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Wege in die Bundesrepublik
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ZITAT #11: „Es gibt keinen Tiefpunkt, es ist der freie Fall ins Bodenlose“
Putins große Jahrespressekonferenz fand am gestrigen Donnerstag, 17. Dezember 2020, online statt, mit nur wenigen Journalisten vor Ort – wegen Corona. Aus seiner Residenz in Nowo-Ogarjowo heraus sprach der Präsident zu unterschiedlichen Themen, lobte etwa die Corona-Strategie der russischen Regierung und zeigte sich verhalten erwartungsvoll, was die russisch-amerikanischen Beziehungen unter Biden betrifft.
Mit besonderer Spannung war jedoch erwartet worden, was der russische Präsident zur Vergiftung Nawalnys sagen würde. Erst kurz vorher hatte ein internationales Recherchenetzwerk, unter anderem mit The Insider und Bellingcat, berichtet, dass es acht FSB-Mitarbeiter gewesen seien, die Nawalny vergiftet und außerdem bereits jahrelang beschattet hätten. Das Video, das Nawalny daraufhin ins Netz stellte, hat bereits rund 15 Millionen Aufrufe.Putin wies alle Anschuldigungen zurück: „Wer ist er schon?“, sagte er über Russlands bekanntesten Oppositionspolitiker. „Wenn man das [Nawalny ermorden – dek] gewollt hätte, dann hätte man es auch zu Ende geführt.“ Die Informationen der Journalisten stammten eindeutig von US-amerikanischen Geheimdiensten, so Putin weiter, es gehe darum, Russland damit anzugreifen.
Beweis für die Unschuld des Kreml? Oder einfach erwartbare Strategie? Der renommierte Politologe Sergej Medwedew jedenfalls hat eine ähnliche Reaktion vorausgesagt – und beschreibt, warum sich nichts ändern wird:
[bilingbox]Fürs Protokoll: Die Vergiftung von Nawalny ist scheußlich. Die Recherche einfach ein Traum – Respekt vor allen Mitwirkenden, und doppelt Respekt für den Mut von Roman Dobrochotow, der zudem noch in Russland geblieben ist. Der FSB ist urkomisch (wie auch all seine früheren Inkarnationen) – am liebsten würde man die Coen-Brüder einen Film über ihn drehen lassen.
Und trotzdem möchte man fragen: So what? Was haben wir denn Neues erfahren? Dass sie Nawalny auslöschen wollten? Dass der FSB dahinter stand? Dass aus der bedrohlichen Organisation von einst eine kriminellen Bude geworden ist? Mich wundert, dass meine Kollegen und lieben Freunde schon zwei Tage lang schreiben, dass „ein neuer Tiefpunkt erreicht ist“ und „die Welt nicht mehr so sein wird wie vorher“, dass das mehr ist, als die Skripals und die Boeing und dass der Kreml sich von diesen Enthüllungen nicht erholen wird. Really? Da kommt einem plötzlich der freundliche Captain Renault aus Casablanca in den Sinn, wie er im Restaurant Rika wütend ruft: „I'm shocked, shocked to find that gambling is going on in here!“
Die traurige Wahrheit ist, dass diese Recherche – so exzellent sie auch ist – nichts ändern wird: nicht in Russland und erst recht nicht im Westen. Die, die den Machthabern nicht glauben, fühlen sich in diesem Unglauben bestätigt – auch wenn diese Recherchen nicht nur das traditionelle Nawalny-Publikum betreffen. Für die meisten Russen wird es eine „undurchsichtige Sache“ bleiben und einе „Attacke im Informationskrieg“ – sie sind zu apathisch, gleichgültig und konformistisch und werden im Neujahrstrubel nicht darauf reagieren. So, wie sie auch schon auf die Vergiftung selbst nicht reagiert haben oder auf die Selbstverbrennung der Journalistin Irina Slawina.Die Menschen sterben bei uns zu Tausenden an Covid still vor sich hin, was ist da schon eine Vergiftung. Für den Westen ist es eine innere russische Angelegenheit – anders als bei der Boeing, wo 298 ausländische Staatsbürger gestorben sind, und anders als bei den Skripals, wo Russland chemische Waffen auf dem Territorium eines NATO-Mitglieds einsetzte. Neue Sanktionen wird es nicht geben, denn der Kreml hat längst alle roten Linien überschritten und praktisch einen Freibrief bekommen, innerhalb der Grenzen der ehemaligen UdSSR (außer anscheinend dem Baltikum) alles zu tun, was er will. Bei Russland winkt man nur noch ab, man hat ja auch genug eigene Probleme. Und so wird der Kreml weiterhin mantraartig „Provokation“ und „Ihr-lügt-doch-alle“ herunterspulen und einen dabei weiter mit starren Fischaugen anglotzen.
