Am 9. September findet in Russland der sogenannte einheitliche Wahltag statt: Unter anderem sollen 26 Gouverneure neu gewählt werden. Während des Wahlkampfes in der Oblast Samara ist nun eine sogenannte „soziale Werbung“ aufgetaucht. Ebenso anonym wie ein Wahlwerbespot zur Präsidentschaftswahl 2018, sorgt auch diese Werbung derzeit für Aufruhr.
Dabei wirbt der Spot gar nicht für einen Kandidaten, offenbar soll er Menschen einfach dazu animieren, überhaupt zur Wahl zu gehen. Die Mittel dazu sind hier ähnlich wie bei dem berüchtigten Wahlwerbespot zur Präsidentschaftswahl – die Macher bedienen sich erneut homophober Ressentiments und reproduzieren gängige Klischees über Liberale („Liberasten“).
Die Frage, wer dahinter steckt, wird auch bei diesem Video vermutlich nie beantwortet. Viele munkeln, dass die Polittechnologen des derzeitigen technokratischen Interims-Gouverneurs Dimitri Asarow die eigentlichen Auftraggeber seien, Beweise für diese These bleiben allerdings aus.
„Die Russen können gut feiern.“ So lautet ein gängiges Klischee, das der Wahrheit entspricht. Aber möchte man bei den Hardcore-Festen a là Hochzeit wirklich dabei sein? Marina Wassiljewa auf Batenkamit einer kleinen Kulturkunde zum Thema große Feste feiern.
„Guten Abend, meine Damen und Herren! Draußen ist es bitterkalt, aber hier im Saal wärmt uns die herzliche Stimmung. Also nehmt Platz, werte Gäste, macht’s euch bequem, denn so eine Feier, die dauert ihre Zeit. Sucht euch einen gut gelaunten Tischnachbarn und eine hübsche Tischnachbarin. Jeder Dritte ist Kommandeur über eine Feier-Truppeneinheit – zu seinen Pflichten gehört: einschenken, nachschenken, den Tischnachbarn nicht übersehen und sich selbst nicht übergehen.
Während ihr das erledigt, will ich die Gästeliste überprüfen. Zuallererst die Jubilarin – prächtig wie die Königin von England, schön wie Angelina Jolie, sexy wie Pamela Anderson, klug wie Einstein, tüchtig wie Aschenputtel, reinlich wie Meister Proper – ist anwesend! Und die Gäste – teuer wie die Spieler von Chelsea, lustig wie Regierungsbeschlüsse, feurig wie Shirinowski, großzügig wie arabische Scheichs – alle da! Es kann losgehen! […]“
So steht es in einem Skript für eine Feier, zu finden in der VKontakte-Gruppe Texte für Feste.
„Wenn ich das lese, erkenne ich alles wieder“, sagt Nastja aus Ishewsk. „Genau so läuft das ab. Eine irrsinnig aufwändige Hochzeit, auf der ich mal war, fand in Sankt Petersburg statt. Da gab es einen Zauberer, Sandmalerei, einen Schokoladenbrunnen. Die Mutter des Bräutigams hatte eine Schachtel mit exotischen Schmetterlingen mitgebracht. Und dann die Spiele: Triff mit dem Stift in die Flasche. Alle Teilnehmer binden sich ein Band um den Bauch, an dem hinten ein Bleistift oder ein Kugelschreiber baumelt, wie ein Schwanz. Mit dem soll man in eine Flasche zielen. Wenn ich daran denke, ist mir das echt peinlich. Die Finnen haben ein Wort dafür, wenn man sich für jemand anderen schämt. Jemand tut etwas, und du schämst dich.“
„Es gab durchaus schon mal peinliche Situationen, in denen ich mich geschämt hab“, gibt der Hochzeitsfotograf Walentin zu. „Für den Stumpfsinn und die Blödheit der Leute, die sich bei Spielen irgendwelche Gegenstände hin- und herreichen und die Körper aneinanderreiben.“
Den angebotenen Aktivitäten kann man sich nicht entziehen
Bei Nötigungen auf Feiern sehen Anthropologen zwei zentrale Mechanismen am Werk: Erstens ist da der rituelle Aspekt – die Ältesten sind gleichsam Priester, die dafür sorgen, dass die Traditionen streng befolgt werden. Zum anderen – gewöhnliches Mobbing wie in jedem Kollektiv, in dem sich die Mehrheit auf Kosten eines Opfers Bestätigung holt.
An dem Mobbing beteiligen sich in der Regel fast alle Gäste, während die Rolle der Priester bei Familienfeiern die engagiertesten Vertreter der älteren Generation übernehmen – Eltern, Großväter, Großmütter. Sie bestimmen, was wohin kommt, wer sprechen darf und wer nicht, wer was unbedingt gegessen haben muss. Manchmal geht die Priesterrolle auch auf den Moderator über – den Tamada, eine Art Alleinunterhalter.
Ritual und Mobbing
Vor ein paar Jahrhunderten hat es im Leben eines Menschen nur ein paar wenige Großereignisse gegeben. Das waren Geburt, Heirat und Tod – Momente, in denen ein Mensch von einem Zustand in einen grundlegend anderen wechselt, daher bezeichnen die Ethnologen diese Ereignisse als „Übergangsriten“. Heute gibt es solche Riten im Grunde nicht mehr: Die Grenzen zwischen den Feiern sind verwischt, Feste wie Geburtstage und Silvester, die man jedes Jahr feiert, sind hinzugekommen. Die Geburt eines Kindes zelebrieren die meisten nicht mehr, weil sie alle Hände voll zu tun haben, Beerdigungen sind immer weniger ritualisiert und gleichen immer mehr jedem anderen Festgelage. Hochzeiten besitzen heute die größte Bedeutung und das größte Gewicht, auch der Ablauf hat sich mit der Zeit fest etabliert: Standesamt, Spaziergang, Essen, Spiele, Tanz.
Festes Drehbuch sorgt für Wiedererkennung
Den beiden Mechanismen – Mobbing und Ritual – ist gemeinsam, dass sie einem strengen Drehbuch folgen, ohne jede Improvisation. Und genau deshalb setzt bei Filmen wie Gorko! bei uns dieser Wiedererkennungseffekt ein.
Kulturanthropologe Michail Okunew erklärt: „Die Witze drehen sich um Alter, Gewicht und Kleidung der Gäste, weil der Moderator Unbekannte zusammenbringen und unterhalten muss – und diese Dinge betreffen ohne jeden Zweifel alle ohne Ausnahme.“
Während der Feiern führen die Moderatoren häufig Situationen herbei, die es den Gästen schwermachen, sich den angebotenen Aktivitäten zu entziehen, weil alle Blicke auf sie gerichtet sind. Alleinunterhalter Alexander holte zum Beispiel bei einer Veranstaltung einen Gast auf die Bühne, damit der dem jungen Paar gratuliert, aber nachdem der Toast gesprochen war, verkündete Alexander plötzlich laut, der Gratulant würde jetzt „den Mr. Bean tanzen“ und bat den DJ, die Musik zu spielen.
Und als es ans Brautstraußwerfen ging, forderte er die unverheirateten Frauen auf, vorher Selfies zu machen – erst mit dem ältesten und dann mit dem „sexiesten Mann im Saal“. Alle diese Ankündigungen spricht der Moderator ins Mikrofon, und der, der dann gerade auf der Bühne steht, müsste nicht nur den Tamada enttäuschen, sondern alle Anwesenden, die ihre Blicke auf ihn gerichtet haben und erwarten, dass alles glattläuft und niemand einen Aufstand macht.
Witze über die Hochzeitsnacht
„Ein eigenes Thema für Witze ist die Hochzeitsnacht“, erzählt Nastja aus Ishewsk. „Manchmal geht die Feier mehrere Tage lang, und die Gäste kommen am Morgen nach der Hochzeit wieder zusammen. Und dann hörst du irgendeinen Vater oder Onkel sagen: „Sieh an, der Bräutigam kann kaum noch gerade stehen, hat sich wohl mächtig ins Zeug gelegt!“ Oder: „Na Natascha, wie geht’s dir denn so heut‘ Morgen?“ Und natürlich: „Wann kommen die Kinderchen?“ Außerdem lassen sich solche Gäste auch gerne mal volllaufen und baggern dich an. Und du kannst nichts tun und sie zum Teufel jagen, weil deine Mama daneben steht, und wenn du irgendwem eine Abfuhr erteilst, bist du die Zicke. Nein sagen kannst du nicht, das macht alles nur noch schlimmer. Tu lieber so, als hättest du Spaß, dann ist das alles schneller vorbei.“ Nastja meint, man findet man das alles normal, solange man in seiner kleinen Heimat ist, „aber sobald man da rauskommt, merkt man, wie krass das eigentlich ist.
„In der neunten Klasse war ich auf der Hochzeit meiner ältesten Cousine“, erinnert sich Assja aus Pskow. „Um die fünfzig Leute waren da, und die Schwestern der Frau von Onkel Wassja – jede von ihnen konnte über den ganzen Tisch hinweg irgendwas über die Hochzeitsnacht brüllen oder, dass sie nur ja gleich mit den Kindern anfangen sollen, weil Kinder ja das Wichtigste in der Ehe sind. Für mich war das damals der reinste Schock. Ich war so traurig! In meiner Vorstellung war eine Hochzeit (besonders die meiner Lieblingscousine) was Tolles: Du trägst ein schönes Kleid, bist mit dem Menschen zusammen, den du liebst, alle sind gerührt und beglückwünschen euch.
Aber stattdessen war ich in einem Schmierentheater gelandet, und jeder konnte ihr die intimsten Fragen stellen, schlüpfrig-debile Anspielungen auf die Hochzeitsnacht machen, und sie saß da in ihrem Kleid, wurde rot vor Scham, schwieg und schaute zu Boden. Nein, natürlich, alle wussten, was eine russische Hochzeit ist, und alle haben genau das erwartet. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass irgendjemand protestiert hätte – wogegen denn? Ist doch normal! Manchmal dachte ich, die Braut würde gleich losheulen und weglaufen, aber alle feierten fröhlich, aßen Salate und tanzten.“
Sie isst schon seit zwei Stunden, jetzt reicht’s mal langsam
Hochzeitsmoderator Alexander lässt Kommentare fallen wie: „Sie sind 70 Jahre alt, Sie können sprechen, solange Sie wollen“, „Sie isst schon seit zwei Stunden, jetzt reicht’s langsam!“ Aber auf die Frage, ob es eine ungeschriebene Sperrliste von Hochzeitswitzen gibt, sagt er: „Man darf nicht intim werden, nicht die Gäste erniedrigen. Vor allem nichts sagen, was irgendwen beleidigen könnte. Auf keinem Gebiet.“
Dimitri Piterski, einem anderen Alleinunterhalter, zufolge, hänge es vom „Humorniveau“ des Moderators ab, wie gut ein Scherz ankommt. „Der eine kann locker das Thema Scheidung auf einer Hochzeit anschneiden und die Gäste mit einem spontanen Witz zum Brüllen bringen. Wenn man entsprechende Literatur zu der Frage liest, gibt es eine Reihe von Themen, über die man bei Feiern (und generell) keine Witze macht: Religion, Physiologie, Patriotismus, die eigene Überlegenheit. Die Liste ist lang, aber ich für meinen Teil glaube, intelligente Witze kann man zu jedem Thema machen. Nur dumme Witze sind verboten, und noch dümmer ist es, Witze zu machen, wo sie nicht verstanden werden“, sagt Dimitri.
Das ist eine Art Traumatherapie
Auch wenn viele, vor allem junge Menschen zugeben, dass sie sich auf Hochzeiten unwohl fühlen, hat das Fremdschämen offenbar auch was Gutes: In so einem Moment bist du froh, dass das gerade nicht dir passiert. Auf VKontakte gibt es eine Gruppe namens Die Hochzeit deiner Klassenkameradin, die sich im Prinzip genau diesem Gefühl widmet.
In dieser Gruppe kursieren mehrere Videos, die schnell Hunderttausende von Zuschauern haben und zum Beispiel die Braut dabei zeigen, wie sie über das erste Kennenlernen rappt („Dann holst du mich zum Spazierengehn, komm mal mit, und nun kann’s für immer voll abgehn“), oder wo Hochzeitsgäste sich mit vor den Bauch gebundenen Kissen Wettrennen liefern und so weiter. Den Kommentaren nach zu urteilen, gefällt keinem, was er da sieht – aber man schaut es trotzdem. „Das ist eine Art Traumatherapie“, meint Oleg, einer der Abonnenten. „Viele haben das selbst erlebt, ich zum Beispiel sehe mir das an und denke: Gott sei Dank, dass das diesmal nicht ich bin. Oder: Okay, das ist noch schlimmer als bei uns, wenigstens musste bei uns der Bräutigam nicht aus dem Brautschuh trinken.“
Oleg erzählt, er sei schon auf vielen Hochzeiten gewesen und habe sich oft unwohl gefühlt. Aber trotzdem fand er es auch lustig. „Das Problem ist, dass alles durcheinander geht. Ich singe zum Beispiel gerne Karaoke, aber dann folgt danach gleich irgendein dämliches Ratespiel, wie: Wer von beiden macht später den Abwasch, und dann wieder was Witziges, und du hast keine Zeit zu reagieren. Naja, eigentlich wie im richtigen Leben.“
Russische Festrituale können nicht als brutal bezeichnet werden
Der Anthropologe Michail Okunew findet nicht, dass man russische Festrituale als „brutal“ bezeichnen kann. Vielmehr würden diejenigen, die möglichst unbemerkt bleiben wollen, einfach deshalb von den anderen Gästen zum fröhlichen Mitmachen „gezwungen“, weil die Gäste bereits in einem feierlichen, „rituellen“ Zustand seien und wollen, dass alle Anwesenden diesen Zustand mit ihnen teilen. „Wenn man über Gewalt sprechen will, dann gibt es meiner Meinung nach in der russischen Festtradition nur eine Form: Faustkämpfe, die während der Masleniza und an den kleineren Festen danach, an den Wochenenden bis Pfingsten ausgetragen werden. Ich kann nicht bestätigen, dass es in der russischen oder russländischen Tradition versteckte Formen von Gewalt bei Festen gibt, denn das würde den moralisch-ethischen Normen unserer Kultur widersprechen.
