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Die wahre Geschichte einer Geisterstadt
1982: Ein Atomkraftwerk soll gebaut werden. Für die spätere Belegschaft entsteht die Siedlung Kamskije Poljany. 1986 geschieht die Katastrophe in Tschernobyl, der AKW-Bau wird gestoppt. Es beginnt ein reales Warten auf Godot in Kamsjije Poljany, wo Jelena Dogadina aufgewachsen ist. Heute berichtet sie auf Takie Dela.
„Edik war acht, als sein Papa beschloss, mit der ganzen Familie in eine kleine Siedlung zu ziehen, die für Arbeiter und ihre Familien hastig errichtet wurde. Ein Atomkraftwerk sollte die ganze Region mit Strom versorgen. Das war 1983, drei Jahre vor der Explosion des vierten Blocks im AKW von Tschernobyl. Die Welt hatte ihre mörderische Rettungsmission noch nicht begonnen, bei der alle sowjetischen Baustellen stillgelegt wurden. Deswegen hatten sich Ingenieure, Bauarbeiter, Mechaniker und Chemiker aus dem ganzen Land freudig auf den Weg dorthin gemacht, wo sie zwanzig Jahre später in Armut sterben würden.“
Das ist der Anfang einer Geschichte, die ich in der Schule geschrieben habe. Die Namen aller Orte und Personen sind frei erfunden, jegliche Überschneidungen mit der Realität rein zufällig – würde ich gern sagen. Kann ich aber nicht.
Die wahre Geschichte über die Geisterstadt ist sogar noch interessanter, als ich zu Schulzeiten dachte. Zum Beispiel, weil für ihre Errichtung ein Dorf dem Erdboden gleichgemacht wurde, das noch aus Zeiten Iwan des Schrecklichen stammte, oder wenn man sich die Versuche ansieht, wie die Stadt vor der Arbeitslosigkeit gerettet werden sollte – durch den Bau von 30 Casinos, jedoch ohne jegliche Infrastruktur für Touristen.
Ljudmila Pospelowa ist 1982 mit Mann und Kindern nach Kamskije Poljany gezogen, aber nicht nur wegen der Allunionsbaustelle. Sie kehrte heim. Ihre Familie hatte schon im 19. Jahrhundert in dieser Gegend gelebt.
Am 11. Mai 1982 war bekanntgegeben worden, dass dort, wo sich heute die Siedlung befindet, ein Atomkraftwerk gebaut werden soll. Die ersten Arbeiter waren schon im Februar gekommen und hatten eine kleine Containersiedlung errichtet.
Ljudmila erzählt, die ersten Bauarbeiter seien besonders sorgfältig ausgesucht worden: Man stellte keine Vorbestraften ein, und es war verboten, in privaten Häusern gemeldet zu sein, um den Strom der Zugezogenen zu kontrollieren. Sogar der Verkauf von Alkohol wurde eingestellt. „Weder hier, noch im Umland konnte man welchen kaufen. Wenn jemand betrunken war, konnten es nur Geologen auf Exkursion sein“, erzählt Ljudmila.
Wegen der vielen Leute wurden die Lebensmittel knapp
Wegen des großen Zustroms an Arbeitern wurden bald die Lebensmittel knapp, sogar das Brot wurde knapp. Gärten wurden geplündert und verwüstet, egal wie sehr Ljudmila sich bemühte, ihren in Schuss zu halten. Es mussten dringend Geschäfte her, also wurden im Erdgeschoss der Wohnhäuser Läden eröffnet und eine Kantine gebaut. Jeden Tag wurden 20 bis 30 Personen eingestellt.
1983 kam auch Viktor in die Siedlung, mein Großvater. Er bekam einen Job als Monteur beim Atomkraftwerk, schätzte die Zukunftsperspektiven ab und holte ein Jahr später die Familie nach: seine Frau Vera und die Söhne Edik und Serjoscha.
Damals hat man insgesamt sehr schnell gebaut, und so wurde im Wasserkraftwerk Shiguli schon 1986 die Hebung des Wasserstandes vorbereitet, um aus Wolgodonsk auf Lastkähnen die Brennelemente für den Reaktor zu holen. Doch am 26. April explodierte in Tschernobyl Block 4 des Atomkraftwerks.
Kamskije Poljany nahm zwanzig Familien aus Tschernobyl auf
Kamskije Poljany nahm zwanzig Familien aus Tschernobyl auf. Und Dutzende von hier fuhren zu Abräumarbeiten dorthin. Deren Kinder nennt man die Kinder der ersten und zweiten Tschernobyl-Generation. Meine Klassenkameraden gehörten zur zweiten Generation. Ich hatte eine Schulfreundin, die ständig über Kopfschmerzen klagte: erhöhter Hirndruck. Ihre Mutter hatte bei der Liquidation als Köchin gearbeitet.
1986 hatten alle außer den Liquidatoren nur eines: Angst. In Tatarstan fanden Demos für den Baustopp des Atomkraftwerks statt, angeführt wurden sie von Ökologen, die warnten, der Vorfall aus Tschernobyl könne sich wiederholen, zudem werde der Reaktor in Kamskije Poljany auf einer tektonischen Bruchstelle gebaut und es könne jederzeit ein Riss durch die Erdplatte gehen. Das stimmte nicht, deswegen beruhigten sich die Einwohner von Kamskije Poljany recht bald. Die Planer des AKWs fuhren von Ort zu Ort und erklärten den Leuten, dieser Reaktor sei ganz anders, er habe ein ganz anderes Kühlsystem und die Erdplatte werde ständig kontrolliert. „Bei uns wurde vor Baubeginn jeder Winkel und jeder Millimeter vermessen, Landvermesser hatten alles ausgeglichen. Die monolithische Platte, auf der der Reaktor stehen sollte, wurde stündlich kontrolliert, sicherheitshalber hat man sogar versucht, sie in die Luft zu sprengen“, berichtet Ljudmila Pospelowa.
Aber es war zu spät. Den Protesten hatten sich andere „Grüne“ angeschlossen, mit der Schriftstellerin Fausija Bairamowa an der Spitze: Sie forderten die Unabhängigkeit Tatarstans von Russland, ein Verbot von Mischehen und die Ermordung von Kindern aus Mischehen. Und das jagte den Menschen weit mehr Angst ein als irgendeine Atomkraft.
Verbot von Mischehen macht mehr Angst als Atomkraft
Die Worte der Islamisten erschreckten sogar jene, die wie Ljudmila gegen eine Schließung des Kraftwerks waren. „Sogar ich als nicht besonders schreckhafter Mensch, bekam Angst, dass wir hier ein zweites Tschetschenien bekommen.“
Zunächst wurden die aktiven Baumaßnahmen eingestellt, die Menschen verloren ihre Jobs. Aber damals glaubten die Einwohner von Kamskije Poljany noch, der Bau werde fortgesetzt. „Wir kriegten mit, dass Tatenergo sich nur um den Unfall und die Liquidation kümmerte. Uns beachtete man gar nicht, der Reaktor wurde einfach nicht geliefert. Aber wir hatten Hoffnung: Einfach abwarten, bis sich die Lage beruhigt, dann wird es schon weitergehen. Und plötzlich – schwupp – wird Gorbatschow abgesetzt und Jelzin interessiert das alles nicht die Bohne: ‚Nehmt euch so viel Souveränität. wie ihr wollt.‘“, erinnert sich Ljudmila.
Im April 1990 wurde der Bau des Atomkraftwerks in Kamskije Poljany per Beschluss des Obersten Sowjets der Tatarischen ASSR endgültig eingestellt. Bis heute lautet die offizielle Version, Grund dafür seien die Proteste der Umweltschützer gewesen.
Ich bin fünf Jahre nach dem Baustopp zur Welt gekommen. „Uns war die Aufgabe gegeben, das AKW in Datschen zu zerlegen“, lautet eine Zeile der inoffiziellen Hymne von Kamskije Poljany, verfasst von einer einheimischen Rockband. Dort finden sich auch die Worte: „Selbst Kran-Giganten haben wir zerlegt.“ Auch das ist wahr. Gemeint sind die Kräne K-10 000, sie kommen beim Bau von Atomkraftwerken zum Einsatz, weltweit gibt es gerade mal 15 Stück. Zwei davon waren in Kamskije Poljany. Am Bau war nur einer beteiligt, später wurde er zum AKW Kalinin gebracht, aber vorher hatten wir noch Gelegenheit ihn zu nutzen: Wir kletterten hinauf, um uns das Kraftwerk von oben anzusehen. Während der zweite Kran einfach am Kai verrostet ist, der war gar nicht erst bis zur Baustelle gekommen.
Badespaß an den ausgehobenen Wasserspeichern des Kraftwerks
In meiner Kindheit war das AKW keine verbotene, brachliegende oder gefährliche Baustelle – es war ein Freizeitpark. Die Kama ist ein kalter und schmutziger Fluss, deswegen fuhren wir zum Baden an die ausgehobenen und schon befüllten Wasserspeicher des Kraftwerks. Und auf dem Reaktor selbst veranstalteten wir Picknicks mit der ganzen Familie.