Was den Tiefpunkt angeht: Hier gibt es keinen Tiefpunkt, es ist der freie Fall ins Bodenlose. Wer wird Russland aufhalten, wer traut sich überhaupt, einem Land mit Atomwaffen etwas zu sagen?
Also noch einmal: Riesenrespekt an die Kollegen, volle Unterstützung für Alexej – doch die Welt bleibt dieselbe, und Russland wird seinen freien Fall ins Bodenlose fortsetzen.~~~For the record. Отравление Навального чудовищно. Расследование феерично — респект всем, кто его проводил, и дважды респект за смелость Роман Доброхотов, который остается при этом в России. ФСБ комична (как и все их предыдущие инкарнации, Бошировы и Луговые) — больше всего хочется, чтобы про них сняли кино братья Коэны. […]
И все же хочется спросить: but so what? Что нового мы узнали? Что Навального хотели уничтожить? Что за этим стояла ФСБ? Что некогда грозная организация превратилась в криминальный балаган? И меня удивляют коллеги и добрые друзья, которые уже вторые сутки пишут, что "пробито новое дно" и "мир никогда не будет прежним", что это больше, чем Скрипали и Боинг и Кремль не оправится от этого разоблачения. Really? Вспоминается милейший капитан Рено из "Касабланки", гневно восклицающий в ресторане Рика: I'm shocked, shocked to find that gambling is going on in here!
Печальный факт состоит в том, что это расследование, сколько бы блестящим оно ни было, ничего не поменяет — ни в России, ни тем более на Западе. Те, кто не верит власти, укрепятся в своем неверии, даже если это расследование выйдет за пределы традиционной аудитории Навального. Для большинства россиян это будет "мутное дело" и "атака в информационной войне" — они слишком апатичны, безразличны и конформны и не отреагируют на это в новогодней суете, как не отреагировали на само отравление Алексея или на самосожжение Славиной. У нас люди молча тысячами умирают от ковида, какое там отравление. Для Запада это внутреннее дело России — в отличие от Боинга, где погибли 298 иностранных граждан, и от Скрипалей, где Россия применила химоружие на территории члена НАТО. Ни к каким новым санкциям это не приведет, Кремль уже давно перешел все красные линии и практически получил карт-бланш на любые действия в границах бывшего СССР (кроме, видимо, Балтии), на Россию махнули рукой, своих проблем хватает. И власть будет все так же привычно талдычить "провокация" и "всевыврети", глядя немигающими рыбьими глазами.
А дно — дна здесь нет в принципе, это свободное падение в пустоте, […] кто посмеет что-либо сказать стране с ядерным оружием?
Так что еще раз: огромный респект коллегам, лучи поддержки Алексею — но мир останется прежним, […] и Россия продолжит свой полет в пустоту.[/bilingbox]Weitere Themen
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4. Advent: Bunin, 10. Band
Advent, Advent auf dekoder: Jeden Adventssonntag zünden wir hier zwar kein Kerzchen an, aber Gnosenautoren und Klubmitglieder geben ausgesuchte Geschenk-, Lese- oder einfach Kulturtipps.
Am vierten Advent widmet sich Thomas Wiedling, Klubmitglied und Literaturagent, Iwan Bunin und dem Phänomen der Neuübersetzung von Klassikern – gut nachzuerleben bei den diesjährig verschärften Bedingungen unterm Weihnachtsbaum. Ein Lockdown-tauglicher Geschenktipp, zu bestellen beim Verlag, in der Buchhandlung Ihres Vertrauens oder bei Ihrem lokalen Online-Händler.