Ich glaube, das heutige Programm – Essen-Spiele-Tanz – hat seine feste Form schon vor gut fünftausend Jahren angenommen, in der Mittelsteinzeit, als die Jäger von einer erfolgreichen Jagd nach Hause kamen oder es einen anderen religiösen oder gesellschaftlichen Anlass zum Feiern gab. Man bereitete Speisen zu, lieferte sich Wettkämpfe, tanzte zu primitiver Musik ums Feuer und versuchte die junge Frau, die einem gefiel, mit einer nonverbalen ‚Unterhaltung‘ über die Erhaltung der eigenen Art zu beeindrucken. Und das Vollstopfen der Kinder mit Essen ist eine ganz normale Sorge darum, dass ein Kind satt wird. Man sollte da nicht unnötig viel Semantik suchen.“
Sandarmoch ist ein ursprünglich namenloses Waldgebiet in Karelien. In der Zeit des Großen Terrors wurde es neben Kommunarka bei Moskau und Lewaschowo bei Leningrad zu einem der größten geheimen Erschießungsplätze des NKWD. Stalins Schergen erschossen hier 1937/38 mehr als 7000 Menschen und verscharrten sie in Massengräbern. 60 Jahre später wurden sie von Memorial-Mitarbeitern unter Leitung des Lokalhistorikers Juri Dmitrijew entdeckt und zur Gedenkstätte Sandarmorchgemacht.
Seit 1998 findet am 5. August in Sandarmoch der Tag des Gedenkens der Opfer des Stalinismus statt. In diesem Jahr wird er zugleich ein Tag der Solidarität mit Juri Dmitrijew sein. Dem Memorial-Mitarbeiter wurde erst die Herstellung von Kinderpornografie vorgeworfen. Nach seinem Freispruch im April 2018 läuft nun eine neue Ermittlung: Ihm wird der sexuelle Missbrauch seiner Ziehtochter zur Last gelegt.
Das Leben der Angehörigen von Opfern des Großen Terrors war geprägt von dem oft unbegreiflichen Verschwinden ihrer Nächsten. Nun kommen Nachfahren derer zu Wort, die in dem Wald Sandarmoch getötet wurden und erst seit 1998 Namen bekommen. Zugehört hat ihnen Anastasija Platonowa für Takie Dela.
Wir waren morgens schon in die Schule gegangen, unser Vater machte sich gerade für die Arbeit fertig. Er war Verwalter eines Warenlagers, das sich gegenüber von unserem Haus befand. So sahen wir ihn nie wieder. Als wir nach Hause kamen, war er nicht da, sie haben ihn direkt von der Arbeit weggeholt. Am selben Abend durchsuchten sie das Haus. Unsere Mutter hatte eine Schatulle, in der sie die Briefe unserer älteren Schwestern aufbewahrte, die in Petrosawodsk lebten. Die Ermittler haben diese Schatulle förmlich umgekrempelt, sonst hatten wir auch nichts, nur unsere Betten.
Die Menschen gingen zur Arbeit und weinten laut
Das war 1937, ich war zehn Jahre alt. Ich weiß noch, dass sie alle geholt haben. Wir lebten mitten in der Stadt, direkt vor dem Haus war eine Bushaltestelle. Wenn man morgens aus dem Haus ging, gab es da nur Heulen und Tränen. Die Menschen gingen zur Arbeit und weinten laut. Bei allen ist jemand geholt worden.
Auch abends nichts als Tränen. Papas Schwester war zu uns gekommen und meine großen Schwestern aus Petrosawodsk. Wir waren sechs Geschwister. Als unser Vater plötzlich verschwunden war, wurde es bitter. Es war hart.
Wir haben ihn gesucht, meine Mutter fuhr nach Medweshja Gora, meine Schwestern schrieben Briefe, aber man sagte uns nichts. Nur einmal haben sie ein Päckchen entgegengenommen, mit Schuhen: Der Schnee war mittlerweile schon geschmolzen, aber als man ihn geholt hatte, hatte er noch Filzstiefel an. Ansonsten hörten wir nichts von ihm.
Wir lebten in Powenez, und manchmal wurden am Haus Gefangene vorbeigeführt, zum Kanal [in Powenez befinden sich die ersten Schleusen des Belomorkanals – Anm. Takie Dela], und dann setzten wir uns auf die Bank vor unserem Haus und beobachteten sie: Vielleicht würden wir ja unseren Vater sehen. Es waren viele, sie liefen und liefen und liefen.
Aber wir sahen ihn nie, unsere Mutter starb, ohne zu wissen, wo er liegt. Wir hörten und wussten also nichts von ihm.
Wir sahen ihn nie, unsere Mutter starb, ohne zu wissen, wo er begraben liegt
Erst als die Ausgrabungen bei uns in Sandarmoch losgingen, erfuhren wir, dass er dort ist. Wir sahen im Gedenkbuch nach und fanden seinen Namen. Alle haben geweint, alle. Meine Schwester Raja und ich sind dorthin gefahren, nach Sandarmoch – und es war, als würde die eine Stelle uns besonders anziehen. Dort stellten wir einen Gedenkstein auf.
Als ich erfuhr, dass mein Vater dort ist, war das bitter. Sie haben ihn nicht leben lassen! Wenn er noch gelebt hätte, wäre ja auch unser Leben ganz anders verlaufen, wir hätten eine Ausbildung machen können …
Aber wenigstens wissen wir jetzt, wo er ist, können ihn besuchen. Ich glaube, sie haben damals nach „Parasiten“ gesucht, aber mitgenommen haben sie unschuldige Menschen. Diese Menschen hatten nichts verbrochen, sie hätten noch lange leben können …
Ljudmila Jakowlewna Stepanowa, Medweshjegorsk
Sie kamen nachts, klopften an die Tür. Er hat sofort gewusst, was los war: Wir lebten im Dorf, da führte nicht einmal eine richtige Straße hin, wer sollte da sonst mitten in der Nacht kommen? Schon als sie ihn das erste Mal verhaftet und wieder freigelassen hatten, hatte er zu meiner Mutter gesagt: „Dascha, wenn nachts jemand kommt, dann wollen sie zu mir.“
Und so war es auch. Meine Mutter hat erzählt, dass sie alle Männer aus unserem Dorf geholt haben, alle bis auf den Stallknecht Jascha, den einzigen echten Nichtsnutz. Mama lebte dann mit uns Fünfen, alles Mädchen: Jahrgang 1928, 32, 34, ich von 37 und Walja von 39. Wir zwei Kleinen waren von einem anderen Vater.
Sie haben alle Männer aus dem Dorf geholt, nur den einzigen Nichtsnutz nicht
Als der Krieg begann, war ich vier und meine kleine Schwester zwei. Wir wurden nach Saoneshje evakuiert. Nach dem Krieg kehrten wir nach Hause zurück. Ohne Mann hatte es meine Mutter sehr schwer. Sie wurde zur Holzverarbeitung geschickt, meine Schwester und ich waren den ganzen Winter über alleine, da war sie elf und ich acht. Zur Schule bin ich in Soldatenstiefeln gegangen, die ich bei uns im Haus gefunden hatte. Einmal hat meine Mutter darum gebeten, dass man ihr etwas Stoff gibt, damit sie Sachen für uns nähen kann. Da hörte sie: „Halt den Mund. Weißt du, wo dein Mann ist? Da kommst du sonst auch hin.“
Wir wussten gar nichts von ihm. Nach der vierten Klasse bin ich arbeiten gegangen – meine Mutter hat mich als Kindermädchen nach Medweshja Gora geschickt. Zur Schule bin ich nicht mehr gegangen. Später habe ich am Belomorkanal gearbeitet. Schon damals hat man gesagt, er sei auf Knochen errichtet.
Schon damals hat man gesagt, der Kanal sei auf Knochen errichtet
In den 1950er Jahren kam ein Schreiben, dass unser Fjodor in Norilsk an Bauchtyphus gestorben wäre. Dem Schreiben waren 100 Rubel beigelegt. Mama hat dieses Geld auf uns vier Schwestern aufgeteilt, jede bekam 25. Ich habe mir Wollstoff gekauft, für ein Kleid.
Später stellte sich heraus, dass er nie in Norilsk gewesen war. In den 1990ern bekamen alle, deren Eltern erschossen wurden, sogenannte Gedenkbücher. Da haben wir ihn dann gefunden. Und nicht nur ihn, sondern alle aus dem Dorf. Da war sein Bruder und der Mann seiner Tante, Gorbatschow. Ich war erschüttert: Sie hatten uns gesagt, er wäre irgendwo in Norilsk gestorben, und plötzlich liegt er hier, ganz in der Nähe! 40 Kilometer hatte man ihn weggebracht und erschossen.
Meiner Meinung nach liegt die Verantwortung bei der obersten Führung unseres Landes. Vollkommen unschuldige Menschen sind umgekommen. Er war Flößer – was soll er angestellt haben? Er hat Holzstämme zusammengebunden. Das war das reinste Verbrechen: Alle Männer haben sie vor dem Krieg weggeholt.
Tamara Semjonowa Schikowa, Sosnowka
Meine Großeltern mütterlicherseits, Alexandra Dmitrijewna und Iwan Fjodorowitsch, lebten damals im Rajon Kalinin. 1937 wurde mein Großvater geholt. Wir haben nie wieder von ihm gehört. Nur von einem ehemaligen Nachbarn, dass er ihn 1941 in einem Strafbataillon gesehen habe, das in südlicher Richtung abgeführt wurde. Dort ist er auch gestorben.
Meine Großmutter hatte fünf Kinder, ihr war klar, dass sie alleine nicht überleben würde. Deshalb beschloss sie, nach Leningrad zu fahren und die Kinder dort am Bahnhof zu lassen, damit man sie in ein Kinderheim bringt.
Großmutter hat nie wieder geheiratet, sie hat immer gesagt, so einen wie ihren Wanetschka würde sie nicht noch einmal finden. Aber darüber zu sprechen hatten wir Angst, das ganze Leben lang hatten wir Angst davor und wenn ich sie bat: „Oma, lass uns doch versuchen, ihn zu finden“, sagte sie: „Lass ruhen. Ich fürchte mich vor diesen Zeiten.“
Ich habe in den Listen nach ihm gesucht, aber nichts gefunden.
Ich habe deinen Wanja denunziert
Was damals geschehen ist, kann ich noch immer nicht begreifen. Noch vor dem Krieg war ein Nachbar zu meiner Großmutter gekommen. Er warf sich vor ihr nieder und sagte: „Alexandra Dimitrijewna, verzeih mir. Ich war es, ich habe deinen Wanja denunziert.“ Er hatte ihn aus purem Neid angezeigt, mein Großvater war ein tüchtiger Mann, fleißig und geschickt. Dafür musste er büßen. Wie soll man sich das erklären? Der Nachbar hat alles zugegeben, hat um Verzeihung gebeten. Aber sie hat zu ihm gesagt: „Gott wird dir vergeben, ich kann das nicht.“
Sandarmoch war schon immer ein unguter Ort. Selbst als dort noch nichts entdeckt war und wir nichts davon wussten. Einmal sind mein Mann und ich mit dem Fahrrad in die Pilze gefahren. Wir fuhren weit, bis in dieses Waldstück. Als wir anfingen Pilze zu suchen, wurde mir plötzlich ganz anders. Da habe ich zu meinem Mann gesagt: „Edik, lass uns schnell hier weg, mir ist hier ganz unheimlich.“
Alexandra Alexejewna Bassalajewa, Pinduschi
Beide meiner Großväter waren Repressierte. Papas Vater war Pionier bei der Leibgarde, hatte in der Schützenbrigade beim Semjonowski-Leibgarderegiment gedient. Er wurde mit zwei Georgskreuzen ausgezeichnet – 1. und 4. Grades.
In der Kolchose war er Brigadier, irgendwer hat ihn angezeigt: Man machte ihn für den Tod eines Pferdes verantwortlich, dafür kam er für zehn Jahre ins Lager nach Komi. Er hat überlebt, aber er kam als gebrochener kranker Mann zurück.
Mamas Vater war ein Kulak: Zwei Desjatinen [circa zwei Hektar – dek] Land, Waldbestand. Sie kamen nachts. Der Vorsitzende der Kolchose hatte ihn angezeigt, und er wurde erschossen, er liegt bei Leningrad. Meine Mutter hat mir von meinem Großvater erzählt. Was für ein guter Mann im Haus er war, sehr ordentlich, ein kluges Köpfchen. Aber immer, wenn sie das erzählte, fügte sie hinzu: „Sascha, sag das nur ja niemandem.“ Außerdem sagte sie: „Der Geschichte sind die Augen verbunden, aber wenn die Zeit gekommen ist, wird sich alles offenbaren. Die Leute werden erfahren, was 1937/38 vor sich ging.“
Ich verstehe nicht, wofür man völlig unschuldige Menschen erschossen hat
Als ich 1997 von Sandarmoch erfuhr, war ich erschüttert. Ich fahre seitdem jedes Jahr am 5. August dorthin. Lege Blumen an einem der Gräber nieder und denke an meine Großväter. Ich verstehe nicht, wofür man völlig unschuldige Menschen erschossen hat. Ich habe an den FSB geschrieben, sie haben mir beide Akten geschickt, von dem einen und dem anderen Großvater. Das ist ein einziger Witz! Stalin hat damals verkündet, der Klassenkampf werde verschärft, also haben sie angefangen, kräftige Männer mit einem gut laufenden Hof zu verhaften.
Irgendwie hat es meine beiden Eltern nach Brjuchowo verschlagen.
Meine Urgroßmutter väterlicherseits erzählte, dass sie nachts gekommen sind und meinen Urgroßvater mit einem Schwarzen Raben weggebracht haben. Sie und ihre beiden Söhne wurden nach Karelien deportiert.
Meine beiden Urgroßeltern waren Finnen. Pjotr Fjodorowitsch und Anna Dawydowna Rantanen, sie hatten im Leningrader Rajon Toksowo gelebt.
Auch mein Opa mütterlicherseits war Repressionen ausgesetzt: Im Krieg war er gefangengenommen worden, aus dem Lager befreiten ihn die Amerikaner. Zurück in der UdSSR wurde er sofort verhaftet und ebenfalls nach Karelien deportiert.
