Am 17. Mai 1990 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO beschlossen, Homosexualität von der Liste psychischer Krankheiten zu streichen. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada glaubten 2015 jedoch 37 Prozent der Befragten in Russland, dass Homosexualität eine Krankheit sei.
Fast 30 Jahre nach dem WHO-Beschluss werden LGBT in Russland noch immer diskriminiert, auch vor dem Gesetz: So wurde 2013 sogenannte „homosexuelle Propaganda“ verboten. Immer wieder gibt es auch Gewalt gegen LGBT, im April 2017 hatte die Novaya Gazeta auf Massenfestnahmen und Folter von Homosexuellen in der Teilrepublik Tschetschenien aufmerksam gemacht.
Der russische Fotograf Stanislaw Dolshnizki wollte Stereotype und Vorurteile abbauen – und hat von 2015 bis 2018 die Geschlechtsanpassung von Jan begleitet. Auf Meduzaerzählt Jan seine Geschichte aus der Zeit der Transition, wie er sie nennt.
Ich heiße Jan und bin 31 Jahre alt. Geboren bin ich in der Bergbaustadt Beresniki in der Region Perm. Ich arbeite als Regisseur, mache Werbung und Videoclips; im Moment lebe ich im Moskauer Umland. Die letzten vier Jahre meines Lebens habe ich meiner Geschlechtsanpassung gewidmet.
Solange ich denken kann, hat sich etwas in mir gesträubt, wenn man mich als Mädchen behandelt hat und nicht als Junge. Ich verstand nicht, warum ich Schleifen und rosa Hosen tragen sollte. Als ich drei war, kam ich mit Gelbsucht ins Krankenhaus. Ich lag in einem großen gemischten Mehrbettzimmer mit Mädchen und Jungs. Dort freundete ich mich mit einem gleichaltrigen Jungen an, wir spielten zusammen mit Autos. Und mir hat zum ersten Mal ein Mädchen gefallen, sie war etwas älter. Ich dachte: „Wenn ich groß bin, werde ich sie heiraten, wenn sie noch nicht zu alt ist.“ Ich glaube, damals fing das an.
Ich hatte kein Problem, mich anzunehmen wie ich bin, wie das sonst bei vielen der Fall ist. Ich musste mich nicht verbiegen. Es ging alles relativ leicht, gerade weil ich es schon seit der Kindheit wusste. Wenn du 12, 13 bist und mit den Jungs rumrennst, bist du einer von ihnen. Du kümmerst dich nicht darum, wer dich wie anspricht, weil du siehst, dass man dich gleich behandelt. Aber sobald die Pubertät losgeht und sich alle äußerlich verändern, fangen die richtigen Probleme an. Es gab Momente, da wurde ich zum Beispiel als Lesbe bezeichnet, ich war tierisch gekränkt, denn ich habe mich nie so gesehen. Manche Transmänner leben tatsächlich zunächst als Lesben, bevor sie sich irgendwann festlegen. So war es bei mir nie – ich war bereit, mich deswegen zu prügeln.
Zum ersten Mal bewusst darüber gesprochen habe ich mit ungefähr 13. Das war im Sommerferienlager, wo ich nur mit Jungs herumhing und der Anführer war. Da habe ich der Gruppenleiterin gesagt, dass ich als Junge angesprochen werden will. Sie sagte, das sei das Alter und würde wieder vorbeigehen. Als am Besuchstag meine Oma kam, habe ich das Gleiche zu ihr gesagt. Sie fragte: „Was redest du da für ein dummes Zeug?“, und sprach mit der Gruppenleiterin, die ihr dann erzählte: „Das ist bloß die Pubertät, nehmen Sie das nicht so ernst, in dem Alter ging’s mir auch so.“ Damit war das Thema erst mal gegessen.
Wenn ich heute mit meiner Oma darüber spreche, sage ich zu ihr: „So, dieses Alter ist vorbei, aber bei mir ändert sich irgendwie nichts.“ Ich glaube, viele haben als Kind dieses Problem: Die Erwachsenen hören nicht auf sie, sondern auf irgendwelche Leute, die sie nicht kennen und die noch weniger wissen, was in dir vorgeht.
Gegen Ende der Schulzeit habe ich dann erfahren, dass das, was mit mir ist, Transgender beziehungsweise Transsexualität heißt. In einer Zeitschrift hatte ich von einem neuen Film gelesen, über eine junge Frau, die sich als Mann fühlt. Der Film hieß Boys Don‘t Cry. Ich wünschte ihn mir von meinem Bruder zum Geburtstag. Dann sah ich ihn mir zusammen mit Freunden an. Die lachten sich kaputt, aber ich verstand, worum es ging. Und da wurde mir auch klar, dass es die Möglichkeit gibt, sich operieren zu lassen – und dass ich danach vielleicht normal sein würde.
In der Uni hatte ich weder das Geld noch die Info, dass man vor eine Kommission muss. Ich wusste nicht, wo man hingeht, an wen man sich wendet, ob es wirklich stimmt, dass man nicht in die Klapse kommt – dahin wollte ich als Letztes. Nach und nach fand ich alles heraus und sparte etwas Geld an.
Dann musste ich das Problem in der Familie lösen: Ich bin bei meiner Großmutter aufgewachsen, meine Mutter ist gestorben, als ich neun war. Ich wusste, dass meine Oma nicht einverstanden wäre – ich hatte mit ihr schon öfter über mich und eine OP gesprochen. Ich hatte Angst, dass sie der Schlag trifft, ich wollte nicht der Grund für ihren Tod sein. Sie hatte früh ihren Mann verloren, dann ihre Tochter, und dann komme auch noch ich. Aber es kam, wie es kam.
2015 war es dann soweit, ich hatte einen Termin für die Kommission. Das Gespräch in der Fakultät für klinische Psychologie der Hochschule für Kinderheilkunde in Sankt Petersburg führte damals Dimitri Issajew. Er ist einer der wenigen Fachleute für Transgender in Russland, die wirklich helfen können. Ich bestand alle Tests, aber nach der Hetzjagd auf Issajew und seiner Entlassung stellte die Kommission mir das Gutachten nicht aus, auf dessen Grundlage die Hormontherapie und die chirurgischen Eingriffe erst eingeleitet werden.
Das Gutachten der neuen Untersuchung bekam ich erst ein Jahr später. Das habe ich zu einem großen Teil meiner Freundin Dascha zu verdanken. Sie hat darauf bestanden, dass ich einen zweiten Versuch wage. Im Mai 2016 hatte ich endlich die Bescheinigung und konnte mich auf die OP vorbereiten.
Die häufigste Operation bei Transmännern ist die Mastektomie, die Entfernung des Milchdrüsengewebes. Nur wenige gehen einen Schritt weiter, denn die Phalloplastik [die plastische Operation zur Anpassung der Geschlechtsorgane] ist erstens sehr teuer und zweitens nicht unbedingt notwendig: eine maskulinisierende Mammaplastik [der plastische Eingriff an der Brust] und eine gut eingestellte Hormontherapie lassen keinen Zweifel an der Geschlechtszugehörigkeit. Der Sinn der Transition besteht darin, Harmonie mit sich selbst und der Sozialisierung in der entsprechenden Genderrolle zu erlangen, nicht in der Imitation der äußeren Geschlechtsmerkmale. Als ich noch im Körper einer Frau war, konnte ich schlicht keinen Haarschnitt in einem anständigen Barbershop bekommen – man wollte mich nicht bedienen, unter Verweis auf die Geschäftspolitik.
2017 hatte ich endlich die nötige Summe zusammen. Das war nicht leicht, weil ich meinen Job in Perm wegen des Umzugs nach Moskau und der bevorstehenden Transition aufgeben musste. Es war schwer, eine neue Arbeit zu finden, ich musste ja alle Papiere ändern lassen, und dann standen die ganzen äußeren Veränderungen bevor … Dascha hat mich während dieser ganzen Zeit sehr unterstützt. Ich habe im Gegenzug so gut es geht versucht, den Haushalt zu schmeißen.
Im Herbst 2017 ließ ich in einer Moskauer Privatklinik die Mastektomie vornehmen. Die OP gilt allgemein als unkompliziert, aber es war nicht so leicht: Im Grunde ist das eine Amputation. Aber nach wenigen Wochen war ich wieder auf den Beinen, nur die Bandage musste ich noch ständig tragen.
Die Kategorien werden heute immer breiter: Begriffe wie Transgender, Transsexualität, queer sind mittlerweile so weit gefasst, dass auch die Transition bei jedem anders aussieht. Manche wollen einfach nur neue Dokumente und brauchen sonst keine Veränderungen. Aber für mich war die Geschlechtsanpassung erst vollzogen, als ich die Kommission und dann die OP hinter mir hatte, die neuen Papiere bekommen und mit der Hormonersatztherapie (HET) begonnen hatte. Ohne diese Schritte wäre meine Transition, so wie ich sie verstehe, nicht vollständig gewesen. Wenn das jemand für sich anders sieht, ist das seine Sache. Ich werde deswegen niemanden schlechter behandeln oder ihn anders nennen, als er sich vorgestellt hat.
Letztens habe ich meine Oma besucht und ihr meinen Pass gezeigt. Als sie den sah, fing sie plötzlich an, mich als Mann anzusprechen. Für jemanden, der in der Sowjetunion aufgewachsen ist, ist der Pass immer noch ein schwerwiegendes Argument. Aber sie hat nicht lange durchgehalten: Seit ich zurück in Moskau bin, nennt sie mich am Telefon wieder Janotschka.
Ende April hat die ukrainische Rada ein neues Sprachgesetz beschlossen. Es soll das Ukrainische stärken und sieht es unter anderem als einzige Sprache in öffentlichen Einrichtungen vor. Außerdem ist etwa auch eine höhere Quote für Ukrainisch in Filmen und TV- und Radiosendungen vorgesehen (bei landesweiten Medien soll sie von 75 auf 90 Prozent steigen, bei Regionalsendern von 60 auf 80 Prozent). Landesweit soll das Erlernen der ukrainischen Sprache gefördert werden. Gleichzeitig sieht das Gesetz Geldstrafen vor, wenn die neuen Regelungen nicht eingehalten werden.
Seit der Unabhängigkeit 1991 ist das Ukrainische alleinige Amtssprache, mit dem Krieg in der Ostukraine und nach Angliederung der Krim 2014 wurde die russische Sprache zunehmend zum Politikum. So wurde das neue Sprachengesetz verabschiedet unmittelbar nachdem Russlands Präsident Putin einen Erlass unterzeichnet hatte, der es den Bewohnern der besetzten Gebiete erleichtern soll, die russische Staatsbürgerschaft zu erhalten.
Bereits im Vorfeld hatte es heftige Debatten um das neue Gesetz gegeben. Tatsächlich ist die Ukraine ein zweisprachiges Land, wobei Ukrainisch vorwiegend im Westen, Russisch vorwiegend im Osten und Süden gesprochen wird. Viele Ukrainer sind bilingual: So sprechen einer aktuellen Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) zufolge 46 Prozent der Befragten hauptsächlich oder ausschließlich Ukrainisch mit ihrer Familie, 28,1 Prozent Russisch und 24,9 Prozent Ukrainisch und Russisch (die umkämpften Gebiete im Donbass und die Krim sind von solchen Umfragen ausgenommen). Der neu gewählte ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky, der vorwiegend Russisch spricht, kündigte schließlich auch an, das Gesetz nach seinem Amtsantritt prüfen zu wollen.
Auf Republickommentiert Wladimir Pastuchow, Politologe am Londoner University College, das neue Sprachengesetz und befindet, es sei „das beste Geschenk, das man Putin in fünf Jahren Krieg machen konnte“.
Irgendwie bekommt man den Eindruck, als hätte man weder in Moskau noch in Kiew verstanden, was bei dieser Wahl eigentlich passiert ist – und ob überhaupt was passiert ist. Bis jetzt tun alle so, als wäre Selensky ein Stein im Schuh des „großen Spiels“, das die „ernsthaften Männer“ miteinander spielen. Und die sind entschlossen, in der Zeit bis zur Amtseinführung eine so vielversprechende Agenda vorzulegen, dass dem neuen Präsidenten das Lachen vergeht. Poroschenko wirkt bei diesem Unterfangen nicht weniger einfallsreich als Putin. Blitzartig beförderte er die Sprachenfrage, die lange irgendwo in der Mitte der To-do-Liste vor sich hin geschmort hatte, ganz nach oben. So wird Selensky sich zum Auftakt wohl nicht mit prosaischen Dingen wie Korruption abgeben dürfen, sondern gleich eine Grundsatzdiskussion führen. Diese wird nicht leicht und allem Anschein nach langwierig.
Die Kompassnadel spielt verrückt
Was die europäische Integration angeht, spielt die Kompassnadel offenbar völlig verrückt und zeigt in eine ganz andere Richtung – in der man mit europäischen Werten kreativer umgeht als in der EU selbst. Ein kurzer Blick auf die europäische Praxis zeigt, dass die Ukraine hier alles andere als im Trend liegt.
In Finnland, wo die schwedischsprachigen Finnen etwa fünf Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind die Amtssprachen Finnisch und Schwedisch; jede Schule muss das Recht auf schwedischsprachigen Unterricht für schwedische Muttersprachler gewährleisten. Auf den Åland-Inseln ist Schwedisch die einzige Amtssprache. Darüber, dass die Straßennamen dort allesamt zweisprachig sind, hat schon jeder geschrieben, der sich nicht zu schade war. Und selbstverständlich senden die Medien für jedes Publikum in der jeweiligen Sprache.