Aber nicht nur das Kraftwerk brach zusammen. Ich war etwa sechs, als meine Mutter und ich ans andere Ende der Siedlung gingen, um die Katze vom Vorgesetzten meines Vaters zu füttern. Damals gab es vor jedem Haus mindestens einen Sandkasten. An jenem Tag lag in einem davon ein Mädchen.
Ich rannte vor, fiel vor dem Mädchen auf die Knie und blickte ihr in die Augen. Es war Sweta aus meiner Kindergartengruppe, sie hatte ein riesiges rosa Plüschmammut zuhause. Das hatte sie bei einem Musikwettbewerb gewonnen – alle waren zu Tränen gerührt gewesen, als sie gesungen hatte: „Das kann’s auf der Welt doch nicht geben, dass Kinder allein, ohne eine Mutter leben“. Neben ihr lag im Sandkasten ein Klettergerüst. Das hatte jemand einfach dort abgestellt, ohne es zu befestigen oder ein Schild aufzustellen, dass man darauf noch nicht spielen dürfe. Sweta fiel mit ihm um und war tot. Ich kann mich nicht erinnern, dass dafür jemand zur Verantwortung gezogen worden wäre.
Kinder starben, weil sie beim Rodeln in offene Schächte fielen
Kinder starben, weil sie beim Rodeln in offene Schächte fielen, sie erstickten in Schneehaufen, weil ein Räumfahrzeug sie übersehen und verschüttet hatte, und außerdem tranken Kinder. Man kann ihnen schwer einen Vorwurf machen. Ende der 1990er und Anfang der 2000er war es in Kamskije Poljany nicht einfach, sich sinnvoll zu beschäftigen.
Laut Plan sollten die Wohnhäuser, die Schulen, das Krankenhaus und andere Gebäude zu Ende gebaut werden, wenn der erste Reaktor in Betrieb genommen würde. Ohne das stand die Siedlung still. Während des Baus war es noch direkt von Moskau finanziert worden, aber danach fiel es in die Zuständigkeit von Kasan. Und Kasan ergriff sogar gewisse Maßnahmen: Den Einwohnern von Kamskije Poljany wurden Jobs in Almetjewsk, Nischnekamsk und Kasan versprochen. Aber die Menschen bekamen keine Wohnungen mehr in Kamskije Poljany, und ein Gebäude nach dem anderen wurde leergeräumt.
Während meiner Schulzeit hat meine Mutter neun Mal den Job gewechselt. Sie tat mehr als das Mögliche: Dass die schwersten Hungerjahre der Siedlung in den 2000er Jahren waren, habe ich erst vor wenigen Monaten erfahren.
Eine Zeit lang konnte ich sagen: „Meine Mutter arbeitet in Manhattan.“ Das war 2006. Zu dieser Zeit hatten sich alle daran gewöhnt, einmal im Jahr Versprechen vom Fertigbau des Kraftwerks zu hören, aber nun kam etwas Anderes: In Kamskije Poljany entsteht ein Zentrum für Glücksspiele! 2007 waren in der Siedlung schon neun Casinos in Betrieb, vier weitere sollten in Kürze dazukommen.
Laut offiziellen Zahlen hat das tatarische Las Vegas 400 Arbeitsplätze geschaffen. Aber prozentual blieb die Arbeitslosigkeit auf demselben Niveau, nur, dass die Bevölkerung etwas geschrumpft ist.
Glücksspielparadies ohne Hotel
Die Sache ist die, dass das Glücksspielparadies schlecht beworben wurde, die Straßen nicht ausgebessert, kein einziges Hotel gebaut und auch sonst keinerlei Infrastruktur geschaffen wurde. Also kamen auch keine Touristen. So spielten die Einheimischen – versetzten ihre Wohnungen, Autos und Datschen. Und begannen dann auch, sich wegen der Schulden gegenseitig umzubringen. Eine Woche nachdem meine Mutter gekündigt hatte, wurde in ihrem Casino eine alte Garderobenfrau getötet. Ein Mann, der eine große Geldsumme verspielt hatte, lauerte den Casinomitarbeitern bei den Garagen auf, weil er glaubte, sie würden Geld bei sich tragen.
2009 trat das Gesetz zur „staatlichen Regulierung der Tätigkeiten in der Organisation und Durchführung von Glücksspiel“ in Kraft, Spielhallen waren nur noch an vier Orten in Russland erlaubt. Kamskije Poljany gehörte nicht dazu. Also gesellten sich auch noch verlassene Casinos zum Stadtbild. Und mit der Fassadenbeleuchtung der Casinos schmückten meine Freunde ihre Zimmer.
2008 hatte Kasan wieder ein ambitioniertes Vorhaben: ein Kur- und Tourismusgebiet in Kamskije Poljany zu errichten. Gesamtfläche: 103.015 Hektar. Mit verschiedenen Bereichen für Wochenendausflüge (ob Business-, Wassersport-, Erlebnis-, Extrem-, Kinder- oder Familienurlaub); auf Folklore und Kultur ausgerichteten Tourismus; Wellness, Jagd und Ökotourismus; ganzjährige Arten des Abenteuertourismus. Es wurde nichts draus.
Fabrik für Stretchfolie und Fischzucht-Freizeit-Cluster
Laut Medienberichten ist „Kamskije Poljany 2009 in die Liste der Monostädte Russlands aufgenommen worden und hat 1,7 Milliarden für den Bau eines Industriegebiets erhalten“. Das Industriegebiet – das ist eine Fabrik, die Stretchfolie produziert. Es heißt, sie versorge ein Viertel der Einwohner mit Arbeitsplätzen. Auf der offiziellen Website der Fabrik liest man, sie beschäftige 450 Mitarbeiter. In der Siedlung sind 15.000 Einwohner gemeldet. 2011 wurden Kamskije Poljany 250 Millionen Rubel zum Bau eines Fischzucht-Freizeit-Clusters gewährt. Seit 2017 läuft ein Verfahren wegen der Entwendung dieser Summe und weiteren 45 Millionen Rubel, die als Prämie an eine nicht existente Fabrik ausgezahlt wurden.
2013 hat die Regierung der Russischen Föderation eine Liste von Atomkraftwerken erstellt, die bis 2030 erweitert oder fertig gebaut werden sollen. Das AKW Tatarien war auf Platz sechs.
Ljudmila Pospelowa kämpft derzeit darum, dass sich die Verwaltung endlich um den alten Friedhof kümmert, und bereitet Schüler auf die Abschlussprüfungen in Russisch und Literatur vor. Wie mich damals. Am Ende unseres Gesprächs sagt sie noch, man habe versprochen, das Kraftwerk bis 2030 fertig zu bauen – diesmal angeblich wirklich.
Offenbar weiß sie noch nichts davon, dass die Liste der Atomkraftwerke letztes Jahr aktualisiert wurde, Tatarien ist nicht mehr dabei.
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November: Einst war hier das Meer
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Infografik: Fremdenfeindlichkeit nimmt zu
„Wohnung für eine russische Familie zu vermieten, Kaukasier unerwünscht“ – solche diskriminierenden Annoncen kennt laut Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum die überwiegende Mehrheit der Menschen in Russland. Mehr als ein Drittel der Befragten steht solchen Anzeigen positiv gegenüber, insgesamt wollen zwei Drittel der Gesellschaft den Zuzug anderer Ethnien nach Russland einschränken (bei Lewada als „Ethnophobie-Level“ erfasst).1
Quelle: Lewada
Obwohl Xenophobie in den letzten Jahren weitgehend aus den Massenmedien verschwand, ist sie seit 2017 wieder rapide gestiegen. Warum ist das so?
Als im August 2018 die denkmalgeschützte hölzerne Mariä-Himmelfahrts-Kirche in der kleinen karelischen Stadt Kondopoga abbrannte, fühlten sich viele Menschen in Russland an 2006 erinnert. Damals kam Kondopoga zum ersten Mal in die Schlagzeilen: wegen massiver fremdenfeindlicher Pogrome. Da in der Folgezeit russlandweit dutzende andere Städte von Pogromen erfasst wurden, sahen viele Nationalismusforscher in Kondopoga die Initialzündung für fremdenfeindliche Übergriffe.
Die Wirtschaft florierte 2006, Wirtschaftsvertreter forderten weiteren Zuzug von Gastarbeitern. Zeitweise lebten schätzungsweise bis zu sieben Millionen von ihnen in Russland, sie erwirtschafteten rund sieben bis acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts.2 Die meisten von ihnen kamen auch damals aus dem Kaukasus und Mittelasien nach Russland. Hier wurden sie zur Zielscheibe medialer Stigmatisierung, nationalistische Stimmen wie Alexander Dugin hetzten öffentlichkeitswirksam gegen „Überfremdung“ und forderten ein „Russland für Russen“.