An meine Uroma erinnere ich mich noch deutlich. Sie sprach sehr gut Finnisch und hat sich immer von der Masse abgehoben: Sie beherrschte mehrere Sprachen, nähte außergewöhnliche Kleider, sah einfach ganz anders aus …
Ich denke, meine Familiengeschichte ist nur ein Millionstel von dem, was im Land los war
1956 bekam sie mit der Post eine falsche Todesurkunde. Darin hieß es, mein Urgroßvater sei 1942 in der Oblast Kirowo an einem Lungenabszess gestorben. In Wirklichkeit ist er fast direkt nach seiner Verhaftung erschossen worden. Das haben wir erst erfahren, als die Archive geöffnet wurden.
Ich denke, meine Familiengeschichte ist nur ein Millionstel von dem, was im Land los war. Die Menschen sind durch die Hölle gegangen. Über Sandarmoch wissen wir zumindest Bescheid, aber wie viele solcher Massengräber gibt es wohl noch entlang des Kanals, die niemals jemand finden wird?
Die Menschen sind durch die Hölle gegangen
Bei uns in Brjuchowo stand immer eine eingefallene Holzkirche. Schon in den 1930er Jahren wurde sie geschlossen, bis 1942 fanden Gottesdienste darin statt, es gab einen Altar. Dann stand sie lange Zeit leer, war dem Verfall ausgesetzt, und uns blutete das Herz. Jetzt wird sie wieder aufgebaut. Diese Kirche und Sandarmoch – das ist ein und dieselbe Epoche. Wir bauen auf, was zerstört wurde, wir beschäftigen uns mit unserer Geschichte – damit unsere Kinder eine Zukunft haben.
Unbekannte Angreifer haben in der Nacht auf Dienstag in der Zentralafrikanischen Republik drei russische Staatsbürger getötet: den Dokumentarfilmer Alexander Rastorgujew, den Kriegsreporter Orchan Dshemal und den Kameramann Kirill Radtschenko.
Die Journalisten waren seit dem 28. Juli in dem Bürgerkriegsland unterwegs. Für das Online-Medium ZUR des Oligarchen Michail Chodorkowski arbeiteten sie an einem Film über die russische Söldner-Einheit Wagner. Das Militärunternehmen wird dem Putin-Vertrauten Jewgeni Prigoshin zugeschrieben. In der Vergangenheit geriet es immer wieder in die Schlagzeilen wegen mutmaßlicher Beteiligung an den Kriegen in der Ostukraine und in Syrien.
Rastorgujew, Dshemal und Radtschenko wollten nach Angaben des Journalisten Rodion Tschepel Hinweisen auf Russen in Militäruniform nachgehen, die angeblich in der Zentralafrikanischen Republik immer wieder gesichtet wurden. Bereits im Juni hatte die Novaya Gazeta über russische Staatsbürger in der Zentralafrikanischen Republik berichtet, die dort als Militärausbilder sowie möglicherweise auch als Leibwache des Präsidenten tätig sind.
Der Angriff soll sich nahe der Stadt Sibut ereignet haben, wie der dortige Bürgermeister der Nachrichtenagentur Reuters berichtete. Näheres über die Täter ist bislang nicht bekannt. Laut einer Studie des Forschungsinstituts IPIS vom Dezember 2017 sind bewaffnete Wegelagerer auf den Straßen der Zentralafrikanischen Republik keine Seltenheit. Die politische Lage in dem Land, das zu den ärmsten der Welt zählt, ist äußerst instabil. Seit Ausbruch des Bürgerkrieges 2013 sind tausende Menschen ums Leben gekommen.
Die Novaya Gazeta und Meduzaveröffentlichten Nachrufe von Journalisten an ihre verstorbenen Kollegen.
Orchan Dshemal
[bilingbox]Maxim Schewtschenko: Er kannte keine Angst. Konnte sich einfach nicht fürchten. Er ging immer auf Gefahren zu – selbst wenn das zuweilen ziemlich unvernünftig war. In Donezk lief er vor meinen Augen mitten im Feuer, er ging aufrecht und schwang seinen Stock – seit einer Verletzung hinkte er. Rundum gingen Minen hoch, alle lagen, aber er stand aufrecht, ohne sich zu verstecken. Ich wusste, dass er in die Zentralafrikanische Republik wollte. Er wollte mit anderen Journalisten, die dort arbeiten, etwas zu TschWK Wagner machen. Ich wollte ihm das ausreden: „Wozu? Hier ist genug zu tun, ein Haufen Arbeit liegt hier.“ Er wollte mit einer knackigen, unglaublichen Reportage in den großen Journalismus zurückkehren, aus dem er nach einer schweren Verletzung in Libyen verschwunden war. Und so ist er dorthin gefahren, denn rationale Erwägungen, Worte wie „das ist gefährlich“ haben ihn nie von etwas abgehalten. Denn wo es gefährlich war, da war Orchan. Orchan war in der letzten Zeit der beste Journalist in unserem Land. Er war während des Krieges in Südossetien. Mit dem Fotoapparat in der Hand lief er in den Reihen der angreifenden Soldaten mitten im Feuer. Hat darüber ein wunderbares Buch geschrieben. Er war im Donbass und an weiteren Orten. Orchan ist den Tod eines echten Kriegsreporters gestorben. Er war der mutigste Mensch, den ich im Leben kannte. Er war ein wunderbarer Mensch.~~~Максим Шевченко: Это был человек, который не знал страха. Он просто не умел бояться. Он шел всегда навстречу любой угрозе — даже порой несколько безрассудно. На моих глазах в Донецке он ходил под огнем в полный рост, так, размахивая палочкой — он хромал после ранения. Вокруг рвались мины, все лежали, а он стоял в полный рост, даже не прятался.
Я знал, что он собирается в Центральноафриканскую республику. Он собирался делать материал о «ЧВК Вагнера» вместе с другими журналистами, которые там работают. Я его отговаривал от этого: «Зачем? Тут полно дел, полно работы здесь». Он вообще хотел вернуться с каким-то ярким, невероятным репортажем в большую журналистику, из которой он выпал после тяжелого ливийского ранения. И он поехал туда, поскольку его никогда не останавливали рациональные рассуждения, слова «это опасно». Потому что там, где было опасно, там был Орхан. Орхан был лучший журналист последнего времени в нашей стране. Он был во время войны в Южной Осетии. С фотоаппаратом в руках шел с цепями атакующих десантников — под огнем. Написал об этом прекрасную книгу. Он был на Донбассе, он был в других разных местах. Орхан умер смертью настоящего военного журналиста. Орхан был храбрейший из людей, кого я знал вообще в жизни. Это был прекрасный человек.[/bilingbox]
[bilingbox]Nadeshda Keworkowa: Er war der große Sohn eines großen Vaters. Er war Muslim, der bei allem, was er tat, Muslim blieb. Seine gesamte journalistische Arbeit war der Gerechtigkeit gewidmet. Er war immer da, wo es brannte. Ein unglaublich, übermenschlich mutiger Mensch. Er war der beste Journalist der muslimischen Gemeinschaft, und bei dem Sturm, den wir alle gerade spüren, ist das ein großer Verlust. Ein unersetzlicher Verlust.~~~Надежда Кеворкова: Великий сын великого отца. Это был мусульманин, который оставался мусульманином, что бы он ни делал. Вся его журналистская работа была посвящена справедливости. Он был, конечно, на острие. Человек невероятной, нечеловеческой храбрости <…> Это был самый лучший журналист мусульманского сообщества, и по тому шквалу, который мы все ощущаем, это большая утрата. Я бы даже сказала невосполнимая.[/bilingbox]
Alexander Rastorgujew
[bilingbox]Andrej Loschak: Letztes Jahr haben wir an ähnlichen Geschichten gearbeitet. Ich habe einen Film über die ehrenamtlichen Helfer von Alexej Nawalny gedreht, war in allen Landesteilen, in denen es Regionalbüros gibt. Und Sascha hat fürs deutsche Fernsehen einen Film über die russischen Wahlen gedreht, zu dessen Protagonisten auch Nawalny gehörte. Wir sind uns in dieser Zeit oft begegnet. Ich war immer davon fasziniert, wie professionell er arbeitet. Dabei muss man sagen, dass ich auch ziemlich neidisch war, wir haben ja dasselbe gemacht und waren Konkurrenten. Ich habe viel von ihm gelernt. Mut, und Freiheit … Ich habe mich beim Fernsehen immer an ein bestimmtes Genre gehalten, er aber hatte keine Genres – er war ein freier Mensch und ein mutiger. Auch sein Tod macht das deutlich.
Ich war in einer ähnlichen Situation: Ich sollte auch in die Zentralafrikanische Republik reisen, um einen Beitrag für den Aurora-Preis zur Förderung der Menschlichkeit zu drehen. In der Zentralafrikanischen Republik gab es einen Geistlichen, der Menschen rettete während des Bürgerkriegs, der dort schon jahrelang andauert. Wir sollten dorthin, hatten schon Logistik und Sicherheit durchgeplant und sogar einen Geleitschutz der UN-Blauhelme arrangiert. Aber im letzten Moment haben die Organisatoren unsere Leben gerettet, indem sie uns rieten, nicht in diesen Teufelskessel zu fahren und irgendwas aus den Archiven zu nehmen.
Tja, und Sascha ist gefahren.~~~Андрей Лошак: В последний год мы работали над похожей историей. Я делал фильм про волонтеров Алексея Навального, ездил по всем регионам, где были штабы. А Саша снимал фильм для немецкого телевидения про российские выборы, и одним из главных героев в нем был Навальный. Мы пересекались часто. Я всегда заворожено смотрел на то, как профессионально он работает. Но при этом, надо сказать, сильно ревновал, потому что мы делали одно и то же и, конечно же, друг с другом соревновались, конкурировали. Я у него учился многому. Смелости какой-то, свободе… Я работал на телевидении в рамках определенного жанра, а у него этих жанров не было — он был свободный человек и смелый. И смерть его это подтверждает.
У меня была подобная ситуация: я тоже должен был поехать в ЦАР на съемку ролика для гуманитарной премии «Аврора». В ЦАР был священник, спасавший людей во время гражданской войны, которая там не прекращается уже много лет. И мы должны были туда ехать, прорабатывали логистику и безопасность, даже договорились, что у нас будет конвой ООН. Но в последний момент организаторы спасли нам жизнь, сказав собрать что-нибудь на архивах и посоветовав не лезть в это пекло.
А вот Саша полез.[/bilingbox]
[bilingbox]Vitali Manski (Meduza): Während ich mit Ihnen rede, läuft gerade der Fernsehsender Doshd, mit Newsticker, dass Orchan Dshemal, Alexander Rastorgujew und Kirill Radtschenko ums Leben gekommen sind.
Alle drei Tode sind eine riesige Tragödie. Doch die Gesellschaft erkennt das Niveau und die Größe von Rastorgujews Persönlichkeit nicht an. Denn er hat mit der Sprache des Dokumentarfilms Kunstwerke geschaffen. Zu der Zeit, als es noch keine Filme gab, haben so etwas die großen russischen Schriftsteller wie Tolstoi und Gogol getan: Sie haben das russische Dasein beschrieben – mit all seiner Größe und seinem Dreck, seiner Sauberkeit und einer Art Dürftigkeit, der Breite und der Enge, im riesigen Ausmaß der russischen Widersprüchlichkeit. Rastorgujew war ein begnadeter Künstler. Zumindest soll sein Tod, zum Teufel damit, die Menschen wachrütteln und dazu bringen, seine Epen anzusehen. Er hat sich reingefressen ins Leben und festgebissen, ist in sein Nervenzentrum vorgedrungen – und hat dort geatmet. Nur dort konnte er existieren – das ist eine einzigartige, einmalige Eigenschaft. ~~~Виталий Манский (Meduza): Сейчас я с вами разговариваю, у меня перед глазами «Дождь», и идет такая строка, что Орхан Джемаль, Александр Расторгуев и Кирилл Радченко погибли. Все три смерти — это огромная трагедия. Но общество не осознает уровень и масштаб личности Александра Расторгуева. Потому что он языком документального кино создавал такие художественные произведения, которые когда-то, когда еще не было кинематографа, делались великими русскими писателями — Толстым, Гоголем, — описывавшими русское бытие, со всем его величием и грязью, чистотой и какой-то скудостью, широтой и узостью, во всем огромном диапазоне российского противоречия. Расторгуев был выдающийся художник. Хотя бы смерть, черт возьми, должна людей встряхнуть и заставить посмотреть эти его эпосы.
Он въедался, вгрызался в жизнь, залезал в ее подкорку — и там он дышал. Он мог существовать только в этом пространстве — это совершенно уникальное, неповторимое свойство.
2014 verhängten die EU, die USA und einige andere Staaten Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Diese Reaktion auf die Angliederung der Krim sowie Russlands militärisches Eingreifen in der Ostukraine wurde bis dato immer wieder verlängert und ausgeweitet. Russland beantwortet die Sanktionen stets mit Gegensanktionen. Obwohl auch diese der russischen Wirtschaft nachhaltig schaden, bricht sie nicht zusammen.
Worin besteht die Wirkung der Sanktionen? Und wie haben sie die russische Wirtschaft verändert? Jakow Mirkin ist einer der bekanntesten Wirtschaftswissenschaftler Russlands, für Republic beantwortet er diese Fragen in zehn Punkten.
Punkt 1. Die Idee einer Wirtschaftsunion mit der EU, wenn auch einer langsamen und komplizierten, ist vom Tisch. 2013 hatte der EU-Anteil fast 50 Prozent des russischen Außenhandelsumsatzes ausgemacht. Es schien, als würde es nur noch einige Umarmungen brauchen, und das Paar wäre nicht mehr zu trennen. Und dann kämen im Weiteren: Freihandelsabkommen, Visafreiheit, Ausbau politischer Verbindungen.
Aber das alles blieb ein Traum. Heute liegt der EU-Anteil noch bei 42 bis 43 Prozent. Allmählich, um jährlich ein Prozent, sinkt Russlands Anteil an den Öl- und Gaslieferungen in die EU, obwohl die EU immer noch ein Drittel der Brennstoffe aus Russland bezieht. Russland und die EU koppeln sich substantiell voneinander ab.