In Belgien verteilen sich die beiden großen Sprachgruppen – Französisch und Niederländisch – auf etwa 40 zu 60 Prozent. Es erstaunt nicht weiter, dass beides Amtssprachen sind. Erstaunlich ist allerdings, dass wegen eines winzigen deutschsprachigen Bevölkerungsanteils Deutsch die dritte Amtssprache ist.
Mindestens seltsam
Vor diesem Hintergrund sieht die Ukraine, die das Russische nicht als Amtssprache anerkennen will, mindestens seltsam aus – nach vorsichtigsten Schätzungen beträgt hier der Anteil der russischen Muttersprachler 30 Prozent. Natürlich können Verweise auf fremde Erfahrungen nichts beweisen – auf der Welt gibt es alle möglichen Erfahrungen.
Und die Einwände liegen auf der Hand. Die Schweden versuchen nicht, Finnland zu besetzen, und die Deutschen marschieren nicht durch Antwerpen. Das ist richtig, auch wenn die Schweden Finnland einst besetzt hatten und die Deutschen durch Antwerpen marschiert sind. Aber das ist lange her, und es ist Gras drüber gewachsen, wohingegen die hybride russische Intervention sich im Netz weiterentwickelt. Deshalb muss das Sprachengesetz als eine Art Notgesetz in Kriegszeiten betrachtet werden, das die nationale Sicherheit der Ukraine gewährleisten soll. Und so wird es heute im Grunde auch begründet.
Sprache in Zeiten des Krieges
Ich will das nicht grundsätzlich bestreiten. Ich will nur sagen, dass Russland wirklich alles dafür getan hat, damit so ein Gesetz in der Ukraine entstehen konnte, und dass es die volle Verantwortung dafür trägt, dass der Status der russischen Sprache in einem Land mit einer der weltweit größten russischsprachigen Gemeinden geschwächt wird, ja unter Umständen zu Trash verkommt. Es bringt nichts, auf Poroschenko zu schimpfen, wenn an den eigenen Händen Blut klebt. Nachdem ich das gesagt habe, erlaube ich mir allerdings, den Nutzen dieses Gesetzes für die Ukraine zu bezweifeln, und zwar innerhalb genau der Logik, mit deren Hilfe es vorangetrieben wird: der Logik eines Staates im Krieg.
Wie ein ukrainischer Kommentator auf meinem Blog bei Echo Moskwy treffend bemerkte, besteht das Problem der russischen Sprache in der Ukraine darin, dass dort, wo sie sich konzentriert, schnell auch der russki mir mit der Kalaschnikow auf den Plan tritt. Dieses Problem ist absolut real. Angesichts der anhaltenden russischen Aggression im Osten der Ukraine werde ich nicht darüber streiten, wie moralisch es ist, das Problem lösen zu wollen, indem man den Gebrauch der Sprache einschränkt, die für ein knappes Drittel der eigenen Bevölkerung grundlegend ist. Ich will nur anmerken, dass mir das gesetzte Ziel völlig utopisch erscheint, und aller Voraussicht nach wird genau das Gegenteil erreicht: Die nationale Sicherheit des jungen ukrainischen Staates wird nicht gestärkt, sondern gefährdet.
Die breite Masse wird vergrämt
Auf dem Papier lässt sich alles Mögliche verordnen, auch die russische Sprache über Nacht aus dem Verkehr ziehen. Aber im Leben ist das unmöglich. Mit welchen Konsequenzen muss man rechnen? 15 Prozent der russischsprachigen Bevölkerung werden sich vielleicht wirklich bemühen, schnellstens auf Ukrainisch umzusteigen und zu vollwertigen Staatsbürgern zu werden. Nochmal so viele werden versuchen, nach Russland auszureisen, deutlich mehr jedoch in die EU (danke, Visafreiheit – die sagt nichts zum Thema Sprache). Doch die breite Masse wird vergrämt und gedemütigt zurückbleiben und sich mit den Gegebenheiten arrangieren, wobei sie ihre Minderwertigkeit im Rahmen der Neuerungen auf Schritt und Tritt zu spüren bekommen wird: Ihre Kinder werden in der Schule nicht in ihrer Muttersprache lernen können, sie werden weder Filme noch Theaterstücke in ihrer Muttersprache sehen, bei keinem Amt in ihrer Muttersprache vorsprechen können und so weiter.
Im Großen und Ganzen ist dieses Gesetz das beste Geschenk, das man Putin in den ganzen fünf Jahren Krieg machen konnte
Und wie wird sich das auf die nationale Sicherheit der Ukraine auswirken? Im Großen und Ganzen ist dieses Gesetz das beste Geschenk, das man Putin in den ganzen fünf Jahren Krieg machen konnte. Die Rolle, die dieses Gesetz bei der Bildung der russischen Fünften Kolonne in der Ukraine spielt, ist womöglich so bedeutend, dass man schon jetzt allen Mitwirkenden per Geheimdekret den Titel „Held der Russischen Föderation“ verleihen könnte. Wenn diese Fünfte Kolonne bislang als Frucht entzündeter Phantasie des radikal eingestellten Flügels der ukrainischen Intelligenz existiert hatte, allenfalls als Potenzial, dann materialisiert sie sich jetzt buchstäblich aus dem Nichts, und allein beim Donbass wird es nicht bleiben. Von Odessa bis zum Dnepr wird die Situation wieder genau so verworren sein wie ganz zu Beginn des „russischen Frühlings“.
Die überstürzte Verabschiedung des Sprachengesetzes kann genauso wenig mit der Sorge um nationale Sicherheit begründet werden wie mit dem Prozess der Eingliederung in die EU. Objektiv betrachtet rückt das Gesetz die Ukraine weiter weg von europäischen Standards und gefährdet die nationale Sicherheit noch stärker, weil es in einer Grundsatzfrage zu einer beunruhigenden neuen Spaltung der Gesellschaft führt. Nach den Gründen und Ursprüngen der Eile muss man also woanders suchen …
Genau zu diesem Zeitpunkt sollte man sich erinnern, dass die Ideen, die dem just verabschiedeten Gesetz zu Grunde liegen, schon lange vor dem Ausbruch des Krieges mit Russland existierten, ja noch bevor die Ukraine den EU-Integrationskurs eingeschlagen hatte, und sich bei Teilen der ukrainischen Intelligenz großer Beliebtheit erfreut hatten. Sie waren ein Teil dessen, was man als den „ukrainischen Traum” bezeichnen könnte – dem Streben weg von Russland hin zu einem unabhängigen ukrainischen Staat. Der Schlüsselbegriff ist hier „weg von Russland“.
Flucht aus der russischen Sprachzone
Ein wesentlicher Teil dieser Unabhängigkeit bestand für viele Ideologen eines ukrainischen Nationalstaates in der kulturellen Unabhängigkeit, der Befreiung vom Kleiner-Bruder-Komplex. Viele sahen das Erlangen der kulturellen Eigenständigkeit schon vor einem halben Jahrhundert in der Flucht aus der russischen Sprachzone.
Der Krieg mit Russland war also nie der Grund, warum die Partei, die für die Verdrängung der russischen Sprache eintritt, gewonnen hat. Ohne diesen Krieg hätte diese Partei aber kaum je eine echte Chance gehabt, ihr radikales Projekt umzusetzen. Putin kann daher als Koautor des Projekts gelten. Mit seiner Ukraine-Politik hat er geholfen, den Traum des radikalsten Flügels der ukrainischen Intelligenz zu verwirklichen. Zumindest vorerst.
An sich ist der Wunsch, die Ukraine zu ukrainisieren, historisch wie politisch gerechtfertigt. Fraglich ist die Wahl der Mittel und des Tempos. Kein Staat der Welt kann ohne einen einheitlichen Sprachraum existieren. Der Wunsch, einen solchen Raum zu schaffen und zu schützen, ist daher vollkommen adäquat.
Ferner besteht kein Zweifel, dass sich in der Ukraine – genau wie in einer ganzen Reihe anderer ehemaliger russischer Kolonien – eine Schieflage ergeben hat, als sich dieser universelle Sprachraum nicht auf der Basis der Sprache der Titularnation herauszubilden begann, sondern auf der einer großen ethnischen Minderheit (wobei ein nicht unwesentlicher Teil der ethnischen Ukrainer Russisch als Muttersprache empfindet). Sprich: Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Zerfall der UdSSR ist Russisch in der Ukraine immer noch die Sprache der innerukrainischen Verständigung.
Die Wahl der Mittel
Es ist völlig klar, dass keine normale Entwicklung des ukrainischen Nationalstaates möglich ist, solange die Situation sich nicht umkehrt und Ukrainisch zu jener universellen Sprache wird, welche die kulturelle, wirtschaftliche und politische Integrität festigt. Bis zu diesem Punkt verstehe und unterstütze ich die Beschützer der ukrainischen Sprache. Doch dann kommen wir zur Wahl der Mittel. Entweder man erschafft den Sprachraum, indem man die Verbreitung des Ukrainischen fördert oder indem man die Verbreitung des Russischen zurückdrängt. Das heißt, man hat die Wahl zwischen einem diskriminierenden und einem nicht-diskriminierenden Modell.
Das Sprachengesetz wurde eilig unter dem Druck der Radikalen Maidan Partei beschlossen, die um ihre letzte Chance fürchtete, ihr Ideal in die Tat umzusetzen. Das Gesetz ist mehrdeutig und enthält eine Reihe von Bestimmungen, die als gegeben gelten können und sollten.
Unumstritten ist der Status des Ukrainischen als Amtssprache, vernünftig erscheint die Forderung, dass sie obligatorisch auf allen Bildungsstufen gelehrt werden soll, gerechtfertigt ist die Forderung, dass jeder Staatsbürger sie in der einen oder anderen Form beherrschen soll, wobei im öffentlichen Dienst das fließende Beherrschen verpflichtend ist. Selbst in der Forderung, dass fremdsprachige Filme und Theateraufführungen mit ukrainischen Unter- beziehungsweise Übertiteln versehen gehören, liegt eine gewisse Logik. Man darf in dieser Frage nicht die Auffassung vieler Anhänger des russki mir übernehmen, die meinen, es würde irgendwie ihre Rechte und ihre Würde verletzen, wenn man von ihnen fordert, die Landessprache des Landes zu lernen, in dem sie leben und deren Staatsbürger sie darüber hinaus sind.
Die Situation sieht jedoch anders aus, wenn es um diskriminierenden und äußerst selektiven Maßnahmen in Bezug auf russische Muttersprachler geht. Hier nur die wichtigsten: Unmöglich ist die freie Entfaltung der kulturellen Identität durch die Einschränkung von muttersprachlicher Lehre auf allen Bildungsebenen, durch begrenzten Zugang zu Informationen und kulturellen Gütern in der jeweiligen Muttersprache, durch eingeschränkten Zugang zum Rechtssystem aufgrund von sprachlicher Angreifbarkeit und durch weitere Auswüchse der Diskriminierung aufgrund der Sprache. Solche Maßnahmen machen nicht so sehr das Ukrainische zum universellen Mittel der Kommunikation, sondern vielmehr das Russische zur Sprache der Spaltung. Das eigentliche, ausdrückliche Ziel wird nicht erreicht – es wird kein gemeinsamer Sprachraum geschaffen.
Die tieferen Ursachen für die Popularität des diskriminierenden Ansatzes bei einem großen Teil der ukrainischen Intelligenz liegen auf der Hand, und sie stehen in keinem Zusammenhang mit dem Krieg und der daraus resultierenden psychologischen Sprengkraft der Diskussion. Der Grund ist die Ungeduld, der Unwillen und die Unfähigkeit zu warten. Die heutige Sprachsituation in der Ukraine ist über Jahrhunderte gewachsen, und es braucht mitunter viel Zeit, um die Stellung der beiden Sprachen umzukehren. Ein nicht-diskriminierender, motivationsbasierter Weg würde Jahrzehnte mühevoller Arbeit bedeuten. Aber das Ergebnis soll ja noch zu Lebzeiten sichtbar werden, am besten sofort. Das führt zu einem Sprach-Bolschewismus mit seiner Philosophie des großen Sprungs. Wenn man schon nicht das Ukrainische schnell verbreiten kann, dann kann man doch wenigstens das Russische schnell verdrängen. Wie jeder andere große Sprung ist das eine Utopie.
Der 9. Mai, der Tag des Sieges über NS-Deutschland, ist der wichtigste Nationalfeiertag in Russland. Obwohl in der Roten Armee etwa auch ukrainische, belarussische oder kasachische Soldaten kämpften, wird der Tag des Sieges heute vor allem als Schlüsselereignis der russischen Geschichte thematisiert. Schon zu Sowjetzeiten diente der 9. Mai zur Selbstdarstellung auf internationaler Bühne – heute finden in jeder größeren russischen Stadt Militärparaden statt, die größte auf dem Roten Platz in Moskau. Im vergangenen Jahr waren der serbische Präsident Vucic und Israels Premier Netanjahu zu Gast.
Für den einzelnen Bürger allerdings bedeutet der 9. Mai nicht nur Paraden, sondern auch Gedenken an die eigenen Vorfahren, der Tag des Sieges ist auch ein Familienfest.
Auf Republic beschreibt Andrej Sinizyn, wie der offizielle 9. Mai mehr und mehr zum Propagandainstrument wird – und konstatiert, dass politisches und individuelles Gedenken immer weiter auseinanderdriften.