Diesem Slogan stand 2005 mehr als die Hälfte der Gesellschaft positiv gegenüber3, und „Nichtrusse“ war bei einem guten Drittel der Befragten das am negativsten konnotierte Wort.4
Diese Zahlen waren umso frappierender, als frühere wissenschaftliche Studien Russland zur Mitte der 1990er Jahre noch als das Land in Europa darstellten, das am wenigsten fremdenfeindlich ist.5 Doch laut offiziellen Zahlen sind rund 20 Prozent der russländischen Gesellschaft keine ethnischen Russen. So ist es denkbar, dass bei einer repräsentativen Umfrage unter ethnischen Russen allein die Ergebnisse entsprechend höher ausfallen dürften.
Ethnophobie – biologistische Grundlage?
Die russische Nationalismusforschung bezeichnet diese Fremdenfeindlichkeit als Ethnophobie, weil der ermittelte Ressentiment-Grad beispielsweise gegenüber den Tataren oder Baschkiren weitaus geringer sei als gegenüber den ebenso muslimischen Usbeken, Kirgisen oder Tschetschenen. So könne man etwa nicht von Islamophobie sprechen, erklärt beispielsweise Waleri Solowei – ein Nationalismusforscher, der selbst ethno-nationalistische Standpunkte vertritt. Außerdem seien Tataren und Baschkiren laut Solowei den ethnischen Russen phänotypisch ähnlicher, sodass Ethnophobie in Russland eine biologistische Grundlage habe.6
Diese weitverbreitete Ethnophobie schlug sich 2006 in Kondopoga nieder. Auf die landesweiten Pogrome, die mitunter auch von kremlnahen Massenmedien als ein Zeichen der „Erhebung des russischen Geistes“ gedeutet wurden, reagierten die Machthaber opportun(istisch): Sie fingen an, die Notwendigkeit der „Gewährleistung von Vorteilen für die verwurzelte Bevölkerung“ herauszustreichen.7 Das Kreml-Programm der Russländischen Staatsnation indes erachteten sie zunehmend als gescheitert.
Russländer: Staatsnation statt ethnische Nation
Schon lange zuvor wurde der Begriff Russländer (russ. „Rossijanin“) oft synonym zu Russe (russ. „Russki“) verwendet. Angestoßen durch Boris Jelzin sollte Russländer in den 1990er Jahren zum neuen Bürgerbegriff avancieren.
Mit der Einführung sollte ein Bedeutungswandel von einem ethnisch-konnotierten Nationalitäten- zu einem Staatsbürgerbegriff angestoßen werden. Ein großer Teil der russischsprachigen Sozialwissenschaft sah darin den Übergang vom deutschen zum französischen Modell: Das ehemals deutsche Verständnis der Nation, das als ethnisch konnotiert gilt, sollte zu dem französischen Verständnis der État-nation (Staatsnation) übergehen, das alle Bürger Frankreichs – unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft – zu Franzosen vereint.
Es war die Grundidee der Jelzin-Regierung, damit eine neue „Staatsidee“ zu definieren und alle Ethnien in einer Staatsnation zusammenzubringen. Auch Putin setzte diese Idee weitgehend fort, bis Kondopoga.„Es reicht, den Kaukasus zu füttern“
Verschiedene oppositionelle Kräfte kritisierten Putin damals wegen des Jelzinschen Russländer-Programms. Auch der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny forderte lautstark „Es reicht, den Kaukasus zu füttern“ und begrüßte die sogenannten Russischen Märsche, auf denen rechtsextreme Parolen und „Tod dem Regime“ skandiert wurde.8 Die in Umfragen ermittelten völkisch-nationalistischen Stimmungen in der Gesellschaft waren zu stark, um sie zu ignorieren, also nahmen die Machthaber sukzessiv und versatzstückweise ethno-nationalistische Forderungen in ihr rhetorisches Programm auf und neutralisierten sie damit zum Teil.
So verlangten Rechtsextreme die verfassungsmäßige Anerkennung von Russen als einziger „staatskonstituierender Ethnie“,9 auch der LDPR-Vorsitzende Wladimir Shirinowski unterstützte diese Forderung. Obwohl dieses Ansinnen auch 2018 nicht in der Verfassung steht, wurde es von Putin bereits einige Male als erfüllt dargestellt, zum ersten Mal ausdrücklich im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2012. Damals definierte er in einem programmatischen Text das russische Volk als „staatskonstituierend“ und schrieb: „Die große Mission der Russen lautet: Die Zivilisation vereinen und verbinden. Über Sprache, Kultur und nach Fjodor Dostojewski über ,weltumfassende Aufgeschlossenheit‘ werden russische Armenier, russische Aserbaidschaner, russische Deutsche, russische Tataren verbunden.“10
Mit solchen Aussagen markierte Putin für viele Nationalismusforscher den Übergang vom anvisierten Modell der russländischen Staatsnation zu der sogenannten national-imperialen Position.11
Weniger Hetze in den Medien
Parallel zu dieser Entwicklung gab es in staatsnahen Medien seit Kondopoga immer weniger Hetze gegen Arbeitsmigranten, und 2012/13 konstatierte Lewada ein Ausbleiben von ethnophoben Inhalten in russischen Massenmedien.12 Vermutlich weil die Meinungsforscher sehr oft „einfach die Abendnachrichten nehmen und am nächsten Morgen die Menschen befragen, ob sie mit diesem oder jenem Gedankenkonstrukt einverstanden sind, das am Vorabend verbreitet wurde“, kam es 2014 zu einem rapiden Abfall der Ethnophobie-Werte.
Einige russische Soziologen liefern eine andere (beziehungsweise ergänzende) Erklärung: Das von den staatsnahen Medien forcierte Feindbild Westen diene zum einen dazu, von innenpolitischen Problemen abzulenken und stelle zum anderen automatisch das empfundene Bild der „Überfremdung“ in den Schatten. Hintergrund sei das Prinzip des sogenannten konstituierenden Anderen: Eine „kollektive Identität“ formiere sich durch Distinktion, Abgrenzung von Angehörigen bestimmter sozialer Gruppen. Mit dem Umschwenken auf eine antiwestliche Linie fand also eine Art Ersatz-Distinktion statt, so die Erklärung.13
Der Westen als Ersatz-Feindbild
In der Ethnophobie-Infografik ist dieses Phänomen zweimal sichtbar: 2014 sind die antiwestlichen Stimmungen parallel zur Einführung westlicher Sanktionen hoch geschnellt, und das Ethnophobie-Niveau ist ebenso rapide gefallen. Im Sommer 2018 sind die antiwestlichen Stimmungen dagegen gesunken, während die ethnophoben anstiegen. Mit wissenschaftlichen Mitteln ist ein solcher Mechanismus der Ersatz-Distinktion allerdings nicht nachvollziehbar: Weder ist der Begriff „kollektive Identität“ eingrenzbar, noch kann man erklären, warum diese (vermeintliche) Identität zwangsläufig durch Distinktion gebildet werden muss.