Derzeit ist die russische Wirtschaft quasi hängengeblieben – auf zwei Brücken zwischen zwei Modernisierungszentren: der EU und China. Chinas Anteil an Russlands Außenhandelsumsatz, der Anfang der 2010er Jahre 7 bis 8 Prozent betrug, liegt heute bei 15 Prozent. Statt einer glücklichen Bindung mit der EU entsteht eine eurasische Wirtschaft. Aber egal ob mit der EU oder mit China – überall läuft es für Russland auf das sogenannte Hinterhof-Modell hinaus: Rohstoffe im Tausch gegen Maschinen, Technik und Konsumgüter.
Punkt 2. Wir sind zur Selbstfinanzierung übergegangen. Bis 2014 hatte Russland ein für aufstrebende Märkte typisches Modell: Das eigene Finanzsystem ist unbedeutend, die großen Unternehmen ziehen wegen des Geldes in aller Herren Länder, nach London, New York oder Hongkong, und die kleinen und mittelständischen Unternehmen leben von dem, was übrigbleibt – den paar Kopeken, die auf dem heimischen Markt zu holen sind. Mit den Sanktionen kam ein Wetterumschwung, und der Zugang Russlands zum internationalen Kapitalmarkt wurde drastisch eingeschränkt.
Die Auslandsschulden erreichten mit 451 Milliarden Dollar in den „sonstigen Bereichen“ (sprich bei allem, was in Russland zur Privat- und nicht zur Bankenwirtschaft gehört) ihren Höhepunkt im Juni 2014. Im Oktober 2017 waren es noch 353 Milliarden Dollar. Die Auslandsschulden russischer Banken lagen im April 2014 bei 214 Milliarden Dollar, im Herbst 2017 bei 108 Milliarden Dollar.
Wenn die Firmenkasse schrumpft, will jeder wissen, warum. Teilweise – unter Berücksichtigung von Formalia wie dem schwankenden Wechselkurs und so weiter – liegt das daran, weil Russlands Devisenreserven gesunken sind. Anfang 2014 waren es insgesamt 514 Milliarden Dollar, ihr niedrigstes Niveau erreichten sie im April 2015 mit 351 Milliarden Dollar, im Oktober 2017 war der Wert wieder auf 424 Milliarden Dollar gestiegen.
Punkt 3. Durch die Sanktionen hat die einheimische Produktion leicht zugenommen. Vor den Sanktionen lautete das Motto: Alles kaufen. In der internationalen Arbeitsteilung hatte Russland die Rolle des Rohstofflieferanten inne. Womöglich wurde man erst durch die Sanktionen daran erinnert, dass 10 bis 15 Millionen Menschen in der Rohstoffgewinnung arbeiten, dass die restlichen 130 Millionen aber auch etwas machen müssen, nicht nur bewachen, regulieren, verkaufen und letzten Endes rauben. Erinnern wir uns an die Importabhängigkeit von 2014: bei Werkzeug und Maschinen waren es 70 bis 90 Prozent; und in einzelnen Bereichen sogar 95 bis 100 Prozent. Im Februar 2015 wurden im großen Russland, dem Dritten Rom, in dem mehr als 140 Millionen Menschen leben, 225 Metallschneidemaschinen, 216 Schmiedepressen und 371 Holzverarbeitungsmaschinen hergestellt. Das deckte nicht einmal ein Zehntel der Nachfrage an Maschinen ab, die ausgewechselt werden mussten. Der Importanteil lag bei 90 Prozent.
Wie sieht es heute aus? Im Februar 2018 wurden 326 Metallschneidemaschinen und 293 Schmiedepressen produziert. Zu den Holzverarbeitungsmaschinen liegen keine Daten vor, Rosstat veröffentlicht sie nicht.
Es gab in den drei Jahren also ein Wachstum, ein großes sogar, geht man von dem niedrigen Ausgangswert aus, aber das Hauptproblem ist geblieben: die geringe Produktion nach den Verlusten in den 1990er bis 2000er Jahren und die enorme Importabhängigkeit. Wie steht es um die Elektronik? „Der Anteil von ausländischer Elektronik in russischen kommerziellen Kommunikationssatelliten beträgt 70 Prozent“, wie Igor Tschursin, der stellvertretende Leiter der Föderalen Kommunikationsgesellschaft am 20. April 2018 sagte.
Die Importabhängigkeit ist also gesunken? Ja, aber um einen unbedeutenden Prozentsatz. Ende 2014 lag der Anteil von Importgütern im Handel bei 36 Prozent, heute liegt er bei 22 Prozent (3. Quartal 2017).
Punkt 4. Es kam zur Bildung einer Krückenwirtschaft, also von kleinen, extrem schnell wachsenden Inseln als Antwort auf die Sanktionen: die Getreide- und Milchproduktion, Teile des Maschinenbaus, die pharmazeutische und die Rüstungsindustrie sowie die Territorien vorauseilender Entwicklung. Das sind alle, die jährlich um acht bis zehn Prozent wachsen. In diesen Industriezweigen wurde der Markt künstlich normalisiert. Es gibt leichteren Zugang zu (staatlich geförderten) Krediten, der Zins wurde (durch Subventionen) gesenkt, es gibt mehr Steuer- und Investitionsvorteile, mehr staatliche Zuschussprogramme, weniger bürokratische Hürden. Alles zusammen führt zu einem schnellen Wachstum, das durch den Wertverfall des Rubels zusätzlich begünstigt wird. Wir sehen also ein selektives, segmentorientiertes Vorgehen vor dem Hintergrund einer schwerfälligen, tief schlafenden Wirtschaft.
Punkt 5. Es kommt zur Verstaatlichung, Konzentration und Bündelung aller finanziellen Ressourcen in Moskau und zur Zunahme von Marktregulierungen als Vorbereitung einer Mobilisierungswirtschaft. Je größer der Druck von außen, je umfassender die Sanktionen, desto mehr staatliche Eingriffe gibt es. Schätzungen zufolge hat die Verstaatlichung in der Realwirtschaft mittlerweile 70 Prozent erreicht. Dasselbe gilt für den Bankensektor. Wenn dieser Trend, der übrigens schon vor den Sanktionen einsetzte, anhält, werden wir mit einem staatlichen Anteil von 80 bis 85 Prozent bald eine ganz andere Wirtschaft haben, und zwar eine, die einer Zentralverwaltungswirtschaft, einer abgeriegelten Festung nahekommt.
Die kleinen und mittelständischen Unternehmen werden entweder an staatliche Projekte angebunden sein oder auf dem Niveau von Schumacherbüdchen existieren, von denen es Anfang der 1930er Jahre soviele gab. Wir werden ein extremes Wachstum großer Unternehmen beobachten und eine noch größere Abnahme kleiner Betriebe, was ihre Bedeutung, Anzahl und Kaufkraft betrifft. In der Folge kommt es zu einem finanziellen und bevölkerungsmäßigen Dahinwelken der Regionen, die immer mehr vom föderalen Zentrum abhängen werden, von seinen riesigen Projekten vor Ort. In Russland ist der Anteil der staatlichen Konsumausgaben am BIP mit 17,5 bis 18 Prozent sehr hoch, höher als in den USA oder China. Eine Wirtschaft der Vertikalen ist kein gutes Mittel, um die technologische Kluft zum Westen zu kitten.
Punkt 6. In- und ausländisches Eigentum, das aus Russland stammt, wird voneinander abgekoppelt und intensiv umgestaltet. Auf wessen Seite steht ihr, meine hochverehrten Herrn Kapitalisten? Die besitzende Klasse muss entscheiden, an welchem Ufer sie bleiben möchte – dort in den Offshores der Schweiz oder Irlands oder hier bei uns, an unserem Ufer. Darauf drängt alles hin: die Sanktionen, die russischen Programme gegen die Offshores, der Austausch von Steuerdaten, die Kapital-Amnestie.
Punkt 7. Der verheerende Rückzug von Ausländern aus der russischen Wirtschaft. Wir brauchen sie: für den Technologietransfer, wegen ihrer Managementerfahrung und ihrer neuen Produkte. Aber sie verlassen uns. Die Anzahl von Unternehmen mit ausländischer Beteiligung lag 2013 bei 24.000. Bis 2015 ist sie mit 17.600 (Angaben von Rosstat) erheblich gesunken. Ende 2013 gab es in Russland 252 Banken mit ausländischen Beteiligungen, Ende 2017 waren es nur noch 160.
Punkt 8. In der Wirtschaft herrscht eine bedrückende, finstere Atmosphäre voll schlechter Vorahnungen und hoher Risiken. Es ist ein Risiko, mit den Russen Geschäfte zu machen – davon zeugen die nicht abgeschlossenen Geschäfte und die niedrige Investitionsquote. Bezeichnend ist auch die Situation in der Baustoffindustrie, die ihrer Natur nach den Weg in die Zukunft weist: Hier herrscht das vierte Jahr in Folge eine Flaute. 2014 gab es bei den Backsteinen einen Einbruch um 25 Prozent, bei Beton- und Zementziegeln um 50 Prozent, bei Zement um 25 Prozent, bei Mauersteinen laut Schätzungen um 30 bis 35 Prozent. Der Umfang der Bauarbeiten sinkt seit fünf Jahren in Folge. Mittlerweile liegt er um etwa 15 Prozent niedriger als 2013.
Punkt 9. Mehr Bomben. Die Rüstungsindustrie verzeichnete 2016 ein Wachstum von 10 Prozent, 2017 von 7,5 Prozent. Vergleichen wir das mit der „einfachen“ industriellen Produktion: Dort gab es 2016 ein Wachstum von 1,6 Prozent und 2017 von 1 Prozent.
Was sagt uns das? Das Wettrüsten, wenn es in derselben Form und mit denselben Investitionen wie in den 1980er Jahren stattfindet, könnte die russische Wirtschaft in die Knie zwingen. Die Waffen, das Öl, ein über dem Weltdurchschnitt liegendes Wachstum, die Modernisierung – man müsste schon ein Genie sein, um diese einander widersprechenden Aufgaben gleichzeitig und zudem halb isoliert in den nächsten 10 bis 15 Jahren zu lösen.
Punkt 10.Schlechtere Lebensmittelqualität infolge der Gegensanktionen und ein Sinken des Realeinkommens der Bevölkerung. Wie kann man das herleiten? Dazu legt der Rospotrebnadsor keine Statistiken vor. Ein sehr einfacher Index ist der Import von Palmöl nach Russland: Der stieg bis 2017 im Vergleich zu 2011 um 50 Prozent (Angaben des Rosstat). Im Januar und Februar 2018 gab es im Vergleich zu jeweils demselben Monat 2017 abermals einen Zuwachs von fast 40 Prozent. 2018 könnten wir die Marke von einer Million Tonnen dieses wunderbaren Produkts knacken, das die Produktion von billigen Lebensmitteln ermöglicht.
Fazit Die Wirtschaftssanktionen sind eine Herausforderung, auf die wohl oder übel sowohl die Staatsmaschinerie als auch alle anderen reagieren müssen. Durch Wachstum, neue Ideen oder Anreize, aber sicher nicht dadurch, dass man sich in sein Schneckenhaus verkriecht. Mit einer ordentlichen Portion Ironie kann man den Sanktionen sogar danke sagen: Sie haben die Idee einer großen und verschiedenste Bereiche umfassenden russischen Wirtschaft wiederbelebt, die sich nach einer Modernisierung auf eine wachsende Binnennachfrage stützt und nicht auf den Export und die Kapitalabwanderung ins Ausland. Die Sanktionen haben sogar die Regierung dazu gebracht, in dieser Richtung aktiv zu werden. Ihre wirtschaftspolitische Formel ist allerdings äußerst schwach: maximale Menge an Hindernissen (Haushalt, Kredite, Zinsen, Währungskurs) + immer mehr bürokratische Hürden + Verstaatlichung + Anreize und Hilfskrücken, die ausgewählten Industriezweigen zugutekommen.
Aber natürlich wäre es irrsinnig, für die Sanktionen dankbar zu sein, denn mit jeder neuen Runde wird die Atmosphäre im Land kälter, die Vertikale steiler und werden die Stimmen lauter, die finden, Russland befinde sich im Kalten oder sogar hybridenKrieg und auf Kriegshandlungen müsse man mit der Mobilmachung reagieren.
Und das ist womöglich die schlimmste Folge der Sanktionen: Sie bringen uns einer isolierten und zentral-administrativen Mobilisierungswirtschaft immer näher. Hätte man diesem Szenario vor vier Jahren noch eine Wahrscheinlichkeit von 2 bis 5 Prozent beigemessen, so liegt sie heute wohl bei 15 bis 20 Prozent. Und wenn Minderheitsmeinungen zur Norm werden, fragt man sich natürlich: Was sind das bitteschön für Sanktionen, die das Land dazu drängen, sich in fünf bis sieben Jahren in eine kasernenhafte Festung zu verwandeln, die weder für uns noch für die anderen erbaulich ist – und am allerwenigstens für unseren größten Wirtschaftspartner, die EU? Und was sind ihre tatsächlichen Folgen, wenn sie ein extrem hohes Risiko für die ganze Welt bedeuten?
Gegen die Rentenreform protestierten am Wochenende russlandweit mehrere zehntausend Menschen. Aufgerufen dazu haben sowohl oppositionelle als auch systemoppositionelle Kräfte wie die Kommunistische Partei der Russischen Föderation. Diese hatte am 19. Juli bei der ersten Lesung in der Duma gegen die Rentenreform gestimmt, genauso wie die LDPR und Gerechtes Russland. Abgeordnete der Regierungspartei Einiges Russland konnten die Systemopposition jedoch überstimmen.
In der Gesellschaft ist die Rentenreform sehr unpopulär. Auch Wladimir Putin distanzierte sich nach der Abstimmung von den Plänen. Er machte deutlich, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen sei. Laut Beobachtern sind die Proteste im ersten Reformentwurf mit einkalkuliert: Die Regierung sei zu Zugeständnissen bereit, um den Protest schrittweise zu neutralisieren.
Für die Politologin Tatjana Stanowaja bedeutet dies, dass der Kreml die Regierungspartei bloßstellt, die in den letzten Wochen für die Reform eingetreten ist. Aber auch für Putin selbst könnte das Ganze Folgen haben:
[bilingbox]Der einzige Legitimitätsquell des derzeitigen Regimes ist Wladimir Putin.