Im Jahr 2000 oder 2001 gab es in Petersburg den schönsten Tag des Sieges, an den ich mich erinnern kann. Damals gab es, soweit ich weiß, noch nicht wieder die Morgenparade (oder zumindest ohne Waffenschau?), und am Abend fand ein Umzug der Veteranen über den Newski-Prospekt statt. Es waren auch noch deutlich mehr Veteranen als heute, und in ihrer Kolonne waren ganz unterschiedliche Militärorchester unterwegs (größtenteils russische, aber es gab auch Schotten mit Dudelsack). Man konnte sich einfach so der Kolonne anschließen und mit den Veteranen und den Orchestern zum Dworzowaja Ploschtschad vor der Eremitage ziehen.
Auf dem Platz fand, so seltsam das heute klingen mag, keine offizielle Feier statt mit Tribünen, Festansprachen von Beamten oder Auftritten heimischer Popstars. Die Orchester verteilten sich auf dem Platz und spielten Märsche, Walzer aus der Sowjetzeit oder Wünsche aus dem Publikum. Und die Zuhörer, ob Veteranen oder nicht, tanzten um sie herum. Es gab auch kleinere Grüppchen mit Akkordeons in der Mitte, die die Veteranen selbst mitgebracht hatten. Und so ging es bis tief in die Nacht, weil niemand heimgehen wollte. Später habe ich mehrmals versucht, dieses Gefühl wiederzufinden – es ist mir nicht gelungen. Auf dem Dworzowaja Ploschtschad gab es nur noch kontrolliert-ausgewählte Konzerte und beim Umzug immer weniger Veteranen, dafür aber immer mehr seltsame Kolonnen irgendwelcher politischer Kräfte oder der Petersburger Bezirke. Und ab Mitte der 2000er nahm auch die bürokratisch-patriotische Begeisterung rapide zu.
Der Wahn um den Sieg
Über den Sieges-Wahn ist schon viel gesprochen und geschrieben worden, verschwunden ist er trotzdem nicht. Beispielsweise hat dieses Jahr in Sewastopol eine Abteilung des Unsterblichen Regiments einer anderen 500 Veteranenportraits gestohlen. Was will man machen, die Region ist neu in der Russischen Föderation, es gibt genug patriotischen Enthusiasmus und entsprechendes Chaos, die Bürokratie hat sich noch nicht etabliert.
Aber es kann sich ja alles ändern. Drei, vier Jahre und der Krim-Rausch hat sich nahezu verflüchtigt. Natürlich heißen die Bürger die Angliederung nach wie vor gut, wollen diese aber nicht mehr mit schlechten Lebensbedingungen bezahlen und sehen immer weniger Grund, sie zu feiern.
Oder nehmen wir den 1. Mai, diesen seltsamen Feiertag. Er hatte schon während der offiziellen Paraden zu Sowjetzeiten seinen Sinn eingebüßt. Je länger das offizielle Programm der Feierlichkeiten wurde, desto leichter fiel es den Menschen, auf ihre Datscha zu fliehen oder einfach ein Picknick zu machen. Später privatisierten die Bürger den Feiertag vollends für ihre Frühlingsarbeiten auf der Datscha und die Politiker der 1990er verlängerten die Feiertage sogar, um die eigenen Beliebtheitswerte zu steigern.
Den Arbeitnehmern lag nicht viel daran, für ihre Rechte zu kämpfen, aber ein zusätzlicher freier Tag ist immer gut.
Die Bedeutung des Maifeiertags ändert sich
Heute ändert sich die Bedeutung des Feiertags wieder: Zum einen wurden die Arbeitnehmer vom Staat in letzter Zeit ziemlich gegängelt, zum anderen ist angesichts der eingeschränkten Versammlungsfreiheit der offizielle Tag des Frühlings und der Arbeit zu einer Möglichkeit des Protests geworden. Nach Angaben von OWD-Info wächst die Zahl der Verhaftungen jährlich: 2016 wurden in Moskau und Petersburg 27 Menschen festgenommen, 2017 waren es 37, 2018 bereits 53, 2019 dann 65 allein in Petersburg und 131 im ganzen Land.
Die diesjährigen Exzesse zeugen natürlich auch von der zunehmenden Gewalt der Polizei und der Nationalgarde. Es ist offenkundig, dass diese Organe die kleinste Regung von nicht-kontrollierten Aktionen verhindern sollen (vgl. die brutale Auflösung des Rap-Festivals im Olympiastadion Lushniki am selben Tag). Die Regierung jagt Demonstranten der neuen Art, um sie zusammenzuschlagen. Fragt sich, ob sie sie aufhalten wird. Vielleicht entwickeln sich die Feierlichkeiten am 1. Mai zu tatsächlichem Protest.
Wird sich womöglich auch der 9. Mai verändern? Der Tag des Sieges war ja nicht immer ein offizieller staatlicher Feiertag, das private Begehen („Feier“ ist hier das falsche Wort) hatte für die Menschen der Nachkriegszeit, aber auch noch in den 1970ern, einen deutlich höheren Stellenwert.
Fanfaren-Müdigkeit
Neueste Umfragewerte des Lewada-Zentrums lassen den Schluss zu, dass es eine Entwicklungstendenz zu Individualisierung und zu menschlichem Mitgefühl gibt. Auf die Frage, wie man den Feiertag am besten verbringen sollte, antworteten 52 Prozent: „Indem man sich um die Kriegsveteranen kümmert“ (2015 waren es 49 Prozent , 2018 42 Prozent); 23 Prozent sagten: „mit Paraden, Umzügen, Feuerwerk und offiziellen Veranstaltungen“ (2015 waren es 29 Prozent, 2018 35 Prozent). 2015 war die Freude über den Sieg noch wesentlich größer und die Trauer um die Millionen Gefallener wesentlich kleiner als 2019. Vielleicht beobachten wir eine gewisse Fanfaren-Müdigkeit der Bürger in Anbetracht ständig sinkender Löhne.
Selbstverständlich hängt vieles davon ab, wie aufmerksam der Staat ist. Sobald das nachlässt, werden Veranstaltungen ungezwungener und volksnäher. Aber der Staat hat nicht vor, auf die strenge Kontrolle über den Tag des Sieges zu verzichten. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Es ist der einzige Feiertag, der alle Menschen eint, eine unhinterfragte historische Errungenschaft, die man sich unter den Nagel reißen muss, um die eigene Legitimität zu festigen und eine Quasiideologie darauf aufzubauen.
Doch Kontrolle schafft auch einen bürokratischen Überbau. Diese Bürokratisierung des Feiertages verdrängt allmählich seinen wahren Inhalt und die Möglichkeit, irgendetwas zu empfinden. Denn überbordende Euphorie ist als Dauerzustand nicht möglich.
Mit dem Sieg von 1945 soll die Aggressionspolitik nach 2014 gerechtfertigt werden
Bemerkenswert ist auch, dass die Regierung seit 2014 mit allen Mitteln versucht, im Massenbewusstsein den Großen Vaterländischen Krieg mit dem Krieg in der Ukraine und in Syrien gleichzusetzen. Der Militarismus, der Waffenkult und das Versprechen, es zu „wiederholen“ (und ins Paradies zu kommen) zielen darauf ab, diese Kriege in Synonyme zu verwandeln. Mit dem Sieg von 1945 soll die Aggressionspolitik nach 2014 gerechtfertigt werden. Gerade droht diese Strategie aber nach hinten loszugehen: Wenn die Menschen des heutigen Krieges müde werden, interessiert sie der historische Sieg nicht mehr besonders.
Das Neueste im Rahmen der Krim-Propaganda – zumindest für die Massen, im Kleinen hatten Beamte schon früher Anstrengungen in dieser Richtung unternommen – ist die „Verteidigung unserer Geschichte“ vor den heimtückischen Plänen des Westens sie „umzuschreiben“.
Wir wissen allerdings, dass sich das Verhältnis zum Westen auch grundlegend ändern kann – alles hängt von der Politik des Kreml ab. Die „heimtückischen Pläne des Westens“ könnten verschwinden, wenn sich die russische Politik ändert oder die Personen, die sie definieren, ersetzt werden. Verschwinden könnten auch der Militarismus und die überschwängliche Feier des Sieges mit vollkommener Ignoranz für die Tragödie.
Natürlich gibt es wenig Hoffnung, dass sich die russische Politik ändert. Deswegen wird sich der Tag des Sieges bei den heutigen Tendenzen wohl allmählich aufspalten: in einen immer wahnsinnigeren offiziellen und einen immer persönlicheren – oder protestlerischen? – im Untergrund. Dem Urgroßvater mit einem Gläschen auf der Datscha im Kreis der Familie zu gedenken wird zum Mainstream. Doch die offiziellen Veranstaltungen sucht man nur noch auf, wenn es unbedingt sein muss.
Katastrophe am Moskauer Flughafen Scheremetjewo: Bei der Notlandung einer Passagiermaschine sind am Sonntagabend offiziellen Angaben zufolge 41 Menschen gestorben. Darunter sollen zwei Kinder und ein Mitglied der Crew sein.
Am Tag nach dem Unglück gibt es verschiedene Versionen, wie es dazu kam. Die Maschine, ein Suchoi Superjet-100, soll etwa 45 Minuten nach Abflug von Scheremetjewo dort wieder notgelandet sein. Dabei stand das Flugzeug am Heck in Flammen. Nach Flughafen-Angaben wurde das Feuer schnell gelöscht, Passagiere und Crewmitglieder hätten das Flugzeug über Notrutschen in 55 Sekunden verlassen.
Die genauen Ursachen müssen nun untersucht werden, die Flugschreiber der Maschine sind inzwischen gefunden. Unterdessen kursieren unterschiedliche Versionen über den Unglückshergang: Laut Aeroflot hat ein Technikfehler die Piloten des Fluges SU1492 – mit 73 Passagieren und 5 Crewmitgliedern an Bord – zur Umkehr gezwungen. Augenzeugen berichten dagegen von einem Blitzeinschlag. Laut Nachrichtenagentur Interfax schlug die Maschine bei der Notlandung mehrfach am Boden auf, wobei ein Tank explodiert sei. So habe das Flugzeug Feuer gefangen.
In Sozialen Netzwerken artikulieren derzeit viele ihre Trauer, aber auch Wut. Im internationalen Vergleich schneidet die Flugsicherheit innerhalb Russlands immer wieder schlecht ab. Das Vertrauen, dass die Katastrophe restlos aufgeklärt wird, ist in den Kommentaren gering. Dahinter steht, wie bei vergleichbaren Tragödien – etwa dem Kaufhaus-Großbrand in Kemerowo – ein Misstrauen in die Arbeit der Behörden in solchen Fällen.
Kritik entzündet sich derzeit auch am Flugzeugtyp, dem Suchoi Superjet-100. Das Flugzeug gilt als Prestigeprojekt, es war das erste russische Passagierflugzeug, das nach Ende der Sowjetunion in Russland entwickelt wurde. Immer wieder gab es Pannen – und ein Unglück bei einem Demonstrationsflug 2012 in Indonesien: die Maschine stürzte ab.
dekoder dokumentiert Auszüge aus der Debatte.
Facebook: Zwei Seiten derselben erlernten Hilflosigkeit
Derzeit kursieren noch unterschiedliche Versionen über den Unglückshergang. Sergej Medwedew teilt auf Facebook das Misstrauen, das in Sozialen Netzwerken gegenüber den Ermittlungen geäußert wird:
[bilingbox]Ich bin nicht in der Lage über die technischen Aspekte zu urteilen, dennoch reicht mein dilettantisches Wissen, um zu ahnen, dass ein modernes Flugzeug nicht von einem Blitz aus der Fassung gebracht werden sollte. Die Wahrheit werden wir vermutlich ohnehin nie erfahren, wie auch nicht die genaue Anzahl der Opfer. Selbst wenn die Regierung die Wahrheit sagt, werden wir es trotzdem nicht glauben. So ist es nunmal bei uns: Wir retten uns individuell und akzeptieren die Lüge kollektiv, zwei Seiten derselben erlernten Hilflosigkeit. Ewiges Andenken den Verstorbenen. ~~~Я не готов судить о технической части, но моих дилетантских знаний хватает на то, чтобы подозревать, что молния не должна выводить из строя современный самолет. Впрочем, правды мы все равно наверняка никогда не узнаем, как не узнаем точного числа жертв. И даже если власти скажут правду, то все равно не поверим. Так уж у нас все устроено: спасаемся поодиночке и коллективно соглашаемся с враньем, две стороны одной и той же выученной беспомощности. Вечная память погибшим.[/bilingbox]
Oppositionspolitiker Gennadi Gudkow sieht – wie bei vergleichbaren Tragödien – die Ursache im System:
[bilingbox]Was ist die Ursache der endlosen Kette von Unfällen und Katastrophen in Russland? Haben wir vielleicht unbelehrbare Piloten? Haben wir keine kompetenten Fluglehrer? Dumme und unendlich gierige Leiter von Fluggesellschaften? Hirnlose Fluglotsen?
Ich denke, es waren unfähige und gewissenlose Minister, Leiter verschiedener Luftfahrtbehörden, die unannehmbare Zustände für die Arbeit des Luftverkehrs schufen. Solche, die nicht in der Lage sind, Fehler zuzugeben und zu korrigieren. […]
Der russische Staat tötet weiterhin seine Bürger: in der Luft, auf Straßen, auf Baustellen und in Fabriken, in Krankenhäusern (wegen deren Nichtexistenz) und in Ersatzeinrichtungen. Wir sind leider weltweit auf den ersten Rängen dieser beschämenden Statistik.