Die Bunin-Ausgabe, die im Dörlemann-Verlag erscheint, ist etwas Besonderes: Sie präsentiert das Werk chronologisch, beginnt jedoch mit einer Ausnahme. Der schmale Eröffnungsband Ein unbekannter Freund (2003) setzt quasi mitten im Werk Bunins ein, mit einer einzigen Erzählung von 1923 sowie Bunins Eindrücken der Nobelpreisverleihung von 1933. Außerdem ist dieser Band noch nicht von Dorothea Trottenberg übersetzt wie alle folgenden, sondern von Swetlana Geier, die zu einer ganz anderen Generation von Literaturübersetzerinnen zählt. Als wolle diese Bunin-Ausgabe gleich zu Anfang selbst vorführen, dass Klassiker für jede Generation neu übersetzt werden sollten.
Die Stafette wird mit Band 2 (2005) übergeben, Bunins Revolutionstagebuch von 1918/19 Verfluchte Tage. In der editorischen Reihenfolge eine erneute, aber freilich würdige Ausnahme und ein nötiger Paukenschlag, denn diese fast berühmteste Publikation Bunins ist in Trottenbergs Deutsch eine Erstübersetzung. So wie in den Folgebänden viele Erzählungen Bunins zum allerersten Mal auf Deutsch erklingen. Das ist eine weitere Besonderheit dieser Bunin-Ausgabe.
Trottenberg übernimmt den Übersetzungsstab von Geier, doch sie übernimmt nicht Geiers Ton. Sie schlägt einen eigenen an, der aufs Erste gar nicht so geschmeidig zu klingen scheint wie bei Geier. Und hier sind wir bei der nächsten Besonderheit dieser Ausgabe: Sie lässt den Leser nicht nur über diese wunderbaren Übersetzungen staunen, ganz egal, ob von Geier oder Trottenberg. Sondern sie lässt den Leser auch über eigene Lese- und Hörgewohnheit staunen. Wer die russische Literatur liebt, dessen Lesegehör hat sich meist an den großen russischen Klassikern gebildet. Im Russischen werden Erzählungen „kleine Prosa“ genannt im Gegensatz zur „großen Prosa“ des Romans. Und nun kommt mit hundert Jahren Verspätung diese großartige Bunin-Ausgabe daher mit ihrer „kleinen“ Prosa und flüstert ins Ohr: „Vergiss, woran du dich bisher geschult hast, vertraue mir. Ich will dich nicht umschulen, doch ich will dir die seltene Gelegenheit geben, nochmal neu an und mit mir zu wachsen.“
Und noch etwas ganz Besonderes an dieser Bunin-Ausgabe: Jeder einzelnen Textübersetzung liegt quasi die russische Urfassung, möglichst nah am Entstehungs- oder Erstveröffentlichungszeitpunkt, zugrunde – und nicht spätere Bearbeitungen durch Bunin. So wie die gesamte Bunin-Ausgabe bei Dörlemann – mit den genannten Ausnahmen – Band für Band Bunins Schaffensjahren und -perioden chronologisch folgt und nicht der Veröffentlichungsreihenfolge durch Bunin selbst. Und das erlaubt eine buchstäblich atemberaubende Lektüre, ähnlich dem Nacheinanderhören nach opus-Zahl und Nummerierung von allen Streichquartetten eines Komponisten (um im Vergleich mit einer „kleinen“ Form zu bleiben). Bei Schriftstellern sind opus-Zahlen unüblich, doch bei der Dörlemann-Ausgabe helfen die Jahreszahlen außen auf den Bänden.
Wer zum ersten Mal zu Bunin greift, darf aber – ausnahmsweise – gern mit dem neu erschienenen zehnten Band Leichter Atem. Erzählungen 1919 beginnen. Darin fällt der Übersetzerin das Atmen ganz besonders leicht. Und dem Leser das Versprechen, danach gleich von ganz vorne anzufangen mit dem ganzen Bunin.
Thomas Wiedling vertritt als Literaturagent eine Vielzahl russischer Autoren außerhalb Russlands, darunter auch – seit einer komplizierten Klärung von Bunins Rechtsnachfolge vor einigen Jahren – das Werk von Iwan Bunin außerhalb Russlands und Frankreichs.