Schließlich liefern einige russische Soziologen eine Erklärung für den Wiederanstieg der Werte im Jahr 2018: Ethnophobe Stimmungen wachsen dann, wenn Menschen mit ihrer wirtschaftlichen Situation unzufrieden sind und/oder mit einschneidenden sozialen Reformen konfrontiert werden. Da das Realeinkommen in Russland nun seit vier Jahren in Folge sinkt und weil die anberaumte Rentenreform gravierende Einschnitte im Alltagsleben vieler Russen ahnen lässt, würden die Existenzängste auf andere projiziert.14
Text: Anton Himmelspach
erschienen am 18.09.2018
1.vgl. levada.ru: Monitoring Ksenofobskich Nastroenij ↑
2.vgl. demoscope.ru 2013: Trud migrantov obespečivaet 7–8 % VVP Rossii ↑
3.Lewada (2018): Obščestvennoe mnenie 2017, S. 174 ↑
4.vor „Kapitalismus“ (31,2 %), „Revolution“ (30 %), „Kommunismus“ (26,1 %) und „Westen“ (24,7 %), vgl. Byzov, Leontij (2005): Rossijskoe obščestvo v poiskach neokonservativnogo sinteza, in: Vostočnoevropejskie issledovanija, 2005, № 2, S. 121, zitiert nach: Solovej, Tat’jana/Solovej, Valerij (2009): Nesostojavšajasja revoljucija (Istoričeskije smysly russkogo nacionalisma), S. 276f. ↑
5.vgl. Solovej, Tat’jana/Solovej, Valerij (2009): Nesostojavšajasja revoljucija (Istoričeskije smysly russkogo nacionalisma), 269f. ↑
6.vgl. Solovej, Tat’jana/Solovej, Valerij (2009): Nesostojavšajasja revoljucija (Istoričeskije smysly russkogo nacionalisma), 274f. ↑
7.vgl. Pain, Ėmil’ (2007): Imperskij sindrom i imitacija nacional’naja stroitel’stva v Rossii, in: Sociologija: teorija, metody, marketing, 2007, S. 3, S. 38-59, S. 54 ↑
8.vgl. Pain, Ėmil’ (2007): Imperskij sindrom i imitacija nacional’naja stroitel’stva v Rossii, in: Sociologija: teorija, metody, marketing, 2007, S. 3, S. 38-59, S. 50 ↑
9.vgl. hierzu die Ausführungen von Alexander Below, Anführer der Bewegung gegen illegale Immigration: Belov, Aleksandr (2006): Imperskij marš russkogo buduščego ↑
10.Nezavisimaja Gazeta: Vladimir Putin: Rossija: nacional’nyj vopros ↑
11.Manche Nationalismusforscher sahen in dieser Position eine sowjetische Provenienz. Das Modell der Nation war dort zwar im Grunde etatistisch (Staatsnation), hatte aber zugleich einen starken ethnokratischen Anstrich: Alle sowjetischen Ethnien galten darin als „Brüder-Völker“, der russischen Ethnie stand allerdings faktisch stets zumindest die Rolle des primus inter pares zu, vgl. Kaspė, Svjatoslav (2012): Političeskaja teologija i NATION-BUILDING: obščie položenie, rossijskij slučaj, S. 71; Malinovna, Ol’ga (2011): Tema prošlogo v ritorike presidentov Rossii, in: Pro et Contra, maj–avgust 2011, S. 106-122, S.108; Pain, Ėmil (2015): Imperskij Nacionalizm, in: Obščestvennye nauki i sovremennost’, № 2, S. 54-71 ↑
12.levada.ru: Ksenofobija v 2017 godu ↑
13.snob.ru: Analitiki zafiksirovali rost ksenofobii v Rossii ↑
14.vgl. levada.ru: Monitoring Ksenofobskich Nastroenij ↑
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Russische Wirtschaftskrise 2015/16
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Infografik: Das Wahlwunder von Primorje
Fast wäre Andrej Ischtschenko Gouverneur geworden. Gouverneur des Primorski Krai mit der Hauptstadt Wladiwostok im Fernen Osten Russlands. Nachdem am Einheitlichen Wahltag am 9. September keiner der Kandidaten dort eine absolute Mehrheit erzielen konnte, kam es am Sonntag zur Stichwahl zwischen Andrej Ischtschenko von der Kommunistischen Partei und dem Interims-Amtsinhaber Andrej Tarassenko von Einiges Russland. Während der Auszählung sah es die meiste Zeit gut aus für den Kommunisten – doch dann änderte sich das Ergebnis schlagartig.
Ein Kommunist als Gouverneur – das wäre im gegenwärtigen Russland eine Sensation gewesen. Von den über 80 Föderationssubjekten werden die allermeisten von Mitgliedern der Machtpartei Einiges Russland geführt, nur zwei Gouverneure sind dagegen von der KPRF.
Nun sah es lange so aus, als würde mit Andrej Ischtschenko ein dritter dazu kommen. Als 95 Prozent aller Protokolle aus den Wahllokalen ausgewertet waren, führte Ischtschenko noch mit fast 6 Prozentpunkten Abstand gegenüber seinem Kontrahenten Tarassenko (51,6 Prozent zu 45,8 Prozent). Medienberichten zufolge gab es später über eine Stunde lang keine Aktualisierungen mehr auf der Seite der Zentralen Wahlkommission.
Bei einem Auszählungsstand von 99 Prozent aller Protokolle sah das Ergebnis jedoch ganz anders aus: Plötzlich lag Interims-Amtsinhaber Tarassenko vorn. Im vorläufigen Endergebnis wird dessen Stimmanteil mit 49,55 Prozent angegeben, der von Ischtschenko mit 48,06 Prozent. Das bedeutet, dass die neuen bzw. geänderten Ergebnisse aus nur einer Handvoll Wahllokalen den plötzlichen Sprung im Gesamtergebnis verursacht haben. Welche das sind, lässt sich in unserer Karte mit der entsprechen Filterauswahl nachvollziehen:
Zum Zoomen mit dem Mausrad die Strg-/Ctrl-Taste gedrückt halten oder in den Vollbildmodus wechseln. Die Auswahl „Neue Ergebnisse“ zeigt Wahllokale, deren Protokolle um 6:41 Uhr Moskauer Zeit erstmals in der Gesamtrechnung berücksichtigt wurden. „Geänderte Ergebnisse“ zeigt Wahllokale, deren bereits berücksichtigte Protokolle noch nachträglich umgeschrieben wurden. Dargestellt sind 1310 von 1537 Wahllokalen – für die fehlenden lagen keine Koordinaten vor. Quelle: ZIK
Die KPRF spricht von Wahlfälschungen, ihr Kandidat Ischtschenko hat auf seiner Facebook-Seite zum Protest aufgerufen und einen Hungerstreik verkündet. Auch Wahlanalysten äußern Zweifel an einem regelkonformen Zustandekommen eines solch abrupten Wechsels in den Ergebnissen. So schreibt etwa Alexander Kirejew auf seinem Blog: „Genau so sieht es aus, wenn Wahlergebnisse nachträglich umgeschrieben werden.“
Der Physiker Sergej Schpilkin, der auch schon Unregelmäßigkeiten etwa bei der Dumawahl 2016 oder der diesjährigen Präsidentschaftswahl publik gemacht hatte, weist auf Besonderheiten in der Stimmverteilung hin. Diese werden erkenntlich, wenn man die Ergebnisse aus den Wahllokalen nach deren Wahlbeteiligung sortiert und in einem sogenannten Histogramm darstellt:
Quelle: ZIK
Die Glockenkurve um die Spitze bei etwa 30 Prozent Wahlbeteiligung markiert für Schpilkin den Bereich, der am ehesten einer Gaußschen Normalverteilung gleicht, was Schpilkin als Indiz für eine weitgehend ehrliche Auszählung wertet. Dort hat tatsächlich der Kandidat der KPRF mehr Stimmen geholt.
Der Kandidat von Einiges Russland dagegen hat deutlich mehr Stimmen in den Wahllokalen mit überdurchschnittlich hoher Wahlbeteiligung geholt. Der berühmte „Zackenbart“, die Ausreißer bei bestimmten Wahlbeteiligungs-Werten am rechten Ende der Skala (oft bei runden Zahlen wie 80 oder 95 Prozent), die eine deutliche Abweichung von einer Normalverteilungskurve darstellen, deuten für Schpilkin auf erfundene Ergebnisse hin.
Ella Pamfilowa, Chefin der Zentralen Wahlkommission, erklärte, dass man erst allen Beschwerden nachgehen wolle, bevor das amtliche Ergebnis der Gouverneurswahl im Primorski Krai verkündet wird. Dabei schloss sie auch eine Annullierung der Wahl nicht aus.
Update: Am 20. September hat die Wahlkommission des Primorski Krai die Ergebnisse der Stichwahl vom 16. September für ungültig erklärt. Eine Wiederholung der Wahl fand am 16. Dezember statt. Andrej Ischtschenko von der Kommunistischen Partei blieb die Zulassung zur Wahl verwehrt. Eine Reihe von Wahlbeobachtern sprach in diesem Zusammenhang von einem Verstoß gegen das Wahlrecht. Außerdem gab es zahlreiche Hinweise auf Wahlfälschungen. Laut offiziellem Wahlergebnis gewann Oleg Koshemjako, der neue Kandidat von Einiges Russland, mit rund 62 Prozent der Stimmen.
Text und Datenvisualisierung: Daniel Marcus
erschienen am 17.09.2018 (Aktualisierung: 17.01.2019)Weitere Themen
„Und Sie glauben nicht, dass Sie benutzt werden?“
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Bystro #4: 6 Fragen an die Verdächtigen im Fall Skripal
Sind die beiden Verdächtigen im Fall Skripal nur Touristen, die die „englische Gotik genießen“ wollten? Nachdem britische Ermittler Fotos und Namen veröffentlicht hatten, haben Ruslan Boschirow und Alexander Petrow der Chefredakteurin des russischen Auslandssenders RT, Margarita Simonjan, ein Interview gegeben.
Ihre Version der Geschichte: Petrow und Boschirow seien ihre richtigen Namen (die britischen Ermittler hatten dies angezweifelt), sie seien keine Geheimdienstmitarbeiter, sondern als Touristen in London gewesen. Nach Salisbury seien sie gefahren, um die „berühmte Kathedrale“ dort zu besichtigen. Wegen des extrem schlechten Wetters seien sie aber zunächst wieder nach London zurückgekehrt, um am nächsten Tag wiederum nach Salisbury zu fahren.Nach dem Interview wurde vielerorts im russischen Internet gemutmaßt, ob es sich bei den beiden um ein schwules Pärchen handele. Der von Simonjan selbst ins Spiel gebrachte Verdacht um die sexuelle Orientierung der beiden wurde mitunter als geschickter Schachzug gewertet, da nach traditioneller Auffassung russische Agenten generell nicht schwul sind. Der britische Geheimdienst hatte Fotos ihres Hotelzimmers veröffentlicht, auf denen ein Doppelbett zu sehen war.