Weil wir nicht von Spezialisten regiert werden, von talentierten Meistern ihrer Fächer, sondern von den nach dem Prinzip der persönlichen Ergebenheit in die Ämter eingesetzten, unfähigen und gaunerhaften „effektiven Managern“, die es gewohnt sind zu lügen, zu stehlen und für nichts Verantwortung zu übernehmen. Soll doch jemand soviel Dreistigkeit aufbringen und sagen, dass es anders ist!
Den russischen Bürgern bleibt aber beim Flugticketkauf nur das Vertrauen auf den Allmächtigen – sonst kann man auf nichts hoffen.~~~В чем же причина бесконечной череды смертельных аварий и катастроф в России? Может, у нас необучаемые пилоты? Нет квалифицированных инструкторов? Тупые и бесконечно жадные руководители авиакомпаний? Безмозглые авиадиспетчеры? Думаю, это — бездарные и бессовестные министры, руководители всяких летных инстанций, сотворившие неприемлемые условия для нормальной работы авиационной отрасли, не способные признавать и исправлять свои ошибки. […] Российское государство продолжает убивать своих граждан: в воздухе, на дорогах, на стройках и производстве, в больницах (и из-за их отсутствия), а также с помощью различных суррогатов. Мы, увы, на первых местах в мире по этой позорной статистике. Потому что нами управляют не специалисты, не талантливые мастера своего дела, а назначенные на должности по принципу личной преданности бездарные и жуликоватые «эффективные менеджеры», привыкшие врать, воровать и ни за что не отвечать. И пусть кто-нибудь наберется наглости сказать, что это — не так! А гражданам России остается полагаться лишь на Всевышнего, покупая билет в самолет: больше надеяться не на кого. [/bilingbox]
Journalist Boris Minajew hat sich durch die Berichterstattung im russischen Fernsehen gezappt – und kritisiert die Kollegen:
[bilingbox]Wissen Sie, ich habe gerade durch die Fernsehkanäle gezappt. (Ja, ich habe einen Fernseher). Also. Der einzige (ich scherze nicht) der einzige Kanal, der eine Live-Reportage aus Scheremetjewo – live, ohne Unterbrechungen, mit Einbeziehung von allem möglichen, mit Videos, die Zeugen machten – das war Moskwa-24. Überall auf allen Kanälen läuft entweder einfach alles nach Programm – Serien und anderes – oder schlicht die Meldung in Laufschrift samt Bild in der linken unteren Ecke, wie auf den Nachrichtenkanälen RBK und Rossija 24. Im Bildfeld aber sind geistreiche Moderatoren, die mit Händchen und Äuglein gestikulierend das Publikum mit einem bombastischen Beitrag über den Kinostart von Avengers: Endgame unterhalten (das ist live, damit Sie nicht zweifeln). Oder es läuft eine hochintelligente Reportage von Propaganda-Kondomen über die USA oder Venezuela. Und es sind keine 13 [Opfer, wie zuerst berichtet – dek]. Und es ist nichts klar. Ihr seid überhaupt keine Journalisten. Keine Informierenden. Ihr seid einfach die Schande der Nation. Moskwa-24 aber ist super. Wirklich. ~~~Ну вы знаете, я сейчас переключал каналы ТВ. (Да, у меня есть телевизор). Так вот. Единственный (я не шучу) единственный канал, по которому шел прямой репортаж из Шереметьево, прямой, непрекращающийся, с включениями всех кого можно, с видео, которое сделали очевидцы – это Москва-24. Везде по всем каналам идет либо просто то, что в программе – сериалы и проч., либо даже по информационным каналам(!) РБК и Россия-24, только бегущая строка и картинка в левом нижнем углу. А в кадре остроумные ведущие ручками и глазками развлекающие публику огромным, просто огромным сюжетом о российском прокате Мстителей (это прямой эфир, чтоб вы не сомневались), или высоко-умный репортаж пропагандонов про Америку и Венесуэлу. А смотреть на картинку просто страшно, самолет сгорел наполовину. И никакие там не 13. И ничего не понятно. Никакие вы не журналисты. Никакие вы не информационщики. Вы – позор нации просто. А Москва-24 молодцы. Реально.[/bilingbox]
Auch am Flugzeugtyp, dem Suchoi Superjet-100, wird lautstark Kritik geübt. Anton Dolin, Chefredakteur von Iskusstwo Kino, zitiert aus einem Interview zum SSJ-100, das das Investigativ-Portal The Insider 2018 mit einem Aeroflot-Piloten geführt hatte:
[bilingbox]Ich denke, jetzt werden sich alle an diesen Text erinnern. Sollen sie, es ist genau die richtige Zeit.
‚Tatsächlich stellen wir den Suchoi Superjet nicht her, wir setzen ihn nur zusammen. Die Montage des Superjet erfolgte in Komsomolsk am Amur, dabei war die Qualität dermaßen niedrig, dass es gewaltige Probleme mit dem Flugzeug gibt. In Sachen Energieausbeute ist es unglaublich ineffizient. Aber es wird Aeroflot aufgezwungen. Das Projekt Superjet gehört Putin, dieses Flugzeug nicht zu kaufen ist dementsprechend keine Option. Aeroflot hat kürzlich 50 weitere Maschinen bestellt, das heißt, das Problem wird größer werden, wie ein Schneeball. Irgendwann einmal wird man das Flugzeug wahrscheinlich in einen vernünftigen Zustand bringen, aber mit welchen Mitteln und zu welchen Betriebskosten? Die Flüge werden sehr oft gestrichen oder verzögert. Ein Pilot, der einen Superjet nach Woronesh fliegt, sagt: Ich spiele hier jedesmal Lotto – in 50 Prozent der Fälle kann ich fliegen, in 50 Prozent nicht. Das ist überhaupt kein [akzeptabler] Indikator für eine Fluggesellschaft, dass ein Flug nur mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit durchgeführt werden kann – das ist eine finanzielle Katastrophe.‘~~~Думаю, все сейчас будут вспоминать этот текст. Ну пусть, самое время.
«Реально мы не производим Sukhoi Superjet, а только собираем. Сборка Superjet проходила в Комсомольске-на-Амуре, и при этом даже ее качество было настолько низким, что с самолетом огромные проблемы. В плане эксплуатации он безумно неэффективен. Но «Аэрофлоту» его навязывают. Проект Superjet принадлежит Путину, соответственно, вариантов не купить этот самолет нет. «Аэрофлот» недавно заказал еще 50 машин, то есть проблема будет расти, как снежный ком. Наверное, когда-то этот самолет доведут до ума, но какими средствами и какой эксплуатационной ценой? Рейсы отменяют, задерживают очень часто. Пилот, который летает в Воронеж на Superjet, говорит: у меня каждый раз лотерея: 50% — я улетаю, 50% — нет. Это вообще не показатель для авиакомпании, чтобы рейс выполнялся с вероятностью 50%, просто финансовая катастрофа».[/bilingbox]
Echo Moskwy: Versucht, eure Sünden mit Gebeten reinzuwaschen
Auf privaten Videos der Evakuierung sieht man Menschen, die auch ihr Handgepäck aus dem brennenden Flugzeug mitnehmen. Ein anonymer Zivilpilot macht im Blog auf Echo Moskwy Vorwürfe an die Überlebenden:
[bilingbox]Ich möchte mich an die Überlebenden des Flugs SU1492 wenden, die ihr Handgepäck bei der Evakuierung mitschleppten: Leute, geht in die Kirche und versucht, eure Sünden mit Gebeten reinzuwaschen, wenn es klappt. Ihr könnt so viel ihr wollt Aeroflot beschuldigen, der Tod von so vielen Passagieren lastet aber unter anderem auch auf eurem Gewissen. Ich weiß nicht, wie man damit leben kann, dass mit dem Preis von Menschenleben eure stinkigen Unterhosen gerettet wurden. Das ist irgendein Surrealismus, das übersteigt meinen Verstand.~~~Хотел бы обратиться к выжившим пассажирам рейса SU 1492, которые тащили с собой свою ручную кладь во время эвакуации. Люди, сходите в церковь и попробуйте замолить свои грехи, если получится. Вы можете сколько угодно обвинять «Аэрофлот», но смерть такого количества пассажиров, в том числе, и на вашей совести. Как жить с мыслью о том, что ценой человеческой жизни были спасены ваши вонючие трусы я не знаю. Это какой-то сюрреализм, за гранью моего понимания.[/bilingbox]
„Gehst du nach rechts – verlierst du dein Pferd, gehst du nach links – verlierst du deine Seele, gehst du geradeaus – dann stirbst du.“ Glaubt man den vielen Unkenrufen, dann steht das System Putin derzeit vor einer ähnlichen Ausweglosigkeit wie in dieser Variante des berühmten russischen Sprichworts. Vor rund einem Jahr wurde Wladimir Putin als Präsident wiedergewählt. Seine offiziell vierte Amtszeit hat turbulent begonnen: Massenproteste wegen Rentenreform und Steuererhöhungen, wachsende Unzufriedenheit mit der Kreml-Politik, steigender Ruf nach Veränderungen – all das mache die politischen Eliten nervös, meinen Beobachter. Wie geht der Kreml mit diesem Spannungsverhältnis um? Hat er immer noch alle Hebel in der Hand? Und welche innenpolitischen Szenarien sind denkbar? Diese Fragen stellt die Internetzeitung Znak Grigori Golossow, dem Dekan der politikwissenschaftlichen Fakultät an der Europäischen Universität Sankt Petersburg. Golossows Stimme gilt sowohl in der Politikwissenschaft als auch in den liberal-demokratischen Kreisen als sehr gewichtig.
Juri Grebenschtschikow/Alexander Sadoroshny: Der Kreml reagiert auf die gefallenen Beliebtheitswerte des Präsidenten mit umfangreichen sozialpolitischen Maßnahmen, die in Putins letzter (Jahres-)Ansprache angekündigt wurden. Denken Sie, dass diese Maßnahmen tatsächlich umgesetzt werden?
Grigori Golossow: Um irgendwelche Sozialmaßnahmen umzusetzen, braucht man Geld. Gibt es im Staatshaushalt kein Geld, bleibt die Umsetzung unvollständig und folgenlos. Wo soll denn das Geld herkommen? Aus dem Wirtschaftswachstum? Dafür gibt es derzeit keine Anzeichen und nicht einmal Prognosen. Darin sind sich alle Experten einig, selbst die staatlichen.
Wo soll denn das Geld herkommen? Aus dem Wirtschaftswachstum?
Man könnte die Ausgaben kürzen, die an die Außenpolitik, an die Sicherheitskräfte und die Verwaltung geknüpft sind. Aber auch das ist nicht abzusehen. Russland beteiligt sich nach wie vor aktiv an den Konflikten in der Ukraine und in Syrien, außerdem versucht es, seinen Einfluss auf der internationalen Bühne auszuweiten, bis hin zu den abgelegensten Winkeln der Welt wie der Zentralafrikanischen Republik. Dafür fließen horrende Summen.
Ein weiterer Faktor ist die permanente militärische Aufrüstung. Für die USA ist das Wettrüsten weitestgehend eine Metapher, für Russland hingegen ist jeder Versuch eines militärischen Wettbewerbs mit den USA eine Belastung. Wenn es also keine überschüssigen Mittel gibt, kann man sie auch nicht für soziale Anliegen ausgeben.
Aber wir haben doch einen Haushaltsüberschuss? Einen Puffer von fast zwei Billionen Rubel [rund 28 Milliarden Euro – dek]?
Ein Überschuss ist noch kein Puffer, keine Rücklage, mit der sich Sozialprogramme finanzieren ließen. Der russische Haushaltsüberschuss ist dafür vorgesehen, der Inflation entgegenzuwirken und zeugt nicht von einer stabilen Wirtschaftslage. Eine Unmenge objektiver Anzeichen belegen den schlechten wirtschaftlichen Zustand. Eines davon ist, dass es einen Haushaltsüberschuss gibt, denn er ist schlichtweg die Auswirkung einer spezifischen Wirtschaftspolitik. Und wie wir sehen, ist diese Wirtschaftspolitik nicht gerade auf Sozialausgaben ausgerichtet.
Ein paar Fragen zur Zukunft. Auf der innenpolitischen Bühne gibt es bislang keine ernsthafte Bedrohung für Wladimir Putin. Was denken Sie, bleibt er noch lange?
Macht übt bekanntermaßen eine große Anziehungskraft aus. Das Bestreben von Berufspolitikern, sie zu erhalten, ist also nichts Ungewöhnliches. Aber das ist nicht die einzige Erklärung.
Die Machthaber sind oft davon überzeugt, ihr Handeln sei wichtig und richtig für ihr Land. Selbst wenn sie tief in der Seele wissen, dass sie schwere Fehler begangen haben, sind sie sich sicher, jemand anderem wären noch schlimmere Fehlkalkulationen unterlaufen. Putin hat diese Überzeugung.
Gleichzeitig ist den Machthabern bewusst: Je länger sie an der Macht sind, desto mehr Sprengkraft akkumuliert sich durch die Fehler, die man ihnen vorwirft. Aber sie wissen um ihre Verantwortung, nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Angehörigen und die Menschen, die ihnen aus unterschiedlichsten Gründen nahestehen. Deshalb wissen sie auch, dass ein Machtverzicht nicht nur für sie, sondern auch für all diese Menschen eine Tragödie wäre. Selbstverständlich wollen sie diese Tragödie vermeiden.
Aus Putins subjektiver Sicht wird es also niemals Umstände geben, die einen realen Machtverzicht erfordern.
Aus Putins subjektiver Sicht wird es niemals Umstände geben, die einen realen Machtverzicht erfordern
Sicher, wenn es zu einer schweren Krise kommt und massiver Druck ausgeübt wird, beispielsweise durch außenpolitische Probleme, Massenproteste oder den Erfolg der Opposition, wird Putin gezwungen sein zu gehen. Aber es wird keine freiwillige Entscheidung sein.