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„Wer gehen will, geht leise“
Die Silowiki-Strukturen scheinen nach wie vor loyal zum Machtapparat von Alexander Lukaschenko zu stehen. Nur vereinzelt kündigen Leute der Spezialeinheit OMON, Milizionäre und andere ihre Arbeit auf. Häufig, weil sie die brutale Gewalt, die von den Sicherheitsleuten ausgeht, nicht mehr mittragen wollen.
Dass auch für sie die ständige Belastung und der psychische Druck hoch sind, zeigt dieses Interview, das das Medienportal tut.by mit einem ehemaligem Mitarbeiter der Truppen des Inneren geführt hat. Er bat darum, anonym zu bleiben. Das Gespräch mit ihm zeigt auch, welche Rolle Korpsgeist und ideologische Schulung in den Reihen der Silowiki spielen und mit welchen Folgen derjenige rechnen muss, der die Loyalität aufkündigt.
N.N.: Die, die gehen, versuchen es leise zu tun, damit ihnen nichts Schlimmeres widerfährt.
Nach den Wahlen schrieb ich ein Entlassungsgesuch. Es dauerte mehrere Wochen, bis die Formalitäten abgewickelt waren und ich offiziell vom Dienst befreit war. Währenddessen wurde ich meines Amtes enthoben und war irgendwann bereits nicht mehr an Einsätzen beteiligt [Auflösung von Demonstrationen – Anm. der Redaktion]. Jetzt kann ich über mich sagen: Ich war in einer Führungsposition tätig. Ab dem 9. August wurden wir bei den Protesten eingesetzt. Natürlich waren wir immer darauf vorbereitet – schließlich waren wir Einsatzkräfte des Innenministeriums. Aber die Vorbereitung erfolgte im Rahmen der Gesetze. In den ersten Tagen waren das gesamte Innenministerium, die Einsatztruppen des Inneren und das Militär, das heißt die Offiziersschüler der Militärakademie, an der Auflösung der Demonstrationen beteiligt. Wir hatten sie schon vor der Wahl geschult und ganz gezielt vorbereitet. Aber niemand hätte gedacht, dass es so weit kommen würde. Am späten Abend des 9. August war ich auf der Nemiga Straße, wir waren in Uniform, trieben die Leute auseinander, nahmen aber niemanden fest. In den nächsten Tagen, als ich noch im Dienst war, war unsere Einheit in Bereitschaft, wir saßen im Zentrum von Minsk und warteten auf unseren Einsatz. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass es zu einem solchen Ausmaß an Gewalt kommen würde.
Wir erfuhren es einige Tage später, als Berichte darüber im Internet erschienen. Und ich hörte viel von meinen Kollegen, die an anderen Standorten eingesetzt waren. Nach dem Dienst kam ich gegen drei Uhr nachts ins Revier, schaltete das Telefon ein, sah mir alles an, analysierte die Lage. Und mir war sofort klar: Das war erst der Anfang. So viel ungerechtfertigte Gewalt! In dem Moment verlor das Ganze für mich seinen Wert, unsere Abzeichen waren mit Schande befleckt, und ich entschied, dass ich nicht länger Teil davon sein wollte. Die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit war für mich die Grundlage meines Dienstes, aber, wie sich herausstellte, „ist manchmal nicht die Zeit für Gesetzmäßigkeit“. Ich habe das damals nicht verstanden und verstehe es bis heute nicht.
tut.by: Denken Sie, dass die Gewalt geplant war? Sind die Einsatzkräfte einem Befehl gefolgt oder geriet die Situation einfach außer Kontrolle?