Doch jetzt gerade wird er zum ersten Mal gleichzeitig zum Quell der Delegitimierung: Der Regierungspartei, den föderalen und gesetzgebenden Parlamenten und den regionalen Eliten gegenüber ist das Verhalten beim Durchdrücken der Rentenreform, mit der Putin offiziell angeblich nichts zu tun hat, inkorrekt. Das ist ein höchst risikoreiches Spiel, und es hat das Potenzial, dem System als Ganzem einen heftigen Schlag zu versetzen.
Bestimmt kann man wieder etwas zurechtrücken (den Gesetzesentwurf abmildern) (und das wird im Herbst auch geschehen). Viel schwieriger wird jedoch sein, der Gesellschaft zu erklären, dass das Putin-Regime weiterbesteht, trotz dieser merkwürdigen Verabschiedung einer nichtputinschen Entscheidung (des Gesetzentwurfs in erster Lesung).
„Wo ist der Präsident?“ Diese Frage ertönt immer öfter in den Korridoren und führt zu einer Gegenfrage: „Kann denn ein Regime, in dem eine kritische, sehr bedeutende Reform ohne den Präsidenten gestartet wird, putinsch genannt werden?“
Sollte der Prozess der Deputinisierung weitergehen, so wird es nicht mehr Putin sein, der zum Jahr 2024 den Machttransfer vorbereitet, sondern das System wird den Putin-Transfer übernehmen.~~~Единственный источник легитимности нынешнего режима – Владимир Путин. Но сейчас впервые он становится одновременно и источником делегитимации – неаккуратное отношение к партии власти, федеральному и законодательным парламентам, региональным элитам при продавливании пенсионной реформы, к которой Путин публично якобы не имеет никакого отношения, крайне рискованная игра, способная нанести удар по системе в целом. Отыграть назад (смягчить законопроект), безусловно, можно (и это будет сделано осенью). Однако гораздо сложнее будет убедить общество, что путинский режим продолжает существовать, несмотря на странное принятие непутинского решения (законопроекта в первом чтении). «Где президент?» – вопрос, который все чаще звучит в кулуарах, формулируя встречный: «Может ли режим, в котором критично значимая реформа стартует без президента, называться путинским?» Если тенденция депутинизации режима продолжится, то уже не Путин будет заниматься подготовкой транзита власти к 2024 г., а система займется транзитом Путина.[/bilingbox]
In ganzer Länge erschien der Artikel am 29.07.2018unter dem Titel Tschem pensionnaja Reforma opasna dlja Putina(dt. „Weswegen die Rentenreform gefährlich für Putin ist“). Das russische Original lesen Sie hier.
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Sie hatten die Gesichter grün bemalt, in Solidarität mit Oppositonspolitikern, die immer wieder mit Seljonka bespritzt werden, hielten Badeentchen in die Höhe: Unter den landesweit tausenden Demonstranten im März 2017 waren auffallend viele Jugendliche. Die Proteste damals waren laut Beobachtern die größten Demonstrationen in Russland seit den Bolotnaja-Protesten 2011/12.
Aufgerufen zur Anti-Korruptions-Demo hatte damals der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. Zuvor hatte er mit seinem Fonds für Korruptionsbekämpfung Vorwürfe gegen Premier Medwedew publik gemacht. Außerdem hatte der Handymitschnitt von Schülern Furore im Runet gemacht, die ihrer Lehrerin und Direktorin politisch Paroli boten.
Was für eine Generation ging da auf die Straße? Was treibt sie an? Und was sind ihre Ziele? Der bekannte Journalist Andrej Loschak spürt solchen Fragen in der mehrteiligen Filmdoku Wosrast Nessoglassija (dt: „Alter des Nicht-Einverstanden-Seins“) nach, die im unabhängigen TV-Sender Doshd ausgestrahlt wurde. Ein Interview.
Katerina Gordejewa: Wessen Idee war es, eine Serie über junge Nawalny-Anhänger zu drehen?
Andrej Loschak: Ich habe keine Ahnung, was ich gemacht hätte, wenn das ein Auftrag gewesen wäre. Wenn Nawalny vorgeschlagen hätte: „Hör mal, willst du nicht einen Film über uns drehen?“ Ich bin mir nicht sicher, ob ich den angenommen hätte – bei all meiner, sagen wir mal, tiefen Sympathie für diese Gruppe.
Warum hast du beschlossen, das zu drehen?
Wie so viele – ich glaube, auch du – habe ich mich im März 2017 gefragt, was denn da für Leute auf die Straßen gehen. Warum so viele Jugendliche, was das für ein Protest ist, der demografisch und inhaltlich so anders ist als das, was es bisher gab. Ich wartete dann auf die nächste Protestaktion, um zu prüfen: Ist das wirklich eine wichtige Geschichte oder eine Ente, die zur Sensation aufgeblasen wird.
Was ist das für ein Protest, der demografisch und inhaltlich so anders ist als das, was es bisher gab?
Am 12. Juni 2017 ging ich auf den Puschkinskaja-Platz. Und war echt baff, dass ich dort keinen einzigen Bekannten traf. Keinen von denen, mit denen ich immer demonstriert hatte. Alles war anders. Alles wirklich junge Leute. Mit guten Gesichtern. Ich war beeindruckt: Wie sie reagierten, wie sie Widerstand leisteten. Sie waren keine Extremisten, wie etwa die Nationalbolschewiken und andere radikale Gruppierungen, die 2012 protestiert hatten. Nein. Vollkommen normale und sehr gesunde Menschen. Viel gesünder als die erwachsene Gesellschaft, die sie umgibt. Wobei es an diesem Tag auf dem Puschkinskaja-Platz gar keine erwachsene Gesellschaft gab. Wir haben diesen Protest nicht unterstützt, nicht demonstriert, nur zugesehen, wie Putin vor unseren Augen voller Selbstvertrauen und unausweichlich seine nächste Amtszeit antritt.
Du springst von der Beobachtung zur Schlussfolgerung: Erstens bist du der Meinung, Veränderungen könne man nur mit Straßenprotesten herbeiführen. Und zweitens: Wenn wir bei diesen Straßenprotesten nicht dabei waren, heißt das, dass nun nicht mehr wir die Welt verändern werden, sondern die Jungen. Uns bleibt nur mehr, auf sie zu hoffen und in der Warteposition zu verharren. So?
Ja. Wir waren und sind nicht dabei, und das heißt, die Entscheidung liegt nicht mehr bei uns.
Aber es gibt noch eine, zudem tragische, Parallele: Sie sind die erste (wieder!) Generation, die keins auf den Deckel bekommen hat. Sie haben 2012 und die darauf folgende bittere Enttäuschung nicht miterlebt, keine Repressionen und Strafen erfahren, sie kennen den scheußlichen Beigeschmack des Bolotnaja-Prozesses nicht und die maßlose Reaktion darauf, die, wie mir scheint, uns alle ertränkt und begraben hat. Erinnerst du dich an die Meme über Moder und Ausweglosigkeit? Mit dieser Stimmung sind wir einfach nicht fertig geworden.
Was wir vor allem nicht gemacht haben: Wir haben die Proteste nicht fortgesetzt. Waren denn viele von uns bei Verhandlungen im Bolotnaja-Prozess? Ich persönlich war auf keiner einzigen. Ich war nur bei einer Demonstration vor dem Gerichtsgebäude, wo etwa 300 bis 500 Leute zusammenkamen. Die haben alle ordentlich was abgekriegt, die OMON hat gewütet.
Wer wusste davon? 99 Prozent von denen, die 2012 auf dem Bolotnaja-Platz waren, haben das lieber vergessen. So sieht bei uns kollektive Verantwortung aus. Dabei hatten die sich Leute aus unserem engsten Kreis gegriffen. Unsere politisch Gleichgesinnten. Und wir haben sie verraten. In Massen hätten wir vor dem Gericht stehen sollen und nicht aufgeben dürfen. Wenn Zehntausende bei Gericht erschienen wären, hätte das für die Situation einen realen Unterschied gemacht.
Glaubst du das?
Wie wir sehen, bewirkt der gesellschaftliche Druck etwas. Ich weiß nicht, ob Dmitrijew ohne diesen Druck nicht doch neun Jahre bekommen hätte. Die Bolotniki hatten keine breite gesellschaftliche Unterstützung. Das ist unser Versäumnis. Meines. Außerdem habe ich Schuldgefühle den Teenies gegenüber, denen wir kein Vorbild waren und die wir jetzt, jung wie sie sind, für das kämpfen lassen, wofür wir selber nicht gekämpft haben.
Ich habe Schuldgefühle den Teenies gegenüber, die wir jetzt für das kämpfen lassen, wofür wir selber nicht gekämpft haben
Wären wir verantwortungsbewusster gewesen, müssten sie das nicht machen. Sie könnten sich jetzt friedlich ihrer Ausbildung widmen und an ihre Karriere denken. Wegen unserer Untätigkeit leben sie nun in einem Land, in dem die Notwendigkeit zu kämpfen nur immer dringlicher wird.
Die Jugend braucht doch immer Widerstand. Pubertierende begeistern sich mal für Musik, mal für Kino, und mal eben für Politik. Ich glaube, das ist nichts Besonderes, was nur in unserer Zeit oder in unserem Land so wäre. Und das hat nichts mit unserer Schuld zu tun.
Da bin ich anderer Meinung. Ich habe sehr lange keine politisierte Jugend mehr gesehen. Früher war Politik – auch für uns – uncool, uninteressant, man hatte ein derart infantiles Verhältnis dazu, dass ehrlich gesagt Hopfen und Malz verloren waren.
Die Kindheit deiner neuen Helden aus Wosrast Nessoglassija ist auch kein Honiglecken. Aber sie sind offenbar zu ganz anderen Menschen herangewachsen. Warum?
Sie sind weniger infantil. Erstens sind sie, nach russischem Maßstab, in einer Zeit mit relativ hohem Lebensstandard aufgewachsen. Zweitens sind sie die erste Generation, die mit dem Internet und nicht mit dem Fernsehen großgeworden ist.
Aber doch nicht mit Nawalny!
In gewissem Sinne doch! Als Politiker ist auch er gemeinsam mit ihnen im Internet großgeworden.
Aber es geht nicht nur um ihn. Sie sind mit konkreten Entwicklungen unzufrieden. Weil die, ehrlich gesagt, ziemlich scheiße sind. Und die junge, unverdorbene Seele muss nach dem Ideal streben, eine Abweichung vom Ideal muss Protest auslösen und nicht den Wunsch nach Anpassung. Also sind jetzt Leute da, bei denen das alles eine normale Reaktion auslöst. Nicht wie bei uns. Wir haben unsere Chance verpasst.
Rückblickend bin ich über mich selbst entsetzt: Wie verantwortungslos ich generell mit Politik umgegangen bin
Infantile Volltrottel waren wir. Rückblickend bin ich über mich selbst entsetzt: Wie verantwortungslos ich generell mit Politik umgegangen bin, als wir uns darum hätten kümmern müssen. In den 1990ern hatten wir das Gefühl, wir hätten mehr oder weniger die richtige Richtung eingeschlagen. Dieses ganze Spektakel – die „Familie“, Beresowski, der betrunkene Jelzin – war mir zutiefst zuwider, beeinträchtigte mein Leben jedoch nicht, aber als Putin auftauchte, spürte ich intuitiv, dass jetzt eine irreparable Megascheiße beginnt. So war es auch.
Was meinst du, denkt die Generation von Wosrast Nessoglassija auch so geringschätzig über uns, die wir unsere Chance verpasst haben?
Weiß der Geier. Diese Leute sind sehr viel verantwortungsbewusster. Sie diskutieren wirklich viel über Politik, Geschichte, das interessiert sie. Nawalny könnte sie nicht faszinieren, wenn sie nicht innerlich dazu bereit wären. Es sind fast noch Kinder, die ins Büro kommen, um Sticker abzuholen. Für sie ist die heutige Politik so etwas wie Mode – es ist einfach in. Wie es einer in dem Film ausdrückte: „Ich will nicht im Mittelalter leben.“ Sie beginnen, die Verantwortung für ihre Zukunft zu übernehmen.
Interessanterweise sagen ältere Leute, die die Serie sehen: „Oh, die Armen, was wird bloß aus denen werden.“ Sie geben sie von vornherein auf, projizieren ihre eigene Erfahrung auf sie, die traurige historische Erfahrung des Landes. Auf die Jüngeren wirkt Wosrast Nessoglassija eher ermutigend, es lässt hoffen. Obwohl alle Zuschauer erschrocken und schockiert sind, wie die staatlichen Strukturen Andersdenkende bekämpfen.
Und wie ist das für dich – hast du mehr Angst um sie oder mehr Hoffnung?
Ich würde gern glauben, dass meine Protagonisten Teil einer unvermeidlichen Evolution sind. Also du weißt ja, was im so genannten dritten Sektor passiert. Du siehst ja, wie sich die Gesellschaft zum Besseren verändert. Und dass diese Kids auftauchen, das bringt eine Veränderung zum Ausdruck, das sind die ersten sprießenden Keime des nahenden Frühlings.
Kürzlich wurde bekannt, dass einer der Helden in deinem Wosrast Nessoglassija, Jegor Tschernjuk, von Beamten des Extremismuszentrums festgenommen, in die Musterungsbehörde gebracht und für militärdiensttauglich befunden wurde. Woraufhin ein Strafverfahren wegen Verweigerung des Wehrdiensts gegen ihn eingeleitet wurde. Was geschah weiter?
Weiter fuhr Jegor nach Hause, stopfte seine Sachen in den Rucksack, verabschiedete sich von seinem Vater und reiste aus. Er hatte genau einen Abend, um zu verschwinden – am nächsten Tag war er bei der Ermittlungsbehörde vorgeladen. Der Vorteil eines Lebens in Kaliningrad ist, dass dich das feindliche Europa von allen Seiten umgibt, der Bus nach Vilnius kostet 800 Rubel.
Natürlich schaffte es Jegor nur mit großen Abenteuern raus. Er wurde schon vorher an einer prestigeträchtigen Universität aufgenommen, wird in den USA studieren und ein Stipendium beziehen. Das Extremismuszentrum hat seine Abreise nur beschleunigt, jetzt muss er sein Studentenvisum früher beantragen.