Mir scheint, das Hauptproblem, das die Entwicklung des Landes behindert, ist ein psychologisches: die Angst der sogenannten Eliten, Putin eingeschlossen, alles zu verlieren, „was man mit unsäglicher Mühe erworben hat“. Deswegen zieht man es vor, alles zu belassen wie es ist, nicht auf Veränderungen hinzuarbeiten und in der Illusion von Sicherheit zu verharren. Wie könnte man dieses Problem lösen?
Das hängt davon ab, wer es löst. Bislang gibt es niemanden, der es lösen könnte. Ganz im Gegenteil: Der Großteil der russischen Politiker ist am Erhalt des Status quo interessiert. Eigentlich ist die Angst der russischen Führungsriege, alles zu verlieren, durchaus berechtigt: Russland hat viel Erfahrung mit Revolutionen, jeder weiß, dass mit den Vertretern der herrschenden Klasse nicht lange gefackelt wurde, weder 1917 noch 1991.
Andererseits hat die Praxis gezeigt: Wenn im Land ein Demokratisierungsprozess in Gang kommt, beweist ein wesentlicher Teil der herrschenden Klasse Umsicht und schließt sich ihm an. Für jedes Beispiel à la 1917 finden sich auch Gegenbeispiele wie der Übergang zur Demokratie nach Francos Tod in Spanien, als fast die ganze herrschende Klasse, geradezu geschlossen, zur Demokratie überging.
Das Verhalten der herrschenden Klasse ist rational, alles hängt davon ab, welchen Anstoß sie bekommt
Kurzum: Das Verhalten der herrschenden Klasse ist rational, alles hängt davon ab, welchen Anstoß sie bekommt. Nur das bestimmt ihr Handeln. Ich denke, jedem ist klar, dass eine totale Revolution nach dem Beispiel von 1917 nicht im Interesse des Landes ist, solche Revolutionen haben meist einen sehr hohen Preis.
Bei uns kamen die Reformbestrebungen bisher nie von unten, sondern nur von oben – seien es die Reformen unter Alexander II., die Demokratisierung unter Gorbatschow oder die Liberalisierung der Märkte unter Jelzin. Sehen Sie in der heutigen Regierung potenzielle Initiatoren und Anhänger einer neuen Perestroika?
Ich denke, das spielt überhaupt keine Rolle. Wenn Politiker finden, die Veränderungen sind in ihrem Interesse, sind notwendig für ihr eigenes politisches Überleben, dann werden sie zu Reformern, ganz unabhängig von ihren psychologischen Befindlichkeiten. So gesehen, kann jeder zum Reformer werden, der die nötige Initiative und den Mut dazu hat. Wenn ein Mensch allerdings weiß, dass ihn die Reformen ins Gefängnis bringen könnten, wird er sich hüten, Reformbestrebungen voranzutreiben.
Wenn Politiker finden, die Veränderungen sind in ihrem Interesse, sind notwendig für ihr eigenes politisches Überleben, dann werden sie zu Reformern
Anders gesagt: Die Vorteile der Reformen müssen die Risiken überwiegen. Ich vermute, dass in den oberen Etagen der heutigen russischen Politik zu viele Leute sitzen, die die Risiken als zu hoch erachten. Das gilt auch für Präsident Putin und viele Leute aus seinem direkten Umfeld.
Umfragen belegen, dass in der heutigen Gesellschaft ein Wunsch nach Veränderung besteht. Allerdings in sehr unterschiedlichen Formen. „Unter Stalin hätte es das nicht gegeben“ – ist ja auch ein Wunsch nach Veränderung.
Das Bild, das die Umfragen widerspiegeln, wird in großem Umfang (wenn auch nicht vollständig) von Informationen geprägt, die Menschen über die ihnen zugänglichen, staatlich kontrollierten Medien bekommen. Wenn man ihnen ständig sagt, Stalin sei gut gewesen, glauben sie irgendwann, dass unter Stalin tatsächlich alles besser gewesen sei und vielleicht auch heute besser wäre. Das sollte man nicht allzu ernst nehmen.
Wenn man den Menschen ständig sagt, Stalin sei gut gewesen, glauben sie irgendwann, dass unter Stalin tatsächlich alles besser gewesen sei. Das sollte man nicht allzu ernst nehmen
Wenn wir darüber sprechen, welche Phänomene im Massenbewusstsein einer Demokratisierung im Wege stehen, sollten wir unseren Blick auf jenen Teil der Bevölkerung richten, der sich ihr tatsächlich aktiv widersetzen würde. Die Meinungsumfragen belegen nicht, dass es in Russland einen maßgeblichen Bevölkerungsanteil gäbe, für den demokratische Veränderungen unannehmbar wären.
Viele Menschen sind desorientiert, ihre Loyalität zur gegenwärtigen Politik ist auf den Einfluss der Medien und auf das gesamte Propaganda-System zurückzuführen. Diese Menschen können ihre Meinung auch ändern und zu Anhängern einer Demokratisierung werden.
Viele Menschen sind desorientiert, ihre Loyalität zur gegenwärtigen Politik ist auf den Einfluss der Medien und auf das gesamte Propaganda-System zurückzuführen. Sie können ihre Meinung auch ändern
In der russischen Geschichte gab es so etwas schon. Hätte Anfang 1988 jemand gesagt, dass die Sowjetunion in drei Jahren zerfallen und der Kapitalismus kommen würde, hätten die Menschen es nicht geglaubt. Und sie hätten diese Perspektive auch nicht begrüßt. Damals hielten fast alle den Sowjetstaat und den sowjetischen Sozialismus für ein hohes Gut, etwas anderes kannte man ja auch nicht. Doch später, als man es kennenlernte, gab es überhaupt keinen gesellschaftlichen Widerstand gegen die Reformen. Im Gegenteil, viele fanden, alles entwickle sich zum Besseren. Das zeigt, wie dynamisch das gesellschaftliche Bewusstsein ist. Es ist durchaus in der Lage, ein sehr breites Spektrum von Veränderungen mitzumachen.
Eine neue Perestroika ist also möglich: Früher oder später wird man sich da oben ihrer Notwendigkeit bewusst und da unten wird der Wunsch nach ihr reifen. Aber unsere Geschichte kennt doch auch andere Entwicklungen: Chaos mit anschließender Diktatur, Isolation und Stagnation hinter dem Eisernen Vorhang, das Scheitern eines Systems unter dem Druck der technischen Revolution wegen einer prinzipiellen Unreformierbarkeit. Das könnten wir doch auch wiederholen?
Auch diese Szenarien sind denkbar. Politik ist die Folge von Handlungen. Die Folgen ihrer Handlungen können Politiker in eine Sackgasse führen, zu einem Scheitern. Ich kann diese Entwicklung bei der herrschenden Klasse in Russland nicht ausschließen. Für das Land sind das nicht die besten Varianten, aber sie sind möglich.
Am Mittwoch hat Präsident Putin einen Erlass unterzeichnet, wonach den Bewohnern der sogenannten Donezker und Lugansker Volksrepubliken die Annahme der russischen Staatsbürgerschaft erleichtert werden soll. In den Gebieten wird seit 2014 gekämpft.
Kurz nach der Wahl des neues ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky, dem Putin zum Wahlsieg nicht gratuliert hatte, kam der Erlass sehr überraschend. Der noch amtierende ukrainische Präsident Petro Poroschenko warnte vor einer russischen Annexion der Gebiete.
Als aggressives Symbol kritisierten zahlreiche Beobachter das Handeln Putins, der ehemalige Jelzin-Berater Georgi Satarow etwa kommentierte auf Facebook: „Es ist ganz offensichtlich, dass diese kleine Schikane (statt einer Gratulation) das typische nervöse Zucken eines Mannes ist, der voller Schwermut erschreckt nach Luft schnappt vor Neid auf einen, der mehr als 70 Prozent der Stimmen bekommen hat, und zwar ohne den Einsatz einer riesigen Propagandamaschine, ohne Unterdrückung und Betrug.“
Der Kreml dagegen betonte, man habe „nicht den Wunsch, der neuen ukrainischen Führung Probleme zu machen“. Der sogenannte Chef-Ideologe des Kreml Wladislaw Surkow sagte, der Erlass sei „eine Pflicht Russlands gegenüber den Menschen, die auf Russisch denken und sprechen und die sich wegen der repressiven Maßnahmen des Kiewer Regimes jetzt in einer sehr schwierigen Situation befinden“. Mit russischem Pass würden sich „die Menschen beschützter und freier” fühlen.
Das russische OnlinemagazinThe New Timesveröffentlichte mehrere Blogbeiträge zum Thema, unter anderem den Facebook-Post von Mustafa Najem. Der einstige Journalist, der heute Mitglied der Rada ist, gilt als Initiator des Euromaidan 2013.
Wladimir Putin hat einen Erlass unterschrieben. Darin geht es darum, die Annahme der russischen Staatsbürgerschaft für Bewohner der besetzten Gebiete in den Oblasten Donezk und Luhansk zu erleichtern. Das Ziel dieser internationalen Sabotage ist offensichtlich: Seinerzeit ermöglichte die massenweise Vergabe russischer Pässe an die Bewohner Abchasiens und Südossetiens die russische Invasion im August 2008 nach Georgien.
Aber am ärgerlichsten ist dieser unglaubliche Unsinn über die russischsprachigen Menschen, mit dem das gerechtfertigt wird. „Wenn sie erst einmal [russische – dek] Pässe haben, werden sich die Leute sicherer fühlen“, sagt Wladislaw Surkow.
Man fragt sich: Vor wem schützt ihr denn dort die russischsprachen Menschen?! Da gibt es keine ukrainische Staatsmacht. Da ist alles in der Hand eurer Freunde. Da rollt der Rubel. Der ganze offizielle Schriftverkehr ist auf Russisch. Und ein Sachar Prilepin rennt fröhlich durch die Schützengräben. Wen wollt ihr da vor wem beschützen?!
Vor wem schützt ihr denn dort die russischsprachigen Menschen?!
Wenn es schon so weit gekommen ist, denke ich, sollte man Herrn Surkow einfach anbieten, herzukommen und die russische Sprache zu schützen, etwa an der Frontlinie oder in einem beliebigen [ukrainischen – dek] Truppenteil, wo Tausende, die Russisch sprechen, ihren Dienst leisten. Ich fände das irre interessant. Oder kommen Sie doch hierher, nach Kiew, und schauen Sie mal im Barbakan oder bei Pizza Veterano rein – auch da gibt es eine Vielzahl russischsprachiger Ukrainer, die quasi nur darauf warten, dass man sie beschützt. Am besten noch, Sie schauen auch mal beim Asow-Bataillon vorbei und versuchen denen Ihre Hilfe anzubieten.
Aber gut.
Hören Sie. Ich bin russischsprachiger Ukrainer. Ich habe nur eine einzige Amtssprache: Ukrainisch. Wie auch Millionen weitere russischsprachige Ukrainer, brauche ich nicht den Schutz eines Wladislaw Surkow, eines Wladimir Putin und weiterer Nachfahren unseres Kiewer Fürsten Juri Dolgoruki. Genau wie Englisch nicht Großbritannien, Französisch nicht Frankreich und Spanisch nicht ausschließlich den Spaniern gehört, so ist auch die russische Sprache nicht das Eigentum der Russischen Föderation.
Gerade die Ukraine sollte meiner Meinung nach das Land werden, das dem Kreml das Monopol auf die russische Sprache entzieht sowie das alleinige Recht, russischsprachige Menschen zu schützen. Ich arbeite schon lange daran und werde bald meine Sicht auf die Situation in den besetzten Gebieten vorlegen. Ich weiß nicht, welche Ideen zu diesem Thema im Stab des neu gewählten Präsidenten besprochen und ob überhaupt welche besprochen werden. Doch ich bin bereit, meinen Plan vorzulegen und mit jeder Regierung zusammenzuarbeiten, die ihn für effektiv und umsetzbar hält.
Und was die russische Sprache betrifft, so meine ich das ernst. Was ist das für eine teuflisch „humanitäre“ Leibeigenschaft? Russisch gehört unter anderem auch uns. Und es geht hier nicht um eine zweite Amtssprache, die meiner festen Überzeugung nach Englisch sein sollte; es geht darum, dass mit unseren Leuten, die von Russland als Geisel genommen wurden, nicht nur der Terroristen-Staat Russisch reden sollte.
Musikvideos aus Russland entwickeln sich derzeit zu Exportschlagern. So haben etwa bei den Berlin Music Video Awards 2018 gleich drei Clips aus Russland abgeräumt: Leningrad (Best Music Video & Best Narrative), Aigel (Best Editor) und Little Big (Most Trashy). 2019 stehen Shortparis auf der Nominierungsliste für Best Director – eine 2012 in Sankt Petersburg gegründete Band. Ihr Clip Straschno (Angst) vom letzten Dezember sammelte auf YouTube bislang zwar nur zweieinhalb Millionen Aufrufe, vor allem in sozialen Netzwerken sorgte er aber für großes Aufsehen.
Straschno kam am 12. Dezember 2018 heraus – am Tag der Verfassung der Russischen Föderation. Kurze Zeit später veröffentlichte die Band das Video dazu, wohl zufällig parallel zu einer Reihe von Konzertverboten in Russland. Erst danach gingen Shortparis auf Tournee.