Es kann sein, dass in der Okrestina Straße und an ähnlichen Orten die Leute absichtlich geschlagen und gedemütigt wurden. Was das Verhalten der Einsatzkräfte betrifft, so denke ich, dass das Verhältnis wohl 50 : 50 war. In jedem Fall gab die politische Führung ihr stillschweigendes Einverständnis und versuchte nicht, die Gewalt zu verhindern. Sogar als alles schon an der Öffentlichkeit war: Es war geschehen, und man verschloss davor die Augen. Und natürlich war die gesamte Miliz nun auf der Seite der Regierung, von der man sich Schutz versprach. Sie sehen ja selbst, es gibt kein einziges Strafverfahren gegen Einsatzkräfte. Dazu kommt, dass viele über keinerlei juristische Bildung verfügen. Einige glauben allen Ernstes, dass sie sich in einer Kriegssituation befinden, dass die Proteste von Drahtziehern (aus dem Ausland) gesteuert werden und sie das Land verteidigen. Einer versicherte mir: „Du hast gar nichts verstanden, später wirst Du es verstehen.“
Sie können Eigentum beschlagnahmen oder ein Auslandsreiseverbot verhängen
Sie werden von Ideologen geschult. Die Soldaten befinden sich überhaupt in einer Informationsblase. Abends schauen sie im Fernsehen die Nachrichten. Man bringt ihnen bei, dass an allem die westlichen Drahtzieher Schuld seien. Einige verstehen einfach überhaupt nicht, was vor sich geht. Sie denken über ihre Versetzung in die Reserve nach und wie sie nach dem Wehrdienst leben werden. Alles andere kümmert sie nicht. Und selbst wenn es jemand versteht – wenn du rund um die Uhr in einer in sich abgeschlossenen Welt lebst, wirst du es kaum wagen, deine Meinung laut kundzutun, denn du weißt nicht, was dann mit dir passiert.
Ich hatte einen festen Vertrag, aber auch für mich war es riskant zu gehen, sie hätten mich durchaus schnappen können, oder alles durchsuchen. Die Jungs von der Direktion kamen zu mir, Untersuchungsbeamte, um mit mir zu reden. Auch andere Offiziere sprachen mit mir. Aber letztlich gaben sie mir ein paar Tage Bedenkzeit, und stimmten der Entlassung zu.
Ich wandte mich an Stiftungen und fand zunächst einen Mentor und dann einen Job. Auch ehemalige Kollegen halfen mir. Aber viele glauben nicht ernsthaft daran, dass ihnen irgendwelche unbekannten Menschen helfen können, daher trauen sie sich nicht zu gehen. Insgeheim beklagen sie sich untereinander über den Dienst und die Vorgesetzten, aber sie verlassen sich nur auf sich selbst und halten weiterhin aus.
Wie viele Menschen haben wie Sie den Dienst quittiert? Und was hält die Übrigen davon ab?
Aus meiner Einheit sind nur wenige gegangen, die anderen sind nach wie vor im Dienst. Was sie am meisten hält, ist das Geld. Nehmen wir zum Beispiel einen jungen Offizier mit einem Fünfjahresvertrag. Hat er die Zeit nicht abgeleistet, muss er das Geld für die Ausbildung und seinen Unterhalt zurückzahlen. In welcher Höhe hängt davon ab, wann er geht. Der Betrag beläuft sich auf etwa 1000 Rubel für jeden Monat, den er nicht gedient hat. Von einem Bekannten, der einer anderen Abteilung angehörte, haben sie 80.000 Rubel [knapp 26.000 Euro – dek] verlangt. Das sind utopische Summen, man weiß nicht, woher man die nehmen soll. Aber bezahlen muss man innerhalb eines halben Jahres, dann schreitet das Gericht ein, und es kommt zu Zwangsvollstreckungen, sie können einem vorübergehend Rechte entziehen, Eigentum beschlagnahmen oder ein Auslandsreiseverbot verhängen. Einige Zeit später beginnt die Indexierung [die Anpassung an die Inflation – dek] und die Summe steigt schneeballartig. Nicht jeder hat Verwandte und Freunde, die ihm helfen können. Deshalb halten die Leute still. Der zweite Grund liegt in der langjährigen Betriebszugehörigkeit. Gehst Du, verlierst du deine gesamten Arbeitsjahre [für spätere Rentenansprüche – dek]. Dann sagen sie: Ihr wusstet doch, worauf ihr euch einlasst. Wir wussten es nicht. Es ist immer noch eine Art Frondienst und nicht so rosig, wie es bei der Aufnahme in die Akademie dargestellt wird.
Wie viel haben Sie verdient?
Unsere Gehälter lagen zwischen 900 und 1100 Rubel [300 und 350 Euro – dek]. Bei mir gingen 400 Rubel [130 Euro – dek] für die Miete drauf, weitere 200 Rubel [gut 60 Euro – dek] für Sprit, um zur Arbeit zu kommen, da bleibt nicht mehr viel zum Leben. Es stimmt nicht, dass für die Arbeit bei den Protesten viel