alles fertig, kann losgehen.
Der menschliche Faktor
Und im entscheidenden Moment setzt er ein, der menschliche Faktor: Ein konkreter lebendiger Mensch, der 18 Jahre an seinem Image so sehr gefeilt hat, dass alle denken, von diesem Menschen würde im Land buchstäblich alles abhängen. Und der will plötzlich, dass diese offenkundig unpopuläre und sozial gefährliche Reform unter keinen Umständen mit ihm in Verbindung gebracht wird – mit Wladimir Putin.
Beim Direkten Draht wurde eine sichtlich vorab vorbereitete Frage nach dem Rentenalter gestellt. Hier hätte Putin sagen können, ja, sie werden es erhöhen, doch stattdessen antwortete er: „Welche Maßnahmen die Regierung zur Lösung dieser Schlüsselaufgabe vorschlagen wird, das müssten wir in Kürze erfahren.“
„Müssten wir erfahren“ – also auch er, Putin, weiß nicht, was sich die Regierung ausgedacht hat. Das ist seine offizielle Position: nichts zu wissen. Und eine Woche später, als Dimitri Medwedew das Reformprojekt verkündet, sagt Dimitri Peskow, Putin nehme nicht Teil an der Debatte über diese Reform, alle Fragen würden an die Regierung gehen. Das Prinzip „sie sind da nicht“ kann Putin offenbar auch auf sich selbst anwenden: Ich bin da nicht (obwohl alle wissen, dass er es ist).
Die Hauptnachricht ist nicht die Erhöhung des Rentenalters, sondern, dass Putin dafür keine Verantwortung übernimmt
Insofern alle Macht auf Putin konzentriert ist, wird sein Unwille, mit der Rentenreform in Verbindung gebracht zu werden, zu deren wichtigster Eigenschaft. Das heißt wörtlich: Die Hauptnachricht ist nicht, dass das Rentenalter erhöht wird, sondern dass Putin keine Kraft gefunden hat, die Verantwortung dafür zu übernehmen.
Eine anonyme, hinter dem Profilbild von Dimitri Medwedew versteckte Reform ist ein deutlich riskanteres Unterfangen, als wenn Putin beim Direkten Draht mit ruhiger Stimme gesagt hätte, ja, wir erhöhen das Alter, anders geht es nicht.
Es gibt eine Palette von Argumenten für die Reform, die deren Befürworter verbreiten. (Ideal war in diesem Sinne ein Beitrag in der Sendung von Dimitri Kisseljow: „Ein munterer Schritt, ideale Körperhaltung. Und das mit 91 Jahren! Der dienstälteste Dozent des Stawropoler DOSAAF Dimitri Skorobogatsch eilt zum Unterricht.“) Diese hätten sogar überzeugend klingen können, wenn zu den Fragen nach Geld und Menschen nicht im letzten Moment noch die Frage nach Putin gekommen wäre, auf die es in keinem Methodik-Lehrbuch eine Antwort gibt.
Die geleakte Info in Vedomosti, dass je nach möglichen Protesten die Reform abgemildert werden könnte, die gilt es durchaus ernstzunehmen. Dass in der seriösen Presse mit anonymen Quellen der Regierung gearbeitet wird, ist eine schon seit langem herrschende Praxis. Und wenn in Vedomosti von einem „der Präsidialadministration nahestehenden Gesprächspartner“ die Rede ist, dann ist der Name des Gesprächspartners sowohl dem Redakteur als auch dem Kreml bekannt, der nichts dagegen einzuwenden hat, dass dieser Gesprächspartner, ohne dass sein Name genannt wird, der Zeitung erzählt, was der Kreml denkt.
Und das Leck darüber, dass „negative Reaktionen zu verringern“ seien, ist ein Zeichen von Unsicherheit des gesamten Machtapparates, denn so ist die Vertikale geschaffen: Wenn Putin diffus ist, dann verschwimmt und wackelt sowieso alles. Die Erwartung von massenweiser Unzufriedenheit kann man als Grund für dieses fehlende Selbstvertrauen erachten – oder auch als Folge. Denn schon jetzt hat insbesondere das Verhalten der Regierung die Reform als umstritten markiert (und nicht durch sie ausgelöste Massenproteste, die es ja noch gar nicht gab).
Destabilisierung von oben
Man kann es auch als Destabilisierung von oben bezeichnen, wenn die Regierung selbst den Anlass für die Proteste liefert. Aber die Frage ist – wer da wem was liefert. Öffentliche politische Kräfte, für die die Rentenreform ein Geschenk hätte darstellen können, gibt es im Land nicht. Eine soziale Protestkultur hat sich in Putins Russland schon vor längerer Zeit herausgebildet. Ihr zugrunde liegt folgender Konsens: Wenn man keine politischen Forderungen stellt, aber beharrlich bleibt, dann kann die Regierung in einen Dialog treten und Zugeständnisse machen.
Dieses Prinzip ist mittlerweile mythologisiert und wird in der Praxis weiter gefestigt, im besten Fall in der Hälfte der laut gewordenen Themen. Doch wie auch immer, die Fernfahrer mit dem Platon-System, die Stadtsanierung, die Mülldeponien um Moskau in diesem Frühjahr, die ewigen Probleme betrogener Baukapitalgeber – nie kam es dazu, dass es den Moskauer Oppositionellen (solchen wie den ehemaligen Bolotnaja-Demonstranten) gelungen wäre, sich in den sozialen Protest einzuklinken und sich an seine Spitze zu stellen. Wache geschoben wird bei den apolitischen sozialen Protesten vor allem von den Protestierenden selbst, die aufrichtig glauben, dass ein Bitten und Niederknien vor der Regierung effektiver ist als Politisierung und Zuspitzung.
Bitten und Knien statt Politisieren
Als eine Art Eichmaß dient bei der Geschichte fast schon seit anderthalb Jahrzehnten der damalige Versuch, staatliche Vergünstigungen durch Geldleistungen zu ersetzen. Als die Regierung, wie es heißt, nach einigen Monaten der Proteste, Zugeständnisse machte und die Reform soweit abmilderte, dass die Proteste aufhörten.
An den Kundgebungen der Vergünstigungs-Befürworter nahm die Nicht-Systemopposition jener Zeit nicht teil. Dafür gab es in vielen Fällen Anlass für die Vermutung, dass lokale Machthaber den Protestierenden loyal oder zumindest neutral gegenüberstanden. Einen offenen Streit mit dem föderalen Zentrum konnten die Gouverneure damals schon nicht mehr führen. Kurz vor den geplanten Geldleistungen waren die Gouverneurswahlen abgeschafft worden. Unter anderem die Unzufriedenheit im Volk war zu dieser Zeit eine neue Form des Feedbacks zwischen den Regionen und Moskau, und ein Druckmittel innerhalb der Machtvertikale. Und obwohl sich die Vertikale des Jahres 2018 selbstverständlich von der Vertikale 2005 unterscheidet, so hat auch jetzt jeder Gouverneur das Bedürfnis nach Verhandlungen mit dem Zentrum und nach Druck auf das Zentrum, selbst wenn er ein dem Kreml maximal treuer junger Technokrat der neuesten Generation ist.
Für die Medwedew-Gegner auf föderaler Ebene eröffnen sich naheliegende Möglichkeiten – es wäre merkwürdig, wenn sie diese quasi laut verkündete Angreifbarkeit der Regierung nicht nutzen würden. Die Destabilisierung von oben, die durch die Unsicherheit Putins provoziert wurde, eröffnet vor allem Kampfmöglichkeiten innerhalb des Systems. Und alle realen Teilnehmer des zukünftigen öffentlichen Kampfes um die Rentenreform sitzen im Machtzirkel.