Derzeit spielen sie in Westeuropa, ihr Berliner Konzert am 26. April ist schon seit einigen Wochen ausverkauft. Am 16. September geben Shortparis dort aber ein Zusatzkonzert. dekoder nimmt die Tournee zum Anlass für eine Einordnung ihres viel diskutierten Videos und bringt Zitate aus Meduza sowie dem Musikmagazin Muzstorona.
Kulturen prallen bunt aufeinander, dass es nur so kracht. Die ästhetisierte Performance der Jungs von Shortparis zeigt Wege und Lösungen des Politischen – jenseits von Worten. Shortparis selbst erklären ihr Video auf Meduza so:
[bilingbox]Der Clip will den Zustand eines Teils der heutigen Generation festhalten. Er ist natürlich provokativ und spielt auf einige soziale Tragödien an, die aus irgendeinem Grund bis heute nicht in unserer visuellen Kultur reflektiert worden sind. Im Verlauf werden Trigger aufgezeigt, schmerzliche Assoziationen, gesellschaftliche Tabus, Ängste: Arabische Schriftzüge, auch wenn damit Wörter wie „Freundschaft” oder „Liebe” geschrieben sind, verbinden sich unweigerlich mit Terrorismus, rasierte Köpfe mit Neonazismus und so weiter. Aber erhalten bleibt nach diesem Gedankenspiel in der Trockenmasse eines: Der Zustand einer nicht artikulierten, aber wachsenden Alarmiertheit, die allen gemein ist.~~~Клип, безусловно, пытается манифестировать состояние части нынешнего поколения. Он, конечно, провокационен и намекает на ряд социальных трагедий, почему-то не отрефлексированных до сих пор в нашей визуальной культуре. По ходу вскрываются триггеры, болезненные ассоциации, общественные табу, страхи: арабская вязь, пусть ею написано слово «Дружба» или «Любовь» неминуемо связывается с терроризмом, бритые головы — с неонацизмом, и так далее. Но после этой игры смыслов в сухом остатке остается одно — состояние не артикулированной, но нарастающей тревоги, общей для всех.[/bilingbox]
Mit ihren Clips entlarven Shortparis eine Leerstelle, meint zumindest der Musikkritiker Pjotr Poleschtschuk auf Muzstorona:
[bilingbox]Von Shortparis stammt folgende Äußerung: „Das Politische sitzt heutzutage tief in uns, es ist nicht mehr nur etwas Soziales, sondern auch etwas tief Psychologisches.” Die Gesellschaft, vielmehr das, was sie ausmacht, ist einer irrationalen Angst gleichzusetzen. Die Reaktionen auf die Umwelt sind mittlerweile Gefühlsausbrüche von Zeichen, die Reflektionen und Analysen irgendwo tief unter dem Eis eingemauert haben. Ironischerweise haben Shortparis als eine Art visueller Transformation das Fehlen positiver Transformationen demonstriert.~~~Высказывание Shortparis – о том, что сегодня политическое сидит глубоко в нас, это уже не только социальное явление, но и глубоко психологическое. Содержимое социума приравнивается к иррациональному страху. А реакции на окружающий мир стали сводится к всплескам эмоций от знаков, замуровав рефлексию и аналитику где-то глубоко подо льдом. Иронично, как путем визуальных трансформаций Shortparis продемонстрировали отсутствие каких-либо позитивных трансформаций вокруг.[/bilingbox]
Die Band aus Sankt Petersburg sei „full of revolutionary potential“, befand die britische Musikzeitschrift The Quietus, noch bevor die Fünf Straschno herausbrachten. Gerade über das revolutionäre Potential von Shortparis sprach man nach der Veröffentlichung des Clips. Genauer gesagt – man rätselte, denn Shortparis arbeiten mit vielschichtigen Symbolen, mit Andeutungen und Anklängen. Was dabei herauskommt, ist mehr Konzeptkunst als Musikvideo:
[bilingbox]Die Bacchanalien von Symbolen gipfeln in der arabischen Zierschrift vor dem Hintergrund der russischen Nationalflagge. Wie stur auch immer der Major marschiert – hinter seiner gekünstelten Ernsthaftigkeit entblößt Shortparis, wie relativ und schmerzhaft anekdotisch soziale und kulturelle Vorurteile sind.
Bislang spiegeln Post-Punk-Gruppen die Welt als Chaos, das zu nichts Konkretem führt. Shortparis gehen weiter, zeichnen und geben dem Chaos Konturen.~~~Вакханалия символов завершается надписью арабской вязью на фоне флага России (что в итоге придало смысл выпуску сингла именно 12 числа, если вы понимаете). Как бы упрямо ни шагал майор, но за его напускной серьезностью Shortparis обнажают условность и болезненную анекдотичность социальных и культурных предрассудков. Пока большинство пост-панк групп отражает мир, как несводящийся ни к чему конкретному хаос, Shortparis идут дальше и вырисовывают хаосу контур.[/bilingbox]
Eine klare politische Botschaft fehlt in Straschno, dafür ist das Video gespickt mit offensichtlich unvereinbaren Symbolen: Wenn die Protagonisten eine terroristische Gruppierung mimen, die in eine Schule eindringt, kann das als Anspielung auf die Geiselnahme von Beslan verstanden werden, oder auf den Amoklauf von Kertsch im Oktober 2018, bei dem ein College-Student 20 Menschen und schließlich sich selbst erschoss.
Auch die massiven Jugendproteste werden damit assoziiert sowie Pogrome gegen Gastarbajtery. Sehen die Terroristen für viele etwa deshalb wie Neonazis aus? Doch warum ist das Video dann auf Arabisch untertitelt? Und dann auch als Karaoke? Warum diese abrupten Szenenwechsel und die Anklänge an eine brausende Gay-Party?
Solche Widersprüche scheinen Shortparis auch zu leben: Mit dem russischen Jugendschutzgesetz hätten ihre Konzerte im Dezember leichterdings verboten werden können, wie die zahlreicher anderer Musiker auch. Im Februar traten die fünf Männer aus Sankt Petersburg mit Straschno aber in der Late-Night-Show Wetscherni Urgantauf, im Staatssender Erster Kanal. Irgendwie sind sie Underground, gleichzeitig zieren sie aber die Cover von populären Magazinen.
[bilingbox]Gibt es Grund für die Annahme, dass die Botschaft von Shortparis etwas grundlegend Neues ist? Kaum. Jedoch ist es in dem stickigen Raum schwierig – sogar der Hip-Hop kommt nicht mit deutlich politischer Kritik klar (und das als zweitbeliebtestes Genre beim Publikum) – , etwas stilistisch Besseres zu entdecken als Straschno. Möglicherweise ist in der Welt politischer und kultureller Analphabeten ein solcher Ästhetizismus im Verbund mit Dreistigkeit gar nicht die schwächste Reaktion. Und das ist keineswegs ein Zugeständnis.
Im Endeffekt liegt bei Shortparis das interessante Paradox nicht im Aufeinanderprallen gegensätzlicher Ästhetik und nicht in der merkwürdigen Verbindung von Avantgarde und Pop. Das Paradox besteht darin, dass Shortparis es schafft, gleichzeitig allem und nichts Konkretem ähnlich zu sein. Denn es ist bekannt, „dass am Genie wundervoll ist, dass es allen ähnelt, ihm aber niemand.” Inwiefern das auf Shortparis zutrifft, wird die Zeit zeigen.~~~Есть ли основания считать, что высказывание Shortparis — это нечто беспрецедентно новое? Едва ли. Аналогии с небезызвестной «This is America» напрашиваются неспроста (но надо отметить, что цели у работ абсолютно разные). Однако в душном пространстве, где даже хип-хоп не справляется с внятной политической критикой (будучи вторым по популярности национальным жанром), трудно вспомнить более стильную работу, чем «Страшно». Возможно, в мире политической и культурной безграмотности эстетизм вкупе с дерзостью оказывается не самым слабым контрударом. И это ни в коем случае не скидка. В итоге самый главный парадокс Shortparis открывается не в столкновении противоположной эстетики и не в странном сочетании авангардной и поп музыки. Парадокс в том, что Shortparis умудряются напоминать одновременно всех и никого конкретного. И акцент здесь стоит делать все-таки на второй части предложения. Ведь, как известно, «в гении то прекрасно, что он похож на всех, а на него — никто». Насколько справедливо это в отношении Shortparis – время покажет.[/bilingbox]
Der Schauspieler und Comedian Wolodymyr Selensky hat die Präsidentschaftswahl in der Ukraine gewonnen. Über 61 Prozent der Wahlberechtigten nahmen an der Wahl teil, Hochrechungen am Montag zufolge bekam Selensky rund 73 Prozent der Stimmen, Petro Poroschenko etwa 25 Prozent. Damit hat der Polit-Neuling den bisherigen Amtsinhaber haushoch besiegt.
Was bedeutet der Sieg von Selensky für Russland? Was könnte sich in den ukrainisch-russischen Beziehungen ändern? dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte in russischen Medien.
Wladimir Solowjow, polarisierender Moderator im Staatsfernsehen, ruft dazu auf, die ukrainische Wahl nicht anzuerkennen. In einem Gespräch mit dem Fernsehsender Zargrad sagt er, dass er vom neuen Präsidenten nichts erwarte:
[bilingbox]Wie irgendein ausländischer Diplomat ganz richtig sagte: Statt Selensky hätte auch ein Stuhl antreten können. Selbst der hätte gegen Poroschenko gewonnen.~~~как правильно говорил кто-то из иностранных дипломатов, вместо Зеленского мог быть стул. И то он победил бы Порошенко[/bilingbox]
Facebook/Lilija Schewzowa: Wenden wir uns wieder uns selbst zu!
Die Ukraine beherrschte die russischen Schlagzeilen – gerade in kremlnahen Sendern wurde sehr kritisch über die Entwicklungen berichtet. Auf Facebook beurteilt Politologin Lilija Schewzowa die Folgen des ukrainischen Wahlausgangs für Russland auch vor diesem Hintergrund:
[bilingbox]Die russische Fraktion rätselt, was für ein Präsident Wolodymyr Selensky wohl werden wird. Was für einer auch immer er wird, er wird die nationalen Interessen der Ukraine verteidigen. Andernfalls wird ein neuer Maidan über sein Schicksal entscheiden. Außerdem wird Selensky nicht das einzige Zentrum der Macht sein in der Ukraine, die es vermochte, ein System der checks and balances aufzubauen. Möglicherweise ist entscheidender, wie die Machtverhältnisse in der Rada sind und wer der neue Premier wird. Das ist eine uns völlig unverständliche Realität. Wir, die wir an Alleinherrschaft gewöhnt sind, fühlen uns verloren, wenn wir viele widerstreitende Kräfte sehen, und empfinden sie als Chaos. […] Klar, es ist peinlich, ein ausgestoßener Staat zu sein. Noch peinlicher ist es, auf Gleichgültigkeit zu stoßen. Aber wenn Russland seine Würde und Zukunftsperspektive zurückerlangen will, müssen wir das Leiden an der Ukraine überwinden und uns endlich mit unseren Angelegenheiten beschäftigen.~~~
Российская тусовка гадает, каким президентом станет Владимир Зеленский. Каким бы он ни стал, он будет защищать украинские национальные интересы. Иначе новый Майдан решит его участь. Причем, Зеленский не будет единственным центром власти в Украине, которая сумела создать систему противовесов. Возможно, важнее будет новое соотношение сил в Раде и кто станет новым премьером. Это непонятная для нас реальность. Мы, привыкшие к единовластию, теряемся, когда видим множество противоборствующих сил, считая это хаосом.
[…]
Конечно, быть отвергнутой державой обидно. Встречать равнодушие еще обиднее. Но если Россия хочет вернуть себе достоинство и видение будущего, придется переболеть Украиной и заняться своими делами.[/bilingbox]
Die unabhängige Zeitung Kommersant zitiert den berühmten Staatsjournalisten Dimitri Kisseljow: Dieser bemerkte, dass Selensky die Separatisten aus dem Donbass „Aufständische“ nenne:
[bilingbox]Für sich genommen, bedeutet das Wort „Aufständische“, dass es ein innerukrainischer Konflikt ist, dass es ein innerukrainischer Krieg ist. Moskau ist kein Teil dieses Konflikts. Poroschenko fürchtete das Wort „Aufständische“ wie der Teufel das Weihwasser. Selensky hat keine Angst davor. […] Selensky verspricht, im Normandie-Format zu handeln und den Minsker Prozess fortzusetzen. Für seine erstrangige Aufgabe hält er, so wie er sagt, die Rückkehr aller Verhafteten in die Ukraine. Auch ein Waffenstillstand gehört zu den prioritären Aufgaben des neuen Leaders der Ukraine. ~~~Само по себе слово „повстанцы“ обозначает, что конфликт внутриукраинский, а война внутригражданская. Москва стороной конфликта не является.[…] Порошенко боялся „повстанцев“ как черт ладана. Зеленский этого слова не боится. […] Зеленский обещает действовать в нормандском формате и продолжить минский процесс. Своей первостепенной задачей считает возвращение на Украину, как он выразился, всех заключенных и пленных. Прекращение огня в Донбассе также остается приоритетной задачей для нового лидера Украины.[/bilingbox]
Politologe Wladimir Frolow überlegt auf Republic noch vor der Stichwahl am Sonntag, wie sich die ukrainisch-russischen Beziehungen unter einem Präsidenten Selensky wohl gestalten würden. Sein positives Szenario fällt nur kurz aus:
[bilingbox]Bislang kann man aus dem, was Selensky im Wahlkampf öffentlich sagte, den Schluss ziehen, dass er womöglich von aggressiver Rhetorik absehen und eine ruhigere Diskussionsatmosphäre aufbauen wird, etwa, was Fragen nach Verkehrsverbindungen angeht (Wiedererrichtungen direkter Flugverbindungen, des Güterverkehrs), das Aufheben einzelner Sanktionen, den Zugang zu Märkten bestimmter Güter. […] Klar, die Rede ist keinesfalls von der Rückkehr in die Zeiten vor 2014 und von Beziehungen „brüderlicher Länder”. Selensky kann die russische Hoheit über die Krim nicht anerkennen. […]. Selensky fordert [aber] auch, die künstlichen Beschränkungen für den Gebrauch des Russischen in der Ukraine zu beseitigen. […] Solche Schritte, wenn sie denn gemacht werden, bringen das Eis zum Schmelzen und sie werden vom Kreml angemessen bewertet werden. […] Doch das ist eine begrenzte positive Agenda. Sie basiert unweigerlich darauf, dass Fortschritte im Donbass erzielt werden oder bricht wieder in sich zusammen, sobald unüberwindliche Differenzen bei der Umsetzung des Minsker Abkommens auftreten.~~~Пока из того, что публично наговорил Зеленский в ходе кампании, можно сделать вывод о возможном отказе от агрессивной риторики и создании более спокойной атмосферы для обсуждения, например, нормализации транспортного сообщения (восстановление прямых авиарейсов, транзита грузов), снятия отдельных санкционных ограничений, доступа на рынки по отдельным товарным позициям. […] Разумеется, ни о каком возвращении к временам до 2014 года и отношениям «братских стран» речь не идет. Зеленский не сможет признать российский суверенитет над Крымом […]. Зеленский призывает также к снятию искусственных ограничений на использование русского языка на Украине […]. Такие шаги, если они будут сделаны, растопят лед и будут правильно оценены Кремлем. […] Но это ограниченная позитивная повестка. Она неизбежно упирается в достижение прогресса по Донбассу или же вновь рушится при возникновении непримиримых разногласий вокруг реализации Минских соглашений.[/bilingbox]
Facebook/Konstantin von Eggert: Leb wohl, Ukraine!