Sie geben indem Interview außerdem an, im Fitnessbusiness tätig zu sein. Den Namen ihrer Firma aber wollen sie nicht nennen, um ihre Geschäftspartner zu schützen.
Als Beweis ihrer Unschuld führen sie unter anderem an, dass man an der Grenze ja auf sie aufmerksam geworden wäre, hätten sie als Männer tatsächlich Frauenparfüm bei sich gehabt (das Nowitschok, mit dem die beiden Skripals vergiftet worden waren, befand sich laut britischen Ermittlungen in einem solchen Parfümflakon).Meduza hat nach dem Interview sechs offene Fragen gesammelt.
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1. Warum haben Petrow und Boschirow keine Fotos der Kathedrale von Salisbury gezeigt?
Die Russen erklären ihre Reise nach Salisbury damit, dass sie örtliche Sehenswürdigkeiten und insbesondere die Kathedrale von Salisbury sehen wollten. Ihren Angaben zufolge sei es ihnen am 4. März gelungen, die Kathedrale zu besichtigen, und sie hätten dort sogar Fotos gemacht.
Im Interview wundern sich Petrow und Boschirow, warum die britische Polizei keine Aufnahmen von Überwachungskameras nahe der Kathedrale veröffentlicht hat (wobei Scotland Yard auch nicht behauptet hat, dass die Russen dort nie gewesen wären). Dabei haben sie aus irgendwelchen Gründen keine eigenen Fotos von der Sehenswürdigkeit gezeigt, die ihre Version über die Absicht der Reise nach Salisbury belegt hätten. Auf das direkte Angebot von Simonjan, das zu tun, sind sie kein bisschen eingegangen.
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2. Warum haben Boschirow und Petrow so wenig über sich erzählt?
Das Hauptziel des Interviews war für Boschirow und Petrow, ihren eigenen Worten zufolge, zu zeigen, dass sie ganz gewöhnliche Russen sind. Allerdings haben sie dafür nur minimale Anstrengungen unternommen: Zum Beispiel waren sie nicht bereit, auch nur irgendwelche Details aus ihrem persönlichen Leben zu erzählen. So wirft das Gespräch nur neue Fragen auf. Wenn sie wenigstens den Namen der Firma genannt hätten, in der sie arbeiten, dann hätte man prüfen können, wann sie registriert wurde, ob sie wirklich Geschäfte machen – und ob sie mit dem Staat verbunden ist.
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3. Boschirow und Petrow sind nach London gefahren, um „zu relaxen“. Zwei von drei Tagen haben sie in Salisbury verbracht. Ist das ihre Vorstellung von „Relaxen“?
Das ruhige 45.000-Einwohner-Städtchen Salisbury liegt über 100 Kilometer von der britischen Hauptstadt London entfernt. Zu Beginn des Interviews sagen Boschirow und Petrow, dass sie nach Großbritannien nicht zum Arbeiten gekommen seien, sondern zum „Relaxen“. Anscheinend bedeutet „Relaxen“ für sie, zwei von drei Urlaubstagen auf dem Weg nach Salisbury und zurück zu verbringen.
Vielleicht sind Boschirow und Petrow große Architektur-Liebhaber und beschäftigen sich tatsächlich mit Gotik. Aber dennoch, aus dem Interview wird ein solch besonderes Interesse nicht erkenntlich.
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4. Hat das Wetter Petrow und Boschirow wirklich gestört?
Die britische Polizei sagt, dass Petrow und Boschirow an zwei Tagen in Salisbury waren: Am ersten Tag „zur Erkundung“, am zweiten, um das Verbrechen zu begehen. Im RT-Interview betonen Petrow und Boschirow, dass sie die Stadt beide Male als Touristen besucht hätten: Am 3. März fuhren sie nach Salisbury, aber dort sei alles „voller Schneematsch“ und sie selbst völlig durchnässt gewesen, so seien sie wieder gefahren, um am nächsten Tag wiederzukommen.
Fotos in Sozialen Medien belegen, dass am 3. März durchaus Touristen in Salisbury waren, die nichts daran hinderte, die Kirche zu besichtigen. Hier ein Beispiel:вот так "солберецкий" собор выглядел 3 марта этого года. сами видите, погода невыносимая. pic.twitter.com/SbhrPrUgnN
— Лиза Фохт (@lizafoht) 13. September 2018
„So sah die Kathedrale von Salisbury am 3. März aus. Wie man sieht, das Wetter ist nicht zu ertragen.“
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5. Wie haben Boschirow und Petrow Kontakt zu Margarita Simonjan hergestellt?
Wie die Chefredakteurin von RT sagte, haben die mutmaßlichen Vergifter sie selbst um ein Interview gebeten, indem sie sie auf ihrem Mobiltelefon anriefen. Dabei, so Simonjan, kennen ihre Nummer „alle, sogar Kuriere, die Blumen zum 8. März ausfahren“. In Wirklichkeit ist Simonjans Telefonnummer auf keiner ihrer Profilseiten in Sozialen Netzwerken zu finden, auch auf der Website von RT steht sie nicht. Standardanfragen auf Suchmaschinen spucken ihre Nummer ebenfalls nicht aus. Die Männer haben sich laut eigenen Angaben erst nach dem Vorschlag von Wladimir Putin zu einem Gespräch mit den Medien entschlossen: „Ich möchte mich an sie wenden, damit sie uns heute zuhören. Sie sollen kommen […] zu den Medien“, erklärte Putin tagsüber am 12. September, und abends war das Interview schon gedreht. Sie müssen die Nummer Simonjans also buchstäblich innerhalb von ein paar Stunden herausgefunden haben.
[Ergänzung von Meduza: Am Abend des 13. September verlinkte die Yandex-Suche unter den ersten Rängen einen Eintrag aus dem Steuerregister, wo tatsächlich Simonjans Telefonnummer steht. Google gibt diese Seite unter analogen Suchanfragen nach wie vor auf den ersten Seiten nicht aus. Simonjan selbst sagte, dass sie nicht ausschließe, dass Putin ihre Nummer an Baschirow und Petrow gegeben habe.]
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6. Warum hat Simonjan ihnen einige wichtige Fragen nicht gestellt?
Warum unterscheiden sich ihre Reisepassnummern nur um eine Ziffer? Warum sind sie sich so sicher, dass sie an der Grenze angehalten worden wären, wenn man Frauenparfüm bei ihnen entdeckt hätte? Wie reagieren ihre Verwandten, Nahestehende, Bekannte und Geschäftspartner auf das Aufsehen um sie?
Wladimir Putin sagte: „Wir haben uns natürlich angeschaut, was es für Leute sind. Wir wissen, wer sie sind, wir haben sie gefunden.“ Wer hat sie denn genau gefunden? Haben sich die beiden mit Geheimdiensten unterhalten?
Und zuletzt ganz banale Fragen: Wo haben sie ihre Ausbildung gemacht? Wer sind ihre Eltern? Was für einen Lebenslauf haben sie?
Im Grunde weiß man nach dem Interview nicht mehr über sie, als davor.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Russisches Original: Meduza
Übersetzung: dekoder-Redaktion
veröffentlicht am 14.09.2018Weitere Themen
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Panel #1: Gelten in Russland andere Werte als im Westen?
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„Die Nowosibirsker ähneln den Leuten im Mittleren Westen“
US-Fotograf Nathan Farb hatte die Gelegenheit, in den 1970er Jahren in der Sowjetunion zu fotografieren: Im Rahmen einer Ausstellung über US-amerikanische Fotokunst fotografierte er etwa 5000 Porträts. Jetzt kehrt er zurück und sucht nach den Menschen auf seinen Fotos. Die Kinobrigada, ein Filmteam aus Frankfurt am Main, begleitet ihn dabei. Hessen Film und Media fördert das internationale Projekt. Die Fotos werden dafür auch über Social Media verbreitet, einige Menschen haben schon sich selbst, Freunde oder Verwandte darauf wiedererkannt.
Lera Schwez hat für Meduza mit Nathan Farb gesprochen – über seine Eindrücke damals, seine Art zu fotografieren und warum er findet, dass die Menschen in Nowosibirsk denen im Mittleren Westen der USA ziemlich ähnlich sind.
Lera Schwez: Wie kamen Sie in den 1970er Jahren in die UdSSR?
Nathan Farb: Ich musste regelrecht betteln. Aus Sicht der amerikanischen Informationsagentur USIA, die diese Reise organisiert hat, war ich ein Niemand. Ich hatte kaum Erfahrung, hatte nur ein paar Ausstellungen gemacht. Ich unterrichtete an der Rutgers University, gab dort einen Foto-Kurs; ich war nicht besonders bekannt, habe auch für keine große Organisation gearbeitet. Ich war völlig unabhängig. Ausgewählt wurden [für die US-Delegation] entweder bekannte Leute oder, nun ja, Fotografen von National Geographic.