Er hat also mit der Heldentradition der unzufriedenen Generationen vor ihm – im Land zu bleiben und sich selbst zu opfern – gebrochen?
Na ja, von den sowjetischen Dissidenten sind bei weitem nicht alle geblieben – das waren vereinzelte Helden wie Martschenko und Bukowski, der später gewaltsam des Landes verwiesen wurde. Der aktuelle Leviathan ist schäbig und kraftlos, das absolute Böse reizt ihn nicht, er ist einfach „graue Schmiere“. Blöd wäre man, die besten Jahre in einer russischen Strafkolonie abzusitzen, wenn man die Möglichkeit hat, Computertechnologien dort zu studieren, wo sie erzeugt und entwickelt werden.
Blöd wäre man, die besten Jahre in einer russischen Strafkolonie abzusitzen, wenn man Computertechnologien dort studieren kann, wo sie entwickelt werden
Jegor hat, finde ich, seinen Beitrag für die Heimat geleistet, indem er ein Jahr lang Nawalnys Mitarbeiter koordinierte und 15 Tage in Verwaltungshaft saß. Soll er doch in Zukunft das normale Leben eines modernen Menschen führen und sich nicht mit einem hinsichtlich seines Erfolgs so zweifelhaften Unterfangen wie der Rettung Russlands abmühen. Sein Verstand und sein Wissen werden, so Gott will, auch hierzulande noch nützlich sein. Nicht unter dieser Regierung natürlich.
Deinem Film nach zu schließen, sind sie bereit, nach ihren Demos ins Ausland zu gehen.
Ganz so ist das nicht. Aber ein gewisser Teil wandert natürlich aus. Weißt du, warum ich gleich zwei Helden reingenommen habe, die nach Amerika wollen? Mir war wichtig zu zeigen, dass Amerika für sie nichts Feindliches ist. Für sie ist es eine logische Möglichkeit, ihre Ausbildung fortzusetzen, sich zu entwickeln, Geld zu verdienen, und sie verstehen, dass Amerika ihnen objektiv gesehen tausendmal mehr Chancen gibt als Russland.Alle diese Schauermärchen von wegen der Westen sei unser Feind beeindrucken sie überhaupt nicht. Sie sind im Internet aufgewachsen, wo es keinerlei Grenzen gibt, sprechen Englisch auf einem Niveau, auf dem sie im englischsprachigen Netz surfen können.
Sie wissen, dass Amerika ihnen tausendmal mehr Chancen gibt als Russland. Alle diese Schauermärchen von wegen der Westen sei unser Feind beeindrucken sie überhaupt nicht
Auch das ist ein wichtiger Unterschied zwischen ihnen und uns, der Generation der 1990er. Wir haben Hollywood-Filme geschaut und uns ein ideales Bild ausgemalt. Aber heute kann sich jeder junge Mensch in sozialen Netzwerken mit Gleichaltrigen unterhalten, sich in Einzelheiten vertiefen und verstehen, was dort tatsächlich Sache ist.
Nach dem Start der Serie Wosrast Nessoglassija gab’s natürlich einen Hype um die Jungs, sie hatten sofort einen Haufen Freunde in der ganzen Welt gefunden; der eine oder andere studiert bereits an einer Hochschule der Ivy League, gibt ihnen Tipps, bietet Hilfe bei der Wohnungssuche.
Aber für sie wie für mich ist das Wesentliche an dieser Geschichte, dass sie konkret im Jahr 2017 versucht haben, etwas zu verändern.
Glaubst du wirklich, dass man, um die Welt zu verändern, unbedingt Nawalny folgen muss?
Im vergangenen Jahr gab es keine anderen Möglichkeiten. Aber auch diese Chance haben wir verpasst und haben uns niemandem angeschlossen. So haben wir uns die kommenden sechs Jahre unseres Lebens von vornherein versaut, einfach weil wir den richtigen Moment verpasst haben. Unsere Skepsis, unser Unglaube, dass man überhaupt etwas verändern kann, dass es Menschen gibt, die etwas verändern können, haben verhindert, dass Nawalnys Kampagne ein neues Niveau erreicht.
Die unerschrockene Jugend ist allein geblieben – und muss jetzt auch allein die Rechnung begleichen: Den einen verweisen sie von der Universität, den anderen stecken sie in Soldatenuniform, der nächste steht überhaupt schon mit einer völlig an den Haaren herbeigezogenen, fabrizierten Anklage vor Gericht.
Ich weiß nicht, ob sie dazu mit allen Konsequenzen bereit waren, jedenfalls haben sie es in Kauf genommen. Und wir sitzen da und sehen zu.
Da tun sich nun auch Leute zu lokalen Protesten zusammen – etwa gegen Mülldeponien in Wolokolamsk, Kolomna und so weiter. Vielleicht ist das für die Mehrheit ein vertretbarer Weg zu Veränderungen?
Ich glaube das nicht. Und lege keine Hoffnungen in spontane Proteste. Das ist, als wolle man ein sinkendes Schiff retten, das ständig irgendwo leckt: Man flickt es hier, dann da, aber sinken wird das Schiff trotzdem!
Ich lege keine Hoffnungen in spontane Proteste. Das ist, als wolle man ein sinkendes Schiff retten, das ständig irgendwo leckt: Man flickt es hier, dann da, aber sinken wird das Schiff trotzdem
Ohne politische, institutionelle Veränderungen wird, scheint mir, nie etwas passieren. Und politische Veränderungen verlangen die Entscheidung eines jeden von uns. Es ist dumm, auf spontane Proteste zu hoffen, darauf, dass der Westen mit immer neuen Sanktionen etwas bewegt, oder dass Putin krank wird: Ich höre oft, wie das jemand mit träumerischer Miene sagt. Sogar auf die besagte Jugend zu hoffen ist dumm. Das ist alles nur die Abwälzung der Verantwortung auf die Schultern anderer. Wenn wir Veränderungen wollen, brauchen wir eine massive, bewusste politische Vereinigung.
In Wosrast Nessoglassija stört mich, dass es die „Leute mit guten Gesichtern“ bei dir nur auf einer Seite gibt – bei Nawalny. Die andere Seite vertreten vom Fernsehen gehirngewaschene Omas. Aber die tun mir eher leid. Hast du keine anderen Gegenüber für deine Protagonisten gesucht?
Diesem Vorwurf stimme ich zu, ich nehme ihn anstandslos an. Obwohl ich der Meinung bin, dass die Omas der Otrjady Putina im Film eine sehr wichtige Linie sind. Vor allem das, was in der letzten Folge mit ihnen passiert, als sie beginnen, über ihre Renten zu diskutieren, wo sie sich endlich an die Kamera gewöhnt haben und sich nicht mehr so wichtigmachen müssen. Andere Putinisten, die sich organisch in die Geschichte eingefügt hätten, hatten wir nicht – die Eltern und Lehrer der Protagonisten trauten sich nicht, Interviews zu geben. Auch das ist sehr bezeichnend.
Die Eltern und Lehrer der Protagonisten trauten sich nicht, Interviews zu geben. Auch das ist sehr bezeichnend
Offen bleibt die Frage: Unterstützen sie Putin wirklich oder haben sie Angst vor ihm? Ich glaube, sie haben eher Angst, als dass sie ihn unterstützen. Leute, die sich im Recht fühlen, würden wohl kaum ein Gespräch zurückweisen. Ich habe viele Audioaufnahmen, die die jüngsten Nawalny-Anhänger gemacht haben, als ihnen die Lehrer auf Befehl von oben die Gehirne wuschen. Wie infantil und erbärmlich klingen doch diese Erwachsenen und wie erwachsen argumentieren die Kinder dagegen!
Wie wichtig ist für deine Protagonisten der Glaube an Nawalny? Gibt es in diesem Umfeld einen Nawalny-Kult?
Ich habe da überhaupt keinen Nawalny-Kult wahrgenommen, von dem oft gesprochen wird, nichts dergleichen.
In deinem Film wird er ständig Alexej Anatoljewitsch genannt. Das fand ich nervig.
Er ist 20 Jahre älter, er könnte ihr Vater sein. Das ist normal. Seltsam wäre, wenn sie ihren Kandidaten Ljoscha nennen würden.
Du und ich, wir sind offenbar die einzigen aus unserem letzten Team bei NTW, die keine Chefs und keine Downshifter geworden sind, nicht in PR oder Business gelandet sind, sondern unseren Beruf beibehalten haben. Ein gewisses Gefühl, keinen Platz im System ergattert zu haben, lässt mich nicht los. Macht dir das Sorgen?
Ich bin kein eingefleischter Fan der Selbständigkeit, ich könnte nicht sagen, dass ich mich damit wohlfühle. Ich habe eine absolut unvergessliche und großartige Arbeitserfahrung mit Namedni hinter mir, danach mit Profrep. Jemandem, der so etwas nie hatte, kann man gar nicht erklären, wie paradiesisch das ist – die Arbeit in einem Team, wo alle Profis sind, wo man auf Tuchfühlung geht, Synergien entstehen. Das vermisse ich. Die Sehnsucht ist da. Aber ich stille sie von Zeit zu Zeit mit so spontanen und interessanten Team-Projekten wie Wosrast Nessoglassija – mit Drive und schlaflosen Nächten während der Postproduction. Das lindert den Phantomschmerz.
https://www.youtube.com/watch?v=TeDHrVN9NQ8
Die Dokuserie „Wosrast Nessoglassija“ gibt es im YouTube-Kanal von Doshd zu sehen.
Ein Gefangener, der von mehreren Wärtern grausam gequält wird: Sie schlagen ihn, als er das Bewusstsein verliert, kippen sie ihm Wasser ins Gesicht. Dann geht die Folter weiter.
Das Video aus der JaroslawlerHaftkolonie IK-1, das die Novaya Gazeta vergangene Woche veröffentlicht hatte, löste bei vielen Entsetzen aus. Der Film ist von 2017, er zeigt den Häftling Jewgeni Makarow. Im selben Jaroslawler Gefängnis befanden sich auch zwei nach den Bolotnaja-Protesten Verurteilte. Sie hatten ebenfalls Foltervorwürfe erhoben.
Am Montag nach der Veröffentlichung waren bereits sechs Wärter verhaftet und 17 Mitarbeiter der Haftkolonie vom Dienst suspendiert worden. Unterdessen berichtet die Rechtsanwältin Irina Birjukowa, die der Novaya Gazeta die Aufzeichnung übergeben hatte, im Exilmedium Meduza von Morddrohungen. Sie hat Russland inzwischen verlassen.
Auf Republic kommentiert Oleg Kaschin den Fall – und die Frage, ob nun alles besser wird im russischen Strafvollzug.
Das Video aus der Haftkolonie IK-1 in Jaroslawl ist ein Markstein der landesweiten Bürgerrechtsbewegung, ein technischer Durchbruch, der ganz von allein zum historischen Wendepunkt wird. Mit mündlichen und schriftlichen Zeugnissen über Gefängnisterror haben alle gelernt umzugehen, und das schon vor ziemlich langer Zeit. Der Föderale Dienst für Strafvollzug FSIN, die Staatsanwaltschaft, staatliche Menschenrechtsbeauftragte – alle haben Gewohnheiten und Reflexe entwickelt, haben feste Rollen inne. Und wenn von jener Seite der Gefängnismauer der soundsovielte schockierende Brief eintrifft, haben alle eine ungefähre Vorstellung davon, wem gegenüber sie sagen „Ach, wie schrecklich, was für eine Alptraum“ und wem gegenüber „Wir werden eine Überprüfung veranlassen“. Die lautesten öffentlichen Beschwerden an den FSIN sind die Briefe von Nadeshda Tolokonnikowa und Ildar Dadin – und die haben, ehrlich gesagt, nur die Menschen beeindruckt, die es auch schon vorher waren. Doch die, die sich nicht beeindrucken lassen wollten, konnten einfach sagen, dass sich hier politische Aktivisten beschweren, die sich mutwillig fragwürdig benommen hätten und jetzt wahrscheinlich irgendwie übertreiben und herumeiern.
Eine prinzipiell neue Situation
Diese Industrie des Laberns und medialen Verwässerns der schockierendsten Berichte, von denen in anderen Ländern jeder für sich genommen mindestens zu einer Regierungskrise führen würde – diese Industrie ist in Russland unwahrscheinlich hoch entwickelt.
Die Folter von Jaroslawl jedoch lässt diese Gewohnheiten zerbrechen und schafft eine prinzipiell neue Situation.
Statt schriftlicher oder mündlicher Zeugnisse von Gefangenen, Anwälten oder Bürgerrechtlern findet sich hier ein ausführliches Video, das nicht nur einfach Entsetzen und Grauen hervorruft, sondern auf dem man die Namen und Gesichter der Folterer erkennen kann. Man kann sie sogar in Sozialen Medien finden und feststellen, dass vor unseren Augen ganz normale russische Durchschnittsbürger mit Schulterstücken zu sehen sind, die genau das gleiche Leben führen wie Millionen andere – mit Familien, Ferien, Angelspaß, blöden Witzen, Glückwünschen; in einer mit allen Wassern gewaschenen Gesellschaft kann Schock-Realismus auch nur genau so funktionieren: Wenn das Verbrechen auf Video in guter Qualität aufgenommen und festgehalten wird.
Tolokonnikowa und Dadin haben über das Gefängnisgrauen geschrieben – und wenn schon nicht nur für Gleichgesinnte, so doch für Menschen, die in demselben Informationsraum wie sie existieren, grob gesagt dort, wo Nawalnys Blog schwerer wiegt und überzeugender ist als die Fernsehsendung Wremja. Die Videoaufzeichnung funktioniert anders, sie teilt das Publikum nicht, sie ist an alle gerichtet und spricht eine Sprache, die alle verstehen.
Die Videoaufzeichnung spricht eine Sprache, die alle verstehen
Ein solches Video lässt sich nicht mehr mit einem „Wir werden eine Überprüfung veranlassen“ abtun, und die Kommunikationsabteilung schreibt nichts von wegen „Die Fakten sind bisher nicht bestätigt“ – denn alle haben diese Fakten gesehen, was gibt’s da also zu deuteln.