Der unabhängige Journalist Konstantin von Eggert resümiert über die Wahl in der Ukraine auf Facebook:
[bilingbox]Die Ukraine hat sich als Demokratie vollständig etabliert. Einen Moskau-nahen Präsidenten wird es dort nicht geben, denn das wird die Gesellschaft nicht zulassen. Wenn Selensky nicht gefällt, werfen sie ihn raus und wählen den nächsten, sei es ein Karpaten-Ungar, eine Frau, ein Zahnarzt, der ehemalige Botschafter in Kairo oder ein Schwuler. Und uns mit unserem ewigen Putin werden sie nicht fragen. Wie Sergej Medwedew sagt, „die Nation ändert die Realität”. Leb wohl, Ukraine! Danke dir. Wir werden uns auch bemühen.~~~Украина полностью состоялась как демократия. Никакого промосковского президента там не будет, потому что не позволит общество. Если Зеленский не понравится, выгонят и изберут себе карпатского венгра. Женщину. Дантиста. Бывшего посла в Каире. Гея. И нас с нашим вечным Путиным не спросят. Как говорит Сергей Медведев, “нация меняет реальность». Прощай, Украина! Спасибо тебе. Мы тоже будем стараться.[/bilingbox]
Auf Facebook zeigt sich die Außenamtssprecherin nach wochenlanger Kritik an dem Wahlkampf zwar versöhnlicher, dennoch spart Maria Sacharowa nicht an Spitzen:
[bilingbox]Auch wenn ich das Backstage der Weltpolitik verstehe, sage ich dennoch: Die Ukraine kann einen Reset vollziehen. Nicht im Sinne der Umverteilung von Geldflüssen aus der einen in die andere Tasche. Sondern einen richtigen Reset, der dem Bewusstsein geschuldet ist, dass eine Konsolidierung des Volkes nicht mit Gewalt, sondern durch das Herausarbeiten einer Agenda für die ganze Nation zustande kommt. Damit es nächstes Mal nicht nötig sein wird, so wie jetzt Millionen eigener Bürger von den Wahlen auszuschließen.~~~При понимании всего мирового закулисья, всё равно скажу: Украина может осуществить перезагрузку. Не в смысле перераспределения денежных потоков из одних карманов в другие. А настоящую, основанную на осознании необходимости консолидации народа не на основе силы, а на основе выработки общенациональной повестки. Чтобы в следующий раз не пришлось как сейчас отключать от голосования миллионы собственных граждан.[/bilingbox]
Auf Facebook stellt die renommierte Investigativ-Journalistin Jelisaweta Ossetinskaja eine delikate rhetorische Frage:
[bilingbox]Verzeihen Sie bitte – etwas Heikles: Wie können die Propagandisten die Ukraine jetzt noch als faschistischen Staat bezeichnen, wenn der Präsident nun ein Jude ist?~~~Извините, я о деликатном. А как пропагандисты теперь будут называть Украину фашистским государством, если там президент – еврей?[/bilingbox]
Zweimal im Jahr gehen sie auf große Tour: Die Schafe und der Schäfer. Milana Masajewa hat sie für Takie Dela in Dagestan begleitet – auf einem Extremweg in einem Leben ohne Schnickschnack.
Von Machatschkala bis zum Winterquartier der Schafherde sind es zwei Stunden Taxifahrt. Von der asphaltierten Straße fahren wir auf einen Kiesweg, auf dem wir etwa eine Stunde lang dahinrumpeln. Bis zu unserem Zielort, dem Dorf Tamasatjube, will der Fahrer uns mit seinem Lada Priora nicht bringen: „Da gibt es keinen Weg, ich habe meinen Wagen auf der Fahrt hierher schon genug durchgerüttelt.“ Wir bitten den Schäfer Chalitbej, uns entgegenzufahren. Er kommt in einem alten Lada Niva ohne Rücksitz. Das Auto ist nur dazu da, die Schafe zu begleiten. Wir setzen unseren Fotografen in den Kofferraum und fahren noch etwa eine halbe Stunde.
Vater und Sohn
Drei Sofas, ein Ofen, der mit Dung geheizt wird, eine kleine Kochplatte mit angeschlossener Gasflasche, ein Tisch, Stühle und ein Fernseher – das ist die Wohnstätte, in der der Schäfer Chalitbej mit Frau und Sohn von Oktober bis Mai gelebt hat. Sein Helfer schläft in einem anderen Raum, noch bescheidener als der erste. Wir sind am letzten Tag des Winterquartiers hergekommen. Die Frau ist bereits zur Bergstation gefahren, um das Sommerhaus herzurichten. Der 19-jährige Sohn schläft im Auto, um für uns Platz zu machen. „Setzt euch, nehmt und esst. Gebratenes Hackfleisch, gekochtes Fleisch, Hauswurst, Käse. Alles von uns. In den Bergen gemacht“, sagt der Schäfer und häuft die restlichen Sachen zusammen, die sich morgen mit uns auf eine neuntägige Reise begeben werden.
„Ich bin als Schafzüchter und Hirte zur Welt gekommen. Mein Vater, Großvater, Urgroßvater, alle waren Schäfer. Außer mir machen das in der Familie auch noch zehn meiner Cousins. Ich will und kann jetzt gar nichts anderes, aber meinem Sohn wünsche ich etwas anderes. Dieses Leben ist hart. Man hat kein Wochenende und keine Ferien, keinen Urlaub. Außerdem: Schafhirte kann er ja immer noch werden, das kann er ja schon. Ich möchte, dass er studiert.“
„Esst noch was und schlaft dann gut, wir brechen um vier Uhr früh auf“, sagt Chalitbej. Um ein Uhr nachts schaltet er das Licht aus. Sein Helfer sieht noch einmal nach der Herde. Um halb vier – ich kriege kaum die Augen auf – stelle ich fest, dass schon alle auf den Beinen sind.
Ökonomie der Schafherde
Für eine tausendköpfige Schafherde braucht man zwei, drei Leute. Zum Auftrieb der Herde hat Chalitbej einen Schaftreiber angeheuert. Er wird die Schafe, die am Weg auseinanderstieben, zusammenhalten. Der Schäfer zahlt ihm 1000 Rubel [knapp 15 Euro – dek] pro Tag. Der Helfer hat einen noch verantwortungsvolleren Job. Er wird für ein ganzes Jahr angestellt und mit drei Schafen pro Monat entlohnt. Während des Auftriebs geht er voraus und führt die Herde an. Obwohl Chalitbej die ganze Zeit über bei den Schafen ist, kommt er nicht ohne Gehilfen aus. In unserer Runde ist der Helfer, ein Darginer, Chalitbej, ein Aware, und der Treiber, ein Kumyke. Sie haben alle verschiedene Muttersprachen, die sich stark voneinander unterscheiden, also sprechen sie miteinander Russisch.
Der Auftrieb der Herde vom Tal in die Berge dauert acht bis zehn Tage, manchmal länger – je nach Wetter. Der Winterstall von Chalitbej befindet sich im Dorf Tamasatjube, die Sommerweide hoch in den Bergen, nicht weit von der Siedlung Gagatli. Wenn der Frost hereinbricht, legen die Hirten denselben Weg in die andere Richtung zurück.
„Mein Cousin kauft sich für den Sommer tschetschenische Berge. Er zahlt mit Schafen“, erzählt der Schäfer. „Ich habe mir für die Sommerzeit eine Hochebene in der Nähe meines Heimatdorfs ausgesucht. Wenn ich eigenen Grund hätte, könnte ich mehr Schafe halten. Diese Option habe ich nicht. Ich muss für jeden Flecken zahlen.“
Das Winterquartier der Schafherde hat eine Fläche von 250 bis 300 Hektar. Für den ganzen Winter zahlt der Schäfer 100.000 Rubel [knapp 1500 Euro – dek] an den Grundbesitzer, plus zehn Schafe für die Hütte. In der kalten Jahreszeit wächst kein Gras. Die Herdenbesitzer kaufen Heu dazu oder mähen in den Bergen Gras, um einen Vorrat anzulegen.
Es gibt spezielle Schafe und Hammel, die für den Verkauf gemästet werden. Ihr Fleisch wird meist nach Moskau oder Sankt Petersburg geliefert. Früher wurden die Tiere einfach auf KAMAZ-Laster geladen und erst dort geschlachtet, jetzt darf man nur noch Fleisch transportieren. „Wir verkaufen das Fleisch für 200 bis 220 Rubel [rund 3 Euro – dek] pro Kilo, die Zwischenhändler verkaufen es für 250 [3,60 Euro – dek], manchmal sogar 350 Rubel [rund 5 Euro – dek]. Das heißt, wir arbeiten das ganze Jahr über im Regen, im Schnee, und sie schlagen in ein oder zwei Stunden mehr heraus als wir. Ein Jammer ist das, aber was soll man machen? Das ist der Preis, teurer kriegen wir es nicht verkauft.“
Am Morgen des ersten Auftriebtages legt Chalitbej Geschirr, Kleidung und Decken auf das Autodach, zieht eine Plane darüber und zurrt sie mit einem Strick fest. Der Kofferraum des Niva ist ebenfalls voll mit Sachen, doch in der rechten Ecke gibt es einen Spezialplatz, dort stellt der Schäfer eine leere Holzkiste hin: „Das ist die Rettung für meine Lämmer“, erklärt er, „heute machen sich ja nicht nur erwachsene Schafe auf die Reise, sondern auch kleine, die erst ein oder zwei Tage alt sind. Die sind noch ganz schwach. Wenn ich sehe, dass ein Schäfchen weit zurückbleibt und nicht laufen kann, dann setze ich es in diese Kiste.“ Während der Schäfer alles zusammenpackt, machen sich sein Sohn, sein Helfer und der Schaftreiber auf den Weg: Sie treiben die Herde aus dem Stall. Zwei Hunde gesellen sich dazu.
Unsere tausendköpfige Herde läuft auf einem von anderen Herden ausgetrampelten Pfad. Links ein kleiner Kanal, in dem ein Bach fließt, rechts der Abstieg zu den Wiesen, auf denen die Schafe während der Rastpausen weiden können. Die restliche Zeit lässt man sie nicht ans Gras, „sonst dauert unser Umtrieb einen Monat“, lacht der Helfer.
Chalitbej ist 50 Jahre alt. Zwei Monate im Jahr wohnt er im Winterquartier im Tal, dann fährt er kurz in die Berge auf Heimaturlaub, dann wieder zurück zur Herde. „Hin und her, hin und her … So geht es das ganze Leben … Wenn ich zu Hause bin, denke ich die ganze Zeit, wie es wohl meinen Schafen geht. Mache mir Gedanken, wie ich alles am besten mache mit dem Futter, mit dem Schutz vor Krankheiten …“, sagt der Schäfer leise, wie zu sich selbst, doch plötzlich besinnt er sich. „Denken Sie nicht, dass ich jammere. Auf keinen Fall. Das ist mein Leben, und ich bin froh, dass ich es habe.“
Terroristen auf der Weide
Während die Herde sich langsam vorwärtsbewegt, geht der Schäfer herum und schaut, welche Lämmer er in den Kofferraum setzen muss. Er findet vier. Zwei setzt er in die „Wiege“, zwei beim Schaftreiber in die Satteltaschen. Chalitbej füttert seine Hunde Rex und Linda mit Brot, das seine Frau gebacken hat. „Waffen dürfen wir nicht mitnehmen, die Hunde sind der einzige Schutz vor wilden Tieren.“ Auf meine Frage, ob es Fälle gegeben hat, wo sie eine Waffe gebraucht hätten, erinnert sich der Schäfer an eine Begebenheit.