Ich hatte damals die Idee mit den Polaroid-Aufnahmen. Suchte mir Filme, die gleichzeitig Positiv- und Negativbild erzeugen, und fing an zu fotografieren. Wenn du als professioneller Journalist oder Künstler jemanden fotografierst, kommt etwas anderes dabei heraus, als wenn du es für die Person selbst tust. Wenn du etwas machst, das du ihnen geben kannst, bekommst du ein besonderes Ergebnis. Das klingt einfach, aber ich habe Jahre gebraucht, bis ich das verstanden habe.Und dieses Verfahren wollten Sie auch in der UdSSR einsetzen?
Genau. Ich landete zwar zunächst auf der Warteliste, wurde aber am Ende genommen, weil jemand anderes abgesagt hatte. Etwa drei Wochen vor der Abreise bekam ich einen Anruf: „Wollen Sie immer noch nach Nowosibirsk?“ Ich sagte: „Klar!“
Wissen Sie, im Leben gehört auch immer etwas Glück dazu.Erinnern Sie sich noch an Ihre ersten Eindrücke?
Als ich gerade erst in Nowosibirsk angekommen war und die Menschen traf, war ich erstaunt. Wenn ich zum Beispiel zu jemandem nach Hause kam, sah ich dort eher untypische sowjetische Kunst, so was a lá Rodtschenko. Ich fragte, wie ist das denn einfach so möglich, und sie lachten: „Wir sind sehr weit weg von Moskau.“ In Nowosibirsk, habe ich bemerkt, dass alle Industriegesellschaften etwas gemeinsam haben. Das [politische] System spielt gar nicht wirklich eine Rolle. Zum Beispiel war die Scheidungsrate in Russland und den USA damals gleich hoch.
Welche Gemeinsamkeiten gab es noch?
Die Sowjetunion war als klassenlose Gesellschaft aufgebaut. Aber ich sah sofort, dass es in der UdSSR verschiedene Typen von Menschen und auch unterschiedliche Klassen gab.
Außerdem hatte ich den Eindruck, dass die Menschen in Nowosibirsk sehr den Menschen im Mittleren Westen der USA ähnelten. Sie sind nicht so prätentiös wie in New York oder Kalifornien. Ich war froh, dass ich ausgerechnet in Nowosibirsk gelandet war und nicht in Moskau oder St. Petersburg. Ich fand, dass ich auf diese Weise dem normalen Leben der Sowjetmenschen näher kam.Waren Sie lange dort?
Ich glaube, sechs Wochen. Ich bin jeden Tag in die Ausstellung [amerikanischer Fotokunst, die in Nowosibirsk gezeigt wurde – dek] gegangen, sie war riesig. Ich habe gehört, es waren täglich 5000 bis 10.000 Besucher da.
Wie verlief Ihre Arbeit dort in der Ausstellung?
Ich habe in einem Studio gearbeitet. Die Menschen kamen dorthin und warteten, bis sie fotografiert wurden. Ich nahm mir so viel Zeit, wie ich brauchte.
Haben die Menschen, die Sie fotografiert haben, versucht, mit Ihnen ins Gespräch kommen?
Viele kamen einfach, um zu sehen, wie ich arbeite. Sie hatten noch nie ein Polaroid gesehen. Sie bekamen ihr Bild sofort und konnten es mit nach Hause nehmen. Das war etwas völlig Neues.
Mit einigen russischen Fotografen habe ich mich unterhalten. Sie sagten: „Oh, wir sind viel fortschrittlicher, wir machen schon alles in 3D.“
Aber die amerikanische Fotografie bewegte sich damals in eine etwas andere Richtung – sie erforschte, was psychisch in den Menschen vor sich ging. Technische Aspekte, so etwas wie 3D, interessierten mich damals nicht so sehr. Ich war eben Teil der amerikanischen Kultur.
Was haben Sie in den Sowjetmenschen aus Nowosibirsk gesehen, die bei Ihnen vor der Kamera standen?
All diese Menschen waren in einer bestimmten Lebensphase, ich sah sie an und versuchte zu erahnen, was sie über sich erzählen. Wir verbergen immer etwas, das liegt in der Natur des Menschen.
Miteinander gesprochen haben wir wenig, aber viele Emotionen ausgetauscht.Welchen Eindruck hatten Sie nach sechs Wochen in Nowosibirsk von der sowjetischen Gesellschaft?
In gewisser Hinsicht erschien sie mir der US-amerikanischen sehr ähnlich. Mehr als ich gedacht hätte. Aber damals gab es zwei Pole. Auf der einen Seite war da die US-amerikanische Propaganda, die alle [Sowjetbürger] als völlig gequält und unterdrückt darstellte. Auf der anderen stand die Sowjetpropaganda, mit traktorfahrenden Frauen, und so – alle sind gleichberechtigt und jeder leistet seinen Beitrag zum Aufbau der klassenlosen Gesellschaft. Diese zwei Narrative gab es, aber keines davon passte zu dem, was ich sah.
Waren Sie auch bei jemandem zu Hause zu Besuch?
Während meines Aufenthalts habe ich drei, vier Menschen kennengelernt. Mir ging es ja hauptsächlich ums Fotografieren.
Aber es gab da eine junge Frau – die würde ich übrigens sehr gern finden und erfahren, was aus ihr geworden ist – mit sehr langen Zöpfen. Sie war damals noch ein Teenager. Sie erzählte mir, sie sei Künstlerin, und zeigte mir ein paar Zeichnungen. Man nannte sie Zöpfchen. Einmal habe ich sie zum Mittagessen eingeladen. Für uns Amerikaner gab es ein spezielles Restaurant, es hieß, das Essen dort sei wesentlich besser. Danach hat der Mann, der dafür zuständig war, mich zu beaufsichtigen, der amerikanischen Delegation gemeldet, ich hätte mit ihr zu Mittag gegessen, und das sei inakzeptabel.Sie sagten, Sie hätten es geschafft, die Negative der Portraits per Diplomatenpost außer Landes zu bringen. Komisch, dass es keiner in Ihrem Umkreis mitbekommen hat, nicht einmal der Geheimdienst, der sie überwachte.
Manche Techniker wussten, was ich mache, sie haben mir ja geholfen, die Filme zu reinigen. Deswegen bin ich nicht davon überzeugt, dass keiner etwas wusste. Bei der Ausreise aus der UdSSR wurde am Flughafen mein Gepäck kontrolliert. Da kam der [Zoll-]Chef und sagte: „Seine Negative haben die Sowjetunion schon verlassen.“ Es hat also definitiv jemand davon gewusst.
Was passierte danach, als Sie in die USA zurückkehrten?
Ich habe mich sofort darangemacht, die Fotos zu vergrößern. Mir war klar, dass ich einmaliges Material aus der UdSSR hatte. Dann reiste ich nach Europa. Ich fuhr mit einem Eurail-Ticket von Hauptstadt zu Hauptstadt und bot den renommiertesten Zeitschriften meine Fotos an. Viele haben welche gekauft, alle fanden es interessant.
Später hat ein Bekannter von mir, ein Kunsthistoriker, meine Arbeiten seinem Verlag gezeigt. So ist der Bildband The Russians entstanden.Glauben Sie, es ist Ihnen gelungen, den Zeitgeist der Menschen in der damaligen Sowjetunion einzufangen?
Das ist eine sehr gute Frage. Ich habe mich bemüht, unterschiedliche Menschen zu zeigen, einschließlich ziemlich seltsamer Gestalten, oder freundlicher gesagt, Sonderlingen.
Nehmen wir zum Beispiel den Jungen mit der Sonnenbrille und dem langen Mantel. Das ist ein sehr interessanter Fall. Er sah vollkommen gewöhnlich aus. In den USA würde man sagen, das ist ein Junge, der nur Weißbrot isst. Ich meine so Industriebrot. Seine Mutter stand jeden Tag lange dort an und winkte mir zu: „Bitte fotografieren Sie meinen Jungen!“ Eine Woche stand sie so da, vielleicht sogar zehn Tage. Am Ende willigte ich ein. Da zieht sie ihm plötzlich ihren Mantel an und setzt ihm ihre Sonnenbrille auf. Keine Ahnung, warum! Später hat sich gezeigt, dass sich viele genau so einen [typischen] sowjetischen Jungen vorstellen. Sie hat mir diese Aufnahme quasi geschenkt.
Wie kamen Sie auf die Idee, jetzt noch einmal nach Russland zu fahren?
Es war nicht meine Idee, sondern die des Schriftstellers Andrej Filimonow und seiner Freunde von der Filmtruppe Kinobrigada aus Frankfurt. Sie haben den Artikel in der New York Times gelesen, Kontakt zu mir aufgenommen und gefragt, ob ich Interesse hätte, noch einmal nach Russland zu fahren. Ich dachte mir, es könnte wieder ein Abenteuer werden und sagte ja.