Doch zu sagen, das Video von Jaroslawl teile das gesellschaftliche Leben in ein Vorher und Nachher, oder es versetze dem System zumindest auf dem Gebiet des Strafvollzugs einen vernichtenden Schlag, oder der Skandal von Jaroslawl bilde den Anfang eines großen Stoffes von historischem Ausmaß, und der werde zu etwas Wichtigem und Schicksalträchtigen führen – jede derartige Prognose klänge gutmenschenhaft und naiv.
Jaroslawl – ein Einzelfall?
Das Video aus Jaroslawl verschiebt den Erzählstrang eines „So eindeutig ist das alles nicht“ weg vom eigentlichen Fakt des Verbrechens, den man nicht bestreiten kann, hin zu der Frage: Wie exemplarisch ist dieses Video? Dies kann man aber mit einem Video allein weder beweisen noch widerlegen. Siebzehn Sadisten in einer beliebig herausgepickten Anstalt – diese Nachricht ist für das System zwar nicht besonders gut, aber insgesamt doch verdaulich. Ein lokaler Auswuchs, ein einmaliger Störfall, ein Exzess. Ein Strafverfahren ist eingeleitet, die Menschen aus dem Video wurden wohl schon von ihren Posten entfernt, und irgendjemand wurde wohl schon verhaftet. Der Skandal von Jaroslawl hat ein kleines Schlaglicht auf ein riesiges dunkles Feld geworfen. Und alles auf dem restlichen – nicht beleuchteten – Teil des Feldes, das wird nun der Diskussionsgegenstand sein zum Thema „So eindeutig ist das alles nicht“.
Die selektive Rechtsanwendung ist für das russische System zwar nicht die Grundlage, aber zumindest das wichtigste und wesentlichste Prinzip. Sie erlaubt dem System, Gesetze nur zu eigenem Nutzen anzuwenden und dabei unangreifbar zu bleiben.
Jewgeni Makarow, der auf dem Video gefoltert wird, widerfährt nun durch die Strafe für seine Peiniger Gerechtigkeit. Das ist für russische Verhältnisse eine sehr gute Nachricht. Doch Gerechtigkeit, die wie ein Sechser im Lotto daherkommt, wird niemals zu einer guten Nachricht für alle. Das Video aus der Jaroslawler Haftkolonie IK-1 wird nur die Leben der Gefilmten in ein Vorher und ein Nachher einteilen. Sonst keine.
Anfangs war die Stimmung noch frostig. Am Ende ihres Treffens in Helsinki jedoch strahlten sie beide: der russische Präsident Putin und der US-amerikanische Präsident Trump. „Der Dialog ist sehr gut verlaufen“, erklärte Trump in der anschließenden Pressekonferenz, auch Putin lobte die „geschäftsmäßige“ Atmosphäre.
Auf Nachfrage eines Journalisten sagte Trump während der Pressekonferenz, er habe keinen Grund zu der Annahme, dass sich Russland in den US-amerikanischen Wahlkampf eingemischt habe. In den USA bringt ihm dies derzeit heftige Kritik ein, von demokratischer wie republikanischer Seite, da diese Aussage im krassen Gegensatz steht zu den Ermittlungen der US-Geheimdienste und des Sonderermittlers Robert Müller. Der Großteil der US-Medien kritisiert den Gipfel und Trumps Auftritt neben Putin. Die Washington Post etwa schrieb, Trump habe sich zu Putins „nützlichem Idioten“ gemacht.
Viele europäische Politiker kritisierten das Treffen schon im Vorhinein. Kurz vor dem Gipfel in Helsinki hatte Trump die EU als „Gegner“ bezeichnet. Der deutsche Außenminister Heiko Maas etwa sagte in einem Interview der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, die EU könne sich nicht mehr auf die USA verlassen. Er forderte auch eine „Neuvermessung der deutsch-amerikanischen Beziehungen“.
Wie wird das Treffen von Putin und Trump in russischen Medien bewertet: Ist Russland endlich wieder auf Augenhöhe mit den USA? Oder ist alles eine große Show? dekoder bringt Ausschnitte aus staatsnahen und unabhängigen russischen Medien.
Republic: Auf Augenhöhe
Egal, was beim Treffen nun herauskam oder nicht herauskam, Putin hat schon gewonnen, meint Politologe Wladimir Frolow auf dem unabhängigen Online-Portal Republic:
[bilingbox]Das Wichtigste, das Putin bekommen hat, ist die Möglichkeit, neben dem amerikanischen Präsidenten auf einer Pressekonferenz zu stehen und die großen internationalen Probleme aufzuzählen, die er nun gemeinsam mit Donald Trump lösen wird – ohne in die Vergangenheit oder auf die Meinung anderer Staaten zu schauen. Das war genau die offizielle Anerkennung Russlands als den USA ebenbürtige globale Macht, die ersehnte „geopolitische Parität“, die der russische Präsident in der gesamten vergangenen Amtszeit angestrebt hat. ~~~Главное, что получил Путин – это возможность, стоя рядом с американским президентом на пресс-конференции, перечислять большие международные проблемы, которые он будет теперь решать вместе с Дональдом Трампом, без оглядки в прошлое и на мнение других держав. Это как раз и было официальное признание статуса России как равной США глобальной державы, заветный «геополитический паритет», к которому российский президент стремился весь свой последний срок.[/bilingbox]
erschienen am 17.07.2018
RT: Hysterie in Europa
Der staatliche Auslandssender RT amüsiert sich über die Sorge und Kritik vieler europäischer Politiker an dem Treffen:
[bilingbox]Die Sache ist die: Indem er sich das Treffen mit Putin zum Dessert aufsparte, hinterließ Donald Superstar die Europäer auf seiner Europa-Tour mit offenen Mündern. […] Am amüsantesten ist, dass er bei allem Recht behielt. Denn in den Zeitungen und Fernsehsendungen Europas – und des abdampfenden Großbritanniens – herrscht fulminante Hysterie.
Der Wirbelsturm-Mann hat so über die verkrusteten europäischen Politiker gefegt, […] dass es eine Augenweide war. Wenn die größte Gefahr für die europäische Demokratie à la Brüssel bislang Putin war mit seinen minderjährigen Hackern, dann hat sich das jetzt schlagartig geändert.~~~А всё дело в том, что Дональд Ф. Суперстар, оставив встречу с ВВП на сладкое, так провёл своё европейское турне, что оставил местных с широко распахнутыми челюстями. […] И, что самое смешное, он был во всём прав. Судя по тому, что в газетах и на телеканалах Европы и отчаливающей от неё Британии уже который день стоит фирменная истерика.
Мужчина-ураган так проехался по заскорузлым европейским политикам, […] что любо-дорого посмотреть. Если раньше главной угрозой европейской демократии брюссельского разлива был лично Путин В.В. и его малолетние хакеры, то теперь версия резко изменилась.[/bilingbox]
erschienen am 16.07.2018
Vedomosti: Win-win-Situation
Auf Vedomosti kommentiert Maria Shelesnowa, weshalb das Treffen ein Gewinn für beide Staatschefs war, obwohl es ohne irgendwelche Vereinbarungen zu Ende ging:
[bilingbox]Ein solches Ergebnis sieht vor dem Hintergrund des Treffens von Trump mit einem anderen schwierigen Burschen der Weltpolitik – Kim Jong-un – teilweise dürftig aus. Allerdings passt es sowohl Trump als auch Putin. Für den US-amerikanischen Präsidenten bedeutet das Ausbleiben von Abmachungen und Verpflichtungen – auch wenn sie schwammig wären – weniger Risiko, zu Hause wegen intensiver Kontakte mit dem toxischen Moskau angeprangert zu werden. Für Putin ist es ein Anzeichen dafür, dass Moskau Washington keinen Fingerbreit nachgegeben hat.~~~Такой исход выглядит отчасти проигрышным на фоне результата встречи Трампа с другим трудным парнем мировой политики – Ким Чен Ыном, Однако это удобно и для Трампа, и для Путина. Для американского президента отсутствие договоренностей и обязательств, пусть даже и самых расплывчатых и обтекаемых, означает снижение риска быть уличенным дома в интенсивных контактах с токсичной Москвой, для Путина – признак того, что ни пяди земли и повестки Москва Вашингтону не уступила.[/bilingbox]
erschienen am 17.07.2018
Radio Sputnik: Trump ist Geisel des US-Systems
Im staatlichen Auslandsradio Sputnik argumentiert Politologe Sergej Koslow, weshalb die Sympathie Trumps allein Russland nicht reiche:
[bilingbox]Trump muss seinem Wähler und dem amerikanischen Establishment Rechenschaft darüber ablegen, dass dieses Treffen nicht für die Katz war, dass konkrete Abmachungen getroffen wurden. Wie effektiv die Gespräche wirklich waren, lässt sich zu diesem Zeitpunkt kaum beurteilen. Ich denke, man kann schwerlich eine Annäherung erwarten, weil der amerikanische Präsident eine Geisel des US-amerikanischen politischen Systems ist.~~~Трампу необходимо отчитаться перед своим избирателем и американским истеблишментом о том, что эта встреча была проведена не зря, и что какие-то конкретные выводы были сделаны. Насколько эффективными оказались переговоры, судить сейчас достаточно сложно. Думаю, вряд ли можно ожидать потепления отношений, потому что американский президент – заложник американской политической системы.[/bilingbox]
erschienen am 17.07.2018
RIAFAN: Stärke Russlands anerkannt
Auch die Nachrichenagentur RIAFANmeint, dass Trump viele „Illusionen” zerstöre:
[bilingbox]Trump rechnet die Szenarien der Realpolitik durch, und nicht die einer virtuellen Welt. In diesen Szenarien erkennt er die Stärke Russlands an und erachtet unser Land als starken Konkurrenten. Das ist alles. Aber die, die in Illusionen leben, sind schrecklich besorgt, dass an der Spitze der USA ein Leader steht, der die Welt der Illusionen zerstört, die mit kolossalen Ressourcen in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut wurde. Wenn eine solche Welt einbricht, dann ist das wirklich eine Krise, und sie wird sich verschärfen.~~~Трамп просчитывает сценарии реальной политики, а не виртуального мира, и в этих сценариях он признает силу России и считает нашу страну сильным конкурентом. Вот и все. Но те, кто живет в иллюзиях, страшно переживают, что во главе США стоит лидер, который разрушает мир иллюзий, созданный колоссальными ресурсами за последние десятилетия. Когда такой мир рушится — это действительно кризис, и он будет усугубляться.[/bilingbox]
erschienen am 17.07.2018
Carnegie.ru: „Normalität” nicht unter Trump und Putin
Politologe Dimitri Trenin betont auf der Seite des unabhängigen Think Tanks Carnegie.ru, wie wichtig die Wiederaufnahme des Dialogs sei – und hat auch eine schlechte Nachricht.
[bilingbox]Die wichtigste Bedeutung des Treffens in Helsinki ist die Wiederaufnahme des russisch-amerikanischen Dialogs. Auf das Treffen auf neutralem Boden werden wahrscheinlich gegenseitige Besuche in Washington und Moskau folgen. Das schafft eine neue Dynamik in der Interaktion zwischen zwei Staaten auf der Suche nach Gemeinsamkeiten und Übereinstimmung. Der hybride Krieg zwischen den USA und Russland geht zweifellos weiter. In diesem Krieg jedoch entstehen Regeln und Kanäle des Dialogs, nicht nur über den Heißen Draht. Die amerikanisch-russische Konfrontation währt nicht ewig. Mit der Zeit kann sich das Verhältnis zu einer „normalen“ Rivalität und später zu einer „einfachen“ Konkurrenz zwischen zwei Mächten entwickeln. Aber das wird wohl nicht unter Trump passieren. Und vielleicht auch nicht unter Putin.~~~Главное значение встречи в Хельсинки состоит в возобновлении российско-американского диалога. За встречей на нейтральной территории, вероятно, последует обмен визитами в Вашингтон и Москву. Такой график создаст динамику взаимодействия между двумя государственными бюрократиями в поиске точек соприкосновения и выработке формул согласия. Гибридная война между США и Россией, несомненно, продолжится. В этой войне, однако, появляются правила и каналы диалога, не только экстренной связи. Американо-российская конфронтация не вечна. Со временем она может перерасти в «нормальное» соперничество держав, а затем в их «простую» конкуренцию. Но это случится, наверное, не при Трампе. А может быть, и не при Путине.[/bilingbox]
erschienen am 16.07.2018
Moskowski Komsomolez: Ausgetrickst
Michail Rostowski kann sich im Massenblatt Moskowski Komsomolez nicht nur freuen über den für Russland scheinbar positiven Ausgang des Treffens:
[bilingbox]Beim Gespräch mit Journalisten zum Abschluss des Summits in Helsinki hat der Präsident Russlands den amerikanischen Präsidenten offensichtlich ausgetrickst. Und dieser Umstand hat mein Herz mit Stolz erfüllt, aber auch mit Besorgnis.
Trump auszutricksen heißt nicht, die amerikanische politische Klasse auszutricksen. Ich fürchte, dass ein Antwortgruß aus Washington nicht lange auf sich warten lassen wird. […]
In jüngster Vergangenheit hatten innenpolitische Erwägungen Trump dazu gezwungen, offen antirussische Entscheidungen zu treffen, etwa über die Einführung schmerzhafter Sanktionen gegen wichtige Bestandteile unserer Wirtschaft.