„Unser Dorf Gagatli liegt direkt an der Grenze zu Tschetschenien. 1999 haben Terroristen versucht, meinen Aul zu überfallen. Wir waren ihr erstes Hindernis auf dem Weg nach Dagestan. Wir hatten wenig Waffen, nur ein paar Maschinenpistolen, die wir damals auf dem Schwarzmarkt wiederum Tschetschenen abgekauft hatten. Dieser Markt war die Grenze zwischen unserem Dorf und Tschetschenien. Die Pistolen hatten wir gegen Schafe eingetauscht. So erfuhren wir, dass es in Tschetschenien sehr viele Waffen gibt.
Als wir rauskriegten, dass Terroristen an die Grenze unseres Dorfes heranrückten, beschlossen wir Dorfbewohner, ein paar Stützpunkte mit sieben, acht Leuten aufzuschlagen. Terroristen gab es etwa zehnmal so viele. Wir schossen aus allem, was wir hatten, weil sie uns umzingelten und den Kreis enger zogen. Im Gegenzug schossen sie aus Maschinengewehren und AGS – das ist so ein automatischer Granatwerfer. Wir hielten uns zwei, drei Tage, bis die Soldaten kamen. Dann bewachten wir bis Ende Dezember zusammen mit ihnen das Dorf. Wir haben durchgehalten“, beendet der Schäfer seine Erzählung.
Die ersten vier Tage des Auftriebs durchwandern wir eine Ebene. Am ersten Tag legen wir etwa 30 Kilometer zurück, in den nächsten Tagen 20 bis 25. Am dritten Tag kommen wir in Chassawjurt an. Hier gibt es spezielle Bäder für Schafe. Sie werden in Wasser gebadet, in das ein Zeckenmittel gemischt ist, das die Herde den ganzen Sommer über schützt. Die Entfernung, die wir vom Winterquartier bis zur Sommerweide zu Fuß zurücklegen müssen, beträgt 176 Kilometer. Der Auftrieb geht manchmal langsam, manchmal schnell voran. Mittagspause ist um elf oder zwölf Uhr.
Schwierigkeiten im Schäferleben
Der Schäfer, der Sohn, der Helfer und der Schaftreiber tischen auf: ein großes Stück Käse, frisches Brot, Trockenfleisch und Hauswurst. Ein bisschen Gemüse gibt es, aber das wird kaum eines Blickes gewürdigt. „Wozu Gemüse, wenn es so gutes Fleisch gibt?“, lacht der Schäfer. „Meine Frau schimpft immer, dass ich mir mit lauter Fleisch und Teig den Magen verderbe, aber ich sage immer: ‚50 bin ich geworden, ohne je über den Magen zu klagen!‘ Und weißt du, was das Geheimnis ist? Ich liege nicht auf der Couch. Wenn man viel arbeitet, ist der Körper gesund, dazu muss man nicht unbedingt Gemüse essen. Schlecht geht es mir, wenn ich zu lange zu Hause bin. Aber hier fühl ich mich wohl, unterwegs bin ich nie krank.“
Den Weg, über den der Schäfer seine Herde führt, hat sein Großvater schon vor der Revolution ausgewählt, als er noch ganz jung war. In der Sowjetzeit war der Viehtrieb über diese Route verboten, den Transport der Schafe vom Tal in die Berge und zurück hat die Kolchose erledigt, mit einer speziellen Technik. Heute kann man sich auch einen KAMAZ mieten, die Herde aufladen und hinauffahren, aber das ist für Chalitbej unerschwinglich.
Dass sich die Regierung nicht kümmert, ist dem Schäfer egal: „Natürlich wäre es wünschenswert, dass es staatliche Unterstützung gäbe, ich würde Schäfer einstellen und hätte selbst Zeit für andere Dinge, doch es ist auch so nicht schlecht. Meine Vorfahren haben früher ohne staatliche Hilfe Schafe gezüchtet.“
Der Tag eines Schäfers geht so früh zu Ende, wie er beginnt. Schon gegen sechs Uhr abends bereiten wir das Nachtlager unter freiem Himmel vor. Der Schäfer spannt eine Plane über Holzpfähle, der Sohn zündet ein Feuer an, der Helfer stellt Essen und Geschirr bereit, der Treiber hält die Herde zusammen und spannt die Pferde aus.
Der Verlust der ersten drei Tage: ein braunes Schaf. Der Schäfer hat es fast die ganze Strecke im Kofferraum transportiert, doch es ist nicht wieder auf die Beine gekommen. Er nimmt es vorsichtig auf den Arm und berät sich mit seinen Begleitern, was man da machen soll. Sie kommen zu dem Schluss, dass das Schaf den nächsten Morgen nicht erlebt. Um es von seiner Qual zu erlösen, bringt es der Schäfer hinter die Felswand und schneidet ihm dort die Kehle durch. Er begräbt es gleich dort und kommt zurück. Seine Laune ist sichtlich getrübt. Wir sitzen am Feuer und spülen das Fleisch mit Tee hinunter.
„Was ist das Schwerste am Schäferleben?“, frage ich. „Wenn ein Schaf stirbt. Du siehst, wie es leidet, Schmerzen hat, und kannst nichts tun. Es bleibt dir nichts anderes übrig als das, was ich heute getan habe. Nicht, weil es mir leid um das Geld wäre, das ich mit ihm hätte verdienen können, das ist etwas anderes. Viel Gewinn hab ich sowieso nicht. Mit dem Geld, das ich mit dem Verkauf von Schaffleisch verdiene, kaufe ich Heu und Gerste. Ich versorge die Familie mit Essen und Wohnraum und versorge die Herde – das ist schon mein ganzer Gewinn.“ Chalitbejs Familie ist nach hiesigen Maßstäben klein: ein Sohn, zwei Töchter. Er hatte noch einen Sohn, einen älteren. Der starb mit 16 Jahren infolge einer Fehldiagnose. Seine Frau, die Mutter seiner Kinder, starb ebenfalls, 2009 an Krebs. „Meine erste Frau hat oft mit mir zusammen Schafe gehütet. Sie ging in die Berge und ins Tal. Die jetzige unterstützt mich auch in allem. Ich verstehe schon, dass es nicht leicht ist, die Frau eines Schäfers zu sein, aber ohne ihre Unterstützung würde ich nicht zurechtkommen.“
Im Dorf Gagatli hat Chalitbej ein Haus, in dem er ganz wenig Zeit verbringt. Während der Weidezeit im Sommer holt er von Gagatli Lebensmittel, oder er fährt hin, wenn jemand heiratet oder begraben wird. Im Aul leben gut 1000 Menschen: Fast alle sind mit Chalitbej verwandt und betreiben Viehzucht. Früher fuhren viele für Zuverdienstmöglichkeiten in den Norden oder auf Baustellen, doch jetzt macht kaum jemand einen Nebenjob. „Die Bewohner meines Dorfes sind mal nach Sotschi gefahren, als dort die Olympischen Spiele vorbereitet wurden. Haben irgendwas gebaut. Haben ein paar Monate gearbeitet und dann keinen Lohn bekommen. Der Brigadier ist mit dem Geld durchgebrannt, hat ihnen die Leitung erklärt. Sie konnten nichts machen, seitdem fahren unsere Männer nicht mehr auf Baustellen. Da sind sie lieber zu ihren Schafen zurückgekommen“, lacht der Schäfer.
Ein Rudel Schakale und ein einsamer Wolf
Die fünfte Nacht des Auftriebs bricht am Fuße der Berge über uns herein. Wir übernachten wieder unter freiem Himmel, neben uns rauscht ein breiter Fluss. Der Wind ist deutlich stärker und kälter als in der Ebene. Die Plane, die als Dach dient, reißt es ständig herunter, und plötzlich beginnt es, wie aus Eimern zu schütten. Die Fotografin und ich dürfen uns im Auto verkriechen, die anderen achten nicht auf den Regen.
Da dringt vom nahen bewaldeten Hügel ein Bellen herüber, wie von Hunden. Man hört, dass es ein großes Rudel sein muss. Unsere Gruppe lässt sofort alles fallen und horcht konzentriert auf. Wieder hört man das Bellen. Als erstes echot der Schäfer. Er formt die Hände zu einem Trichter und gibt genau denselben Laut von sich, in die Richtung gewandt, woher das Bellen kommt. Nach ihm wiederholen sein Sohn, der Schaftreiber und der Helfer genau dieselben Laute. Diese Rufe gehen ein paar Minuten so weiter. Als sie sicher sind, dass das Rudel in den Bergen nicht mehr zurückbellt, widmen sich die Leute wieder ihren Beschäftigungen.
Da haben die Schakale den Geruch der Schafe gewittert und überprüft, ob die Herde bewacht ist. Wenn man die nicht abschreckt, ihnen nicht zeigt, dass viele Menschen bei den Schafen sind, greifen sie möglicherweise an. Schakale sind schwächer als Wölfe, aber wenn es viele sind, sind sie gefährlicher. Wölfe greifen einzeln an, höchstens zu zweit. Sie machen das leise. Manchmal sieht man erst bei Tagesanbruch die gerissenen Schafe. Das Gefährliche am Wolf ist, dass er bei einem Angriff mehrere Schafe reißen kann. Eines nimmt er mit, und ein paar lässt er tot liegen. Er beißt direkt in die Kehle, die Schafe bekommen nicht einmal mit, was geschieht. Die Schakale hingegen sind immer laut, man kann sie mit Lärm auch abschrecken.
6. Tag: Das gefährlichste Stück Weg
Am sechsten Tag des Auftriebs sind wir in den Bergen. Und zwar ganz plötzlich: Die ganze Zeit gingen wir eben dahin, und auf einmal tut sich ein steiler Abhang vor uns auf, und ein ebenso steiler Aufstieg führt auf den Berg daneben. Zwischen den Bergen fließt ein Bach, über den, unten angekommen, zuerst der Helfer springt, woraufhin ihm die ganze Herde folgt. Aufstieg wie Abstieg sind schwierig. Der Nebel bringt Feuchtigkeit, wie nach einem Regenschauer. Der Abstieg erscheint fast vertikal, man kann jeden Moment abrutschen und in die Tiefe stürzen. Festen Halt gibt es keinen, und das einzige, worauf du dich verlassen kannst, ist der Wanderstock. Der muss so stabil sein, dass er einen ganzen Menschen aushält. Wir steigen hintereinander hinab. Keine Sicherung. Am Grund der Schlucht kommt es uns vor, als sei das Schlimmste vorbei, denn der Aufstieg ist nicht so steil. Die Knie schlottern nach dem Abstieg, die Hände sind müde vom andauernden Aufstützen auf den Stock. Beim Aufstieg haben wir Angst zurückzublicken.
Am schnellsten überwinden die Schafe die Strecke. Der Schäfer sagt, das sei nur am Anfang der Wanderung so, später würden auch die Schafe müde. So ist es dann auch. Am zweiten Gipfel angekommen, sehe ich, wie sich die Schafe auf dem Plateau verteilen und im Stehen einschlafen.
„Wir müssen uns beeilen. Wenn sich der Nebel senkt, stecken wir lange fest“, mahnt Chalitbej zur Eile, und der Nebel lässt nicht auf sich warten. Er ist so dicht, dass man auf ein, zwei Meter Entfernung nichts mehr sieht. Die Herde kommt jetzt nur ganz langsam voran. Die Schafe können sich im Nebel verlaufen oder in Büschen stecken bleiben und verloren gehen. Wenn sie in den Nebel eintauchen, verlassen sich die Schäfer nur auf ihre Intuition.
Als wir durch das Nebelfeld hindurch sind, stehen wir wieder vor einem Berg. Er ist nicht so steil, dafür viel höher als die ersten beiden. Oben verspricht man uns die langersehnte Rast und ein Nachtlager. Die Bezwingung dieser Höhe nimmt weitere eineinhalb Stunden in Anspruch.
Auf 2700 Metern
Die Nacht in den Bergen ist ganz anders als im Tal und sogar im Vorgebirge. Hier hängen die Sterne tiefer, es sind mehr, die Luft ist sehr dünn, und die Übelkeit wird zum ständigen Begleiter. Mitten in der Nacht kommt starker Wind auf, der fast unser Zelt in den Abgrund trägt.
Die Müdigkeit ist so bleiern, dass man weder Kälte noch Höhenangst verspürt. Man findet sich damit ab, dass man jederzeit fallen kann, verlässt sich vollkommen auf den Wanderstock, steigt gemächlich von einem Berg auf den nächsten. Die Ziegen klettern hier wirklich über Felsen, auf denen fast keine Vorsprünge sind, die Schafe können diagonal auf einem Berg stehen.
Dann hast du es bis zum Weideplatz geschafft, denkst daran, dass du 176 Kilometer hinter dir hast und bist stolz.
Der Schäfer atmet indessen erleichtert auf und beginnt, die Sachen auszupacken. Hier wird er fast fünf Monate verbringen, und man sieht, er ist glücklich. Er hat inzwischen noch zwei Lämmer verloren, die zu klein für einen so schwierigen Weg waren. Chalitbej lässt den Helfer bei der Herde und fährt mit dem Schaftreiber nach Gagatli. Dort wartet heißes Chinkal auf ihn, Tschudu und ein Bad. Bevor wir gehen, machen wir ein gemeinsames Foto und lassen Schlafsack und Thermosflasche zurück für die, die sie notwendiger brauchen. „Kommt im Herbst wieder, runter geht’s leichter als hoch“, sagt der Schäfer lachend zum Abschied.