Je näher die Reise rückt, desto nervöser werde ich, denn ich habe viele Fragen, auf die ich noch keine Antwort weiß. Ich muss zum Beispiel lernen mit der Digitalkamera zu arbeiten. In den letzten Monaten verbringe ich mehrere Stunden täglich damit und übe. Die Ausrüstung, mit der ich 1970 gearbeitet habe, gibt es nicht mehr. Aber ich möchte den Leuten die Aufnahmen wieder gleich vor Ort mitgeben.
Wenn Sie sich auf einem Foto von Natan Farb wiedererkannt haben oder er Sie 1977 in Nowosibirsk bei der Ausstellung „Fotokunst aus den USA“ fotografiert hat und Sie auch an seinem neuen Projekt teilnehmen möchten, melden Sie sich bei Anatoli Skatschkow: NKnop@kinobrigada.net
Fotos: Nathan Farb
Interview: Lera Schwez
Bildauswahl: Franziska Schmidt
Übersetzung: Maria Rajer und Jennie Seitz
veröffentlicht am 14.09.2018
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April: Liebe in Zeiten des Konflikts
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Video #22: „Herr Nawalny, ich fordere Sie zum Duell“
Auf YouTube hat der Chef der russischen Nationalgarde Viktor Solotow ordentlich Dampf abgelassen: „Ich fordere Sie zum Duell“, wandte sich der General und einstige Leibwächter Putins in einem siebenminütigen Video an Oppositionspolitiker Alexej Nawalny.
Dessen Fonds für Korruptionsbekämpfung hatte zuvor Recherchen über Korruption bei der Nationalgarde vorgelegt. Dabei wird Solotow beschuldigt, dass er sich persönlich bereichert habe. Dies weist er im Video weit von sich, wenn er auch „korruptionsbedingte Mängel“ in seiner Behörde eingesteht.
Nawalny sitzt unterdessen eine 30-tägige Haftstrafe ab, wegen Organisation nicht genehmigten öffentlichen Protests. Nichtsdestotrotz hatten seine Anhänger am vergangenen Wochenende erneut in mehreren Städten Russlands Proteste gegen die geplante Rentenreform durchgeführt, dabei waren mehr als 1000 Menschen festgenommen worden.
Solotows virtuelle Kampfansage an „Gospodin Nawalny“ (dt. „Herr Nawalny“) , wie er ihn anspricht, ging im RUnet schnell viral. Kreml-Sprecher Peskow sagte, die Äußerungen Solotows über den offiziellen YouTube-Kanal der Nationalgarde seien mit Putin nicht abgesprochen gewesen. Zugleich äußerte er Verständnis für Solotow und meinte, man müsse Verleumdungen bisweilen im Keim ersticken.Das Originalvideo finden Sie hier.
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dekoder-Redaktion
erschienen am 12.09.2018Weitere Themen
„Zeit, dem Informationskrieg einen Riegel vorzuschieben“
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Infografik: Bürgermeisterwahl in Moskau
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Bumm Bumm Bumm
Heute beginnt das russische Militärmanöver Wostok 2018 (dt. „Osten 2018“) in Russlands Fernem Osten. Das russischen Verteidigungsministerium gibt an, dass allein 300.000 Soldaten daran beteiligt sein sollen. Damit wäre das Manöver größer als alle NATO-Übungen der letzten Jahrzehnte.
Militärexperte Alexander Golz jedoch traut diesen Zahlen nicht. Bemerkenswert an der Übung ist für ihn in seinem Kommentar auf The New Times dagegen etwas ganz anderes: Erstmals ist auch China beteiligt.
Für die russischen Chefs gehört es zum guten Ton, den Rest der Welt ab und zu mit militärischer Stärke zu schrecken. Wir erinnern uns, dass der Präsident im März viel von phantastischen Atomraketen sprach, die durch die amerikanischen Raketenabwehrsysteme dringen wie ein Messer durch die Butter. Seine Worte wurden in animierten Videoclips bekräftigt, in denen unsere atomaren Sprengköpfe gen Florida flogen.
Nun hat Verteidigungsminister Sergej Schoigu das Manöver Wostok 2018 angekündigt, das im asiatischen Teil Russlands stattfinden soll.Angeblich 300.000 Militärangehörige beteiligt
Dem Minister zufolge werden daran rund 300.000 Militärangehörige und über 36.000 Fahrzeuge und Waffensysteme aller Art beteiligt sein. Er erklärte, es seien die größten Kriegsspiele in der postsowjetischen Ära, und verglich Wostok 2018 mit dem berühmten Manöver Sapad-81 in der ausgehenden Breshnew-Zeit, wobei er hervorhob, dass das nun anstehende Manöver in gewisser Hinsicht sogar jene der Sowjetunion übertreffen würde.
Wenn das alles ernst gemeint ist, dann haben jene, die Wladimir Putin mit zusammengebissenen Zähnen als seine „Partner“ bezeichnet, wirklich Grund zur Sorge. Eine führende Atommacht hält Manöver ab, die in ihrer Dimension mit den Kriegsspielen vergleichbar sind, die es auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges gegeben hat. Immerhin setzte die UdSSR, die seinerzeit über eine Truppenstärke von fünf Millionen verfügte, bei dem Manöver Sapad-81 nur 100.000 bis 120.000 Mann ein. 1981 war diese riesige Anzahl der beteiligten Soldaten durchaus erklärlich: Man bereitete sich auf einen globalen Vernichtungskrieg unter (wenn auch begrenztem) Einsatz von Atomwaffen vor. Heute jedoch, wo die Wahrscheinlichkeit eines Kampfeinsatzes von Millionen Soldaten nahe Null liegt, hält niemand Manöver von solcher Größe ab.
Dimension wie auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges
Außerdem fand Sapad-81 in einem klaren politischen Kontext statt: In Polen begann damals die Konfrontation zwischen der Solidarność-Bewegung und dem kommunistischen Regime. Es war kein Zufall, dass zu den Szenarien des Manövers damals zwei Luftlandeoperationen gehörten, eine unmittelbar in Polen, die andere in Belarus. Und es ist auch kein Zufall, dass es drei Monate später in der Volksrepublik Polen praktisch einen Militärputsch gab: Der unlängst ans Ruder gekommene General Jaruzelski befahl nicht nur die Internierung der Anführer des Widerstands, sondern rief darüber hinaus das Kriegsrecht aus – unter anderem, um eine sowjetische Intervention zu vermeiden.
Im Vorfeld Flottenübungen im Mittelmeer
Heute jedoch sind im Osten keine plötzlichen Krisen zu beobachten. Und die russisch-amerikanische Konfrontation verschärft sich auf einem ganz anderen Teil des Planeten.
Im Vorfeld von Wostok 2018 haben im Mittelmeer russische Flottenübungen bislang ungekannten Ausmaßes begonnen, an denen über 20 Kriegsschiffe beteiligt sind. Das sind praktisch sämtliche Schiffe der russischen Flotte, die es bis nach Syrien schaffen können. Der militärische und politische Sinn des Seemanövers liegt auf der Hand: Die russischen Schiffe, die mit Lenkraketen großer Reichweite vom Typ Kalibr ausgerüstet sind, sollen die Unterstützung für die Streitkräfte von Assad absichern, die in den kommenden Tagen die Provinz Idlib unter ihre Kontrolle bringen wollen. Der Sicherheitsberater des US-Präsidenten, John Bolton, hat Nikolaj Patruschew, den Sekretär des russischen Sicherheitsrates, bereits gewarnt: Falls Assad erneut Giftstoffe einsetzt, werde Washington angreifen.
An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass der Einsatz von Chlorgas in letzter Zeit zu einer Art Visitenkarte der Angriffsoperationen syrischer Regierungstruppen geworden ist. Die Präsenz von 26 Kriegsschiffen soll Washington davon abhalten, sich erneut – wie im April dieses Jahres – für eine Antwort mit Tomahawks zu entscheiden, wenn Assad Giftstoffe einsetzt.3.000 chinesische Soldaten und Offiziere beteiligt
Aber irgendwie wirkt das alles merkwürdig: Zu einem Zeitpunkt, da die Konfrontation im Mittelmeer zunimmt, plant die russische Armee im östlichen Teil des Landes Manöver von noch nie dagewesenen Ausmaßen – tausende Kilometer von den Kriegsschauplätzen im Nahen Osten entfernt. Das wäre ja noch alles nachvollziehbar, wenn es um den Wunsch ginge, die militärische Stärke Russlands China gegenüber zu demonstrieren, der einzigen militärischen Macht, die über das Potential verfügt, in den asiatischen Teil Russlands einzumarschieren.
Neben der Beteiligung von mongolischen Einheiten an den Manövern ist jedoch das Sensationelle an Wostok 2018, dass auch 3000 chinesische Soldaten und Offiziere teilnehmen werden. Seien wir ehrlich: Das dürfte die Entwicklung einer Verteidigung gegen eine chinesische Invasion erheblich erschweren.