Ich wünsche mir, dass ich irre. Aber nach dem Summit in Helsinki könnten solche innenpolitischen Erwägungen deutlich zunehmen. Worin liegt die Moral davon? Wahrscheinlich darin: Ein bescheidener und scheuer Trump erschreckt manchmal mehr als ein Trump in der Rolle des Streithahns und Raufbolds. Bringt daher bitte jenen Trump zurück, der bei der NATO war! Mit einem solchen US-Präsidenten ist es irgendwie ruhiger und gewohnter. ~~~В ходе общения с журналистами по итогам саммита в Хельсинки президент России очевидно переигрывал президента Америки. И это обстоятельство наполнило мое сердце не только гордостью, но и тревогой. Переиграть Трампа – не значит переиграть американский политический класс. Боюсь, что ответный привет из Вашингтона не заставит себя долго ждать. И дело здесь не только в “робком” поведении американского президента, но и в наступательной позиции президента российского. […] В совсем недавнем прошлом внутриполитические соображения заставляли Трампа принимать откровенно антироссийские решения – например, о введении болезненных санкций против важных элементов нашей экономики. Очень хочу ошибаться. Но после саммита в Хельсинки таких внутриполитических соображений у Трампа может резко поприбавиться. В чем мораль? Наверное в этом: скромный и застенчивый Трамп иногда пугает гораздо больше, чем Трамп в роли задиры и забияки. Верните поэтому, пожалуйста, того Трампа, который был в НАТО! С таким президентом США как-то спокойнее и привычнее.[/bilingbox]
erschienen am 16.07.2018
Facebook/Lilija Schewzowa: Fake-Feindschaft
Inwiefern die Auseinandersetzung mit den USA der russischen Führung zur Legitimation dient, analysiert die Politologin Lilija Schewzowa auf ihrem Facebook-Account:
[bilingbox]Russisch-amerikanische Summits sind verdammt, weil das russische System darauf ausgelegt ist, sich durch die Suche nach einem Feind selbst immer wieder neu zu erfinden. Amerika ist für den Kreml der ideale Feind. […] Sich mit Amerika, der einzigen Supermacht der Welt, in Bezug zu setzen, im Dialog oder in Feindschaft mit ihr zu sein – das ist auch eine Legitimierung der russischen Führung. Aber der Kreml will doch, selbst auf der ständigen Suche nach einem Feind, keine Konfrontation mit Amerika, werdet ihr sagen. Klar, diese Jungs sind keine Kamikaze. Das heißt, es wird darum gehen, an der Grenze zur Konfrontation entlang zu balancieren. Oder besser, sie zu imitieren: Fake-Kampf mit dem amerikanischen Giganten und gleichzeitig freundschaftliche Kaffeekränzchen mit ihm im Rahmen des „Weltkonzerts“. Das ist ein filigranes Spiel. Allerdings gelingt es dem Kreml eher schlecht in letzter Zeit. ~~~Российско-американские саммиты обречены потому, что российская система заточена на воспроизводство через поиск врага. Америка является для Кремля идеальным врагом. […] Соотнесение с Америкой, единственной мировой сверхдержавой, диалог с ней или вражда с ней- это и легитимация российского лидерства. […] Но ведь Кремль, даже находясь в постоянном поиске врага, не хочет конфронтации с Америкой, скажете вы. Конечно, эти ребята не камикадзе. Значит, речь будет идти о попытках найти способ балансирования на грани конфронтации. А лучше ее имитации: фейковая борьба с американским гигантом и одновременно дружеские посиделки с ним в рамках мирового «Концерта». Это филигранная игра. Правда, в последнее время она плохо идет у Кремля.[/bilingbox]
Alle politischen Handlungen und Motive lassen sich auf die Unterscheidung von Freund und Feind zurückführen, so schrieb es 1927 Carl Schmitt.1 Viele russische Politikwissenschaftler meinen, dass man den deutschen Philosophen lesen müsse, um die russische Politik zu verstehen. Sergej Medwedew zum Beispiel behauptet, dass Putins Politik dann im Einklang mit Schmitts Theorie des Ausnahmezustandes stünde, wenn der Präsident gegen Normen verstößt2 – sei es bei systematischen Repressionen, die verfassungswidrig sind, oder bei der Angliederung der Krim, die das Völkerrecht verletzt. Andere Wissenschaftler betonen gar, dass Putins grundsätzliches Politikverständnis aus Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung bestünde.
Die Schmittsche Unterscheidung von Freund und Feind beschäftigt auch das unabhängige Lewada-Institut. Seit 2006 ermittelt es in jährlichen (außer 2008) Meinungsumfragen, wie die russische Gesellschaft das Verhältnis verschiedener Staaten zu Russland einschätzt:3 Welche fünf Länder sind Russland am freundlichsten gesinnt, welche am feindlichsten?
Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa
Meinungsumfragen funktionieren in Russland nach einem besonderen Prinzip, meint der Soziologe Grigori Judin. Die Meinungsforscher nehmen sehr oft „einfach die Abendnachrichten und befragen am nächsten Morgen die Menschen, ob sie mit diesem oder jenem Gedankenkonstrukt einverstanden sind, das am Vorabend verbreitet wurde“. Diese Umfrage macht es besonders deutlich, denn die Antworten sind nahezu deckungsgleich mit der jeweiligen politischen Linie des Kreml, die wiederum auch die Fernsehnachrichten bestimmt, aus denen die meisten Menschen in Russland wiederum ihre Informationen beziehen. Was sind dann solche Meinungsumfragen überhaupt wert? Zumindest zeigen sie den Trend, was schon für sich interessant sein kann. Außerdem spiegeln sie in Umkehrung der These von Judin auch die Abendnachrichten. In diesem Sinne sind Meinungsumfragen indirekte Mediendiskursanalysen. Schließlich zeigen sie auch, wie die (geäußerte) öffentliche Meinung in Russland gemacht wird. Im konkreten Fall heißt das, dass der Kreml Feindbilder forciert und damit die (geäußerte) Resonanz in der Gesellschaft erzeugt. Der Topos wird schon seit einigen Jahren von russischen Staatsmedien verbreitet: Russland sei von Russophoben umzingelt, die danach trachten, das Land genauso in die Knie zu zwingen wie in den 1990er Jahren. Auch im Inneren der belagerten Festung Russland gebe es feindlich gesinnte Menschen, die sogenannten ausländischen Agenten, also Agenten des eigentlichen Belagerers der Festung. Viele Wissenschaftler meinen, dass die Konstruktion dieser Feindbilder von innenpolitischen Problemen ablenken soll und durch „Gefahren“ den sogenannten konstituierenden Anderen schaffe, der eine einende Kraft stiftet und so das Volk hinter dem Präsidenten versammelt.4 Feindbilder sind demnach also Legitimationsstrategien.
Zum Zoomen mit dem Mausrad die Strg-/Ctrl-Taste gedrückt halten. Quelle: Lewada-Zentrum
Russlands wichtigster Referenzpunkt
Dieser Zusammenhang wird vor allem bei der Frage „Wie stehen Sie zu den USA?“ deutlich. Die russische Soziologie erklärt das Auf und Ab in dieser Meinungsumfrage mit dem besonderen Verhältnis vieler Russen zur Supermacht USA: Die USA seien für sie der wichtigste Referenzpunkt, so etwas wie das Maß aller Dinge – sowohl in positiver wie auch in negativer Hinsicht.
In letzterer bedeutet es auch, dass die USA seit 2013 zu den am feindlichsten gesinnten Staaten stets an erster Stelle stehen – 2018 glauben es 78 Prozent der Befragten. Bis zur Mitte der 1990er Jahre sahen das aber nur rund sieben Prozent so.5 Viele Wissenschaftler erklären den krassen Umschwung auch mit der jahrelangen antiamerikanischen Propaganda, die – angefangen mit Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz6 – letztendlich in der Formel belagerte Festung gipfelte.7
„Handlanger“
Im feindlich gesinnten Fahrwasser der USA, so der Tenor von Staatsmedien, schwimme auch die Ukraine. Schon 2009 war das Land in der Umfrage nur wenige Prozentpunkte von den USA entfernt. Die Daten für 2008 fehlen, es ist aber wahrscheinlich, dass die Ukraine schon damals – und nicht erst 2009 – den Sprung von 23 auf 41 Prozent machte (der Wert bei den USA stieg entsprechend von 35 auf 45 Prozent). Der damalige ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko galt für die russischen Staatsmedien nämlich schon 2008 als ein Handlanger der USA. 2010 wurde Juschtschenko abgewählt, und da der neue Präsident Viktor Janukowitsch kremlnah war, wurde die Ukraine auch nicht mehr als feindlich gesinnt wahrgenommen: Der Wert fiel auf 13 Prozent. 2013 lag er gar bei elf Prozent, doch vor dem Hintergrund des Euromaidans, der Krim-Angliederung und des Krieges im Osten der Ukraine kletterte er in der Folgezeit kontinuierlich auf 49 Prozent im Jahr 2018.
Ähnlich verhielt es sich mit Georgien: Auch dort galt der Präsident (Micheil Saakaschwili) für die Staatsmedien Russlands als ein Handlanger der USA. 2008 entfesselte er zudem den Georgienkrieg, und 2009 besetzte Georgien die Spitzenposition im Ranking der feindlich gesinnten Staaten.
Interessant ist auch die Entwicklung bei den baltischen Ländern: Abgesehen von besagten Ereignissen 2008 und 2009, waren sie bis 2011 stets in der Top-Fünf der feindlich gesinnten Staaten. Vor allem Estland sticht 2007 hervor – damals ging es um die Demontage eines Denkmals des sowjetischen Soldaten in Tallinn, was scharfe Kritik aus dem Kreml und eine entsprechende Kampagne in den staatlich-gelenkten Medien provozierte. Interessanterweise halbierte sich im Folgejahr der Wert bei Estland, auch Litauen und Lettland wurden in der Folgezeit immer weniger als feindlich gesinnt wahrgenommen.
Sonderfall Türkei
Von gestern auf heute zum Feind, morgen zurück – nach diesem Schema verlief 2016 die ermittelte Haltung zur Türkei. Von einem Prozent stieg der Wert auf 29, bevor er im Folgejahr auf acht Prozent fiel. Hintergrund war der türkische Abschuss eines russischen Kampfjets an der Grenze zu Syrien im November 2015. Ende Juni 2016 äußerte Erdogan in einem Brief sein Bedauern über den Abschuss, kurz darauf gab es ein Telefonat zwischen Putin und Erdogan. Danach waren die Beziehungen wieder so gut, dass manche Beobachter sich an Orwells 1984 erinnerten, wo Ozeanien abwechselnd mit Eurasien oder mit Ostasien Freund-Feind spielte.
Sanktionen
Einen steilen Ausschlag in der Statistik gab es 2018 für Großbritannien: Der Wert schnellte von 15 im Jahr 2017 auf 38 Prozent. Auslöser war der Fall Skripal. 27 Staaten entschlossen sich zu einem Schulterschluss mit Großbritannien und wiesen über 140 russische Diplomaten aus. Die russischen Machthaber protestierten, und die staatlich-gelenkten Medien ätzten in einer massiven Kampagne gegen Theresa May.
Schon seit der Angliederung der Krim wettern sie gegen Angela Merkel. 2013 stand Deutschland noch mit 14 Prozent auf dem vierten Rang der freundlich gesinnten Länder, 2017 teilte es sich mit Litauen und Lettland aber schon den dritten Platz im Ranking der feindlich gesinnten. Da sich der Wert bei Frankreich nach 2014 nur minimal veränderte, liegt der Referenzschluss nahe, dass Merkel im Kreml als Motor der Einführung und turnusmäßiger Verlängerungen der EU-Sanktionen gegen Russland gilt. Deswegen wurde in russischen Staatsmedien gegen die Bundesregierung, weniger gegen Frankreich gehetzt.
Freundlich gesinnte Staaten
„Wolodja [Koseform von Wladimir – dek], verdirb nicht den Abend“, soll der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko mal gesagt haben. Die zahlreichen Spitzen und Vorwürfe, die er bei seiner siebeneinhalbstündigen Pressekonferenz Anfang 2017 in Richtung Russland losließ, deuteten einen Umschwung in der traditionellen Freundschaft an. Obwohl Belarus seit 2006 mit 34 bis 55 Prozent immer das Freunde-Ranking anführt, müsste der Beziehungsstatus wohl dennoch auf „es ist kompliziert“ geändert werden. So wird in jüngster Zeit in Belarus ein Verbot des St. Georgs-Bandes diskutiert – solche Initiativen bewerteten russische Staatsmedien aber als Affront gegen Russland. Außerdem gilt Lukaschenko für viele Beobachter ohnehin als zunehmend unberechenbar8, seine ständigen Volten und Pendelbewegungen könnten durchaus irgendwann in einer Westbindung münden.
Eine solche ist bei dem zweitplatzierten „freundlich gesinnten“ China in nächster Zeit nicht zu erwarten. Doch ließe sich der Beziehungsstatus von Russland und China eher als Zweckfreundschaft beschreiben. Bis zur Angliederung der Krim pendelte China nämlich bei etwa 20 Prozent, 2014 verdoppelte sich der Wert, auch 2018 steht er bei 40 Prozent.
Damit überholte China die traditionelle Nummer zwei – Kasachstan. Der kasachische Präsident Nasarbajew war schon 1989 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik, 1990 übernahm er nahtlos die Präsidentschaft. Russland verbindet mit Kasachstan nicht nur die längste Landgrenze, sondern auch die Nachbarschaft in Ranglisten der Pressefreiheit9 oder Bürger- und Freiheitsrechte.10
Neu in der Top-Fünf der am freundlichsten gesinnten Länder ist seit 2016 Syrien. Zuvor unter „ferner liefen“, schnellte das Land auf den vierten Rang, 2018 zählen rund 21 Prozent der Befragten Syrien zu einem freundlich gesinnten Land.
Wirksamkeit der belagerten Festung
Diese Meinungsumfrage untermauert die Eingangsthese von Grigori Judin: Die öffentliche Meinung wird durch Fernsehnachrichten gelenkt, in denen der Kreml Feindbilder forciert. Da die öffentliche Meinung aber nur ein Produkt dieser Umfrage ist, bleibt es infrage gestellt, ob die Technologie des „konstituierenden Anderen“ tatsächlich zu einer wirksamen Legitimationsstrategie taugt. Die wirkliche Meinung der Menschеn in Russland bleibt nämlich ungewiss. Ebenfalls unbeantwortet bleibt also auch die Frage, ob es dem Kreml im Ergebnis gelingt, durch Feindbilder von den massiven innenpolitischen Problemen abzulenken. Und so liegt es für manche Politikwissenschaftler auf der Hand, dass die Legitimationsstrategie belagerte Festung eigentlich einer Ohnmacht gleiche.11 Ähnliches lässt sich übrigens auch von Carl Schmitts Freund-Feind-Schema behaupten.
Grafik: Daniel Marcus Text: Anton Himmelspach Stand: Juli 2018
1.vgl. Schmitt, Carl (1996): Der Begriff des Politischen, S. 26
4.vgl. Pain, Emil (2007): Imperskij sindrom i imitacija nacional’nogo stroitel’stva v Rossii, in: Sociologija: teorija, metody, marketing, 2007/3, S. 38-59