Das größte Geheimnis hinsichtlich der Manöver ist, warum überhaupt solche riesigen Manöver im Osten des Landes abgehalten werden. Glaubt man nämlich Verteidigungsminister Schoigu, wird an den Manövern ein Drittel aller Militärangehörigen des Landes teilnehmen, das ist mehr als die Truppenstärke der russischen Festlandstreitkräfte. Vermutlich ist es die Gesamttruppenstärke der Militärbezirke Ost und Zentrum, der Luftlandetruppen und der Nordmeerflotte.
Zahlen verblüffen durch Ungereimtheiten
36.000 Fahrzeuge und Waffensysteme – die Zahlen verblüffen durch ihre Ungereimtheiten. Nach Angaben des allseits geschätzten Nachschlagewerks The Military Balance gibt es im Militärbezirk Ost eine Panzerdivision und zehn mechanisierte Brigaden (das ergibt zusammen niemals mehr als 2000 bis 3000 Panzer, Schützenpanzer und Infanteriefahrzeuge). Im Militärbezirk Zentrum gibt es noch weniger: eine Panzerdivision und sieben Brigaden. Nehmen wir darüber hinaus einmal an, dass da auch sämtliche Automobile mit eingerechnet werden, dann kommen bestenfalls 8000 bis 10.000 hinzu. Wo kommen nun die unglaublichen 36.000 her?
Der Versuch, eine derartige Menge Kriegsgerät aus dem europäischen Teil Russlands zu verlegen – ich bezweifle, dass das Verteidigungsministerium überhaupt über eine derartige Menge einsatzfähiger Waffen verfügt – würde die Verkehrswege zwischen der Landesmitte und dem Osten des Landes für mehrere Wochen lahmlegen.Kriegsministerium kann hemmungslos lügen
Das Rätsel um das Manöver Wostok 2018 ist leicht gelöst: Das Kriegsministerium hat ausgerechnet hier die Gelegenheit, hemmungslos auf die Pauke zu hauen und auch hemmungslos zu lügen. Der Umfang von Militärmanövern wird in Europa durch die Bestimmungen des Wiener Dokuments [über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen – dek] beschränkt: auf höchstens 9000 Soldaten bei vorher anzukündigenden Manövern. Außerdem müssen ausländische Beobachter eingeladen werden. Im Osten jedoch haben unsere russischen Münchhausens mit ihren Generalsstreifen Platz zum Aufmarschieren. Sie können alle möglichen, selbst die unglaublichsten Truppenzahlen verkünden, die die militärische Stärke des Vaterlandes demonstrieren sollen – und keiner wird sie erwischen In Wirklichkeit dürften es 30.000 bis 40.000 Soldaten sein, die an den Manövern teilnehmen (und das ist schon viel). Die übrigen Einheiten werden den Befehl erhalten, zum Zielschießen auf ihre Übungsplätze auszurücken.
Wenn nun der Verteidigungsminister dem Obersten Chef des Landes aufgeblasene Ziffern meldet, könnte man meinen: Lass ihm doch das Vergnügen. Allerdings besteht die Gefahr, dass Putin tatsächlich glaubt, er könne im Ernstfall ein 300.000-Mann-Heer gen Osten aufmarschieren lassen.
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Wie Russland lernte, die Bombe zu lieben
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Editorial: Aus 1 mach 2
dekoder wird drei!!
… Da dürfen wir uns doch was wünschen, gell? Mit 18 wünscht man sich Geld … Aber mit drei? Da wirkt dieser Wunsch befremdlich, schlecht erzogen. Aber ja, liebe Leserinnen und Leser: Wir wünschen uns Geld!
Aber nicht, dass ihr denkt, wir würden es verprassen. Nix da, es wird weiter dekodert, was das Zeug hält – und genau da findet eure Spende ihren Einsatz, und gleich doppelt. Wie geht denn das? Wir haben seit einem Jahr einen sogenannten Matching-Fonds von der Konvert-Stiftung unseres Gründers Martin Krohs. Das bedeutet, dass wir jede Summe, die wir von Stiftungen u. ä. einwerben, um die gleiche Summe aufstocken können. Diese Regel gilt nun genau eine Woche lang auch für Spenden von euch. Und so wird Community-Kommunikatorin Alena Göbel eine Woche lang mit Spenden von euch genau dies tun, zauberizaubera: verdoppeln. Deswegen seid bei euren Geburtstagsspenden umso großzügiger, es zahlt sich für uns und somit auch für euch doppelt aus.
Das für euch so erfreuliche „Lesen, Wischen, Recherchieren, Assoziieren – und sich einfach mal Verlieren“ auf dekoder kann sich dann heiter weiterentwickeln. Wir werden weiterhin gute Texte und spannendes Kulturgut in Russland finden, es übersetzen und von angenehm lesbaren, wissenschaftlich fundierten Texten begleiten lassen.
Und wie in letzter Zeit immer öfter – dank Redakteur Daniel Marcus – durch Cyberwunder in den digitalen Himmel projizieren oder auf die virtuelle Schiene.
Wir stehen also weiterhin vor der Herausforderung: All die sorgfältige Arbeit und geplanten Vorhaben finanzieren. Wofür wir euch wie bisher als begeisterte Leser brauchen, die uns weiterempfehlen, und auch als handfeste Unterstützer!Für einen Rückblick taugt das zarte Alter von drei Jahren noch nicht. Vor allem würde es in die falsche Richtung weisen. Aber wir können uns Meilensteine anschauen, die auch die Richtung vorgeben, in die wir weiterstreben.
Der erste Meilenstein war der dekoder Start. Martin Krohs hatte keine Handvoll idealistischer Überzeugungstäter um sich versammelt, darunter Wissenschaftsredakteur Leonid Klimov und Übersetzungsredakteurin Friederike Meltendorf, und dann ging’s los. Wir saßen wie heute in Altona (und wie heute saßen schon immer einige ganz woanders) und feilten an Texten. Draußen in der Welt wusste noch niemand, was da bald starten würde. Das Büro richteten wir im Datscha-Style ein – (was das auch immer hieß). Das Wichtigste dabei war die Tapete. Sie war selbst entworfen, und wir haben sie quer und bis heute nicht bis ganz unter die Decke geklebt. Wir nannten sie Malewitsch und folgen weiterhin ihrem zukunftsweisenden Geist.
Das war der Anfang: Martin Krohs (Gründer), Friederike Meltendorf (Übersetzungsredakeurin), Leonid Klimov (Wissenschaftsredakteur) und Eduard Klein (Politikredakteur 2015)Am 1. September 2015 gingen wir online. Hm, wie das mit Eröffnungen gerade in der virtuellen Welt so ist. Sie sind akustisch recht still. Aber eigentlich war es ein Bombenerfolg. Wir wurden gefragt, erwähnt, porträtiert, interviewt und geliked. Und wir arbeiteten emsig weiter und schrieben, wählten aus, übersetzten, schriebenwähltenausübersetzten … arbeiten können wir echt gut.
Aber wir können auch feiern. Und so fuhren wir mit fast voller Belegschaft eines Tages los nach Köln, samt neuem Politikredakteur Anton Himmelspach (plus quasi 1, denn Chefredakteurin Tamina Kutscher war schon ziemlich schwanger). Wir liefen alle ausgelassen den Rhein entlang zum Festsaal, obwohl die Preisträger bis zum Moment der Vergabe wirklich geheim sind. Und dekoder bekam den Grimme Online Award 2016 in der Kategorie Information! Das war im Juni 2016.
Auch vom dritten Meilenstein gibt es ein Foto. Da wurde die dekoder-Redaktion nämlich plötzlich erwachsen. Das war im Juli 2017. Wir tagten auf Einladung in der Elbvilla der Alfred-Töpfer-Stiftung, gingen als Redakteure hinein, kamen als Gesellschafterinnen und Gesellschafter der Dekoder gGmbH wieder heraus und tanzten in der Abendsonne über den Strand. Eigentlich müssten auf diesem Foto nicht wir zu sehen sein (deswegen lassen wir es weg), sondern die, die uns Vertrauen und Anerkennung geschenkt haben, indem sie in den dekoder-Klub eingetreten sind. Denn das war der erste große Schritt in Richtung eines Community-gestützten Mediums. Danke an euch!
Und gleichzeitig die Bitte an alle: Fördert dekoder großzügig, damit wir weiter das tun können, woran wir glauben: durch Wissen die Kommunikation zwischen Russland und Deutschland in schwierigen Zeiten ermöglichen und fördern, damit die Zeiten besser werden. Ohne funktioniert es nicht. Und ohne Geld funktioniert dekoder nicht.
So also bleibt es beim Wunsch vom Anfang der Festrede: ein unvernünftig großzügiges Geldgeschenk! Viel soll es sein, was da zusammenkommt, damit wir noch schön oft zusammen Geburtstag feiern können!
Auf die nächsten Dreiunddreißig!Eure dekoderschtschiki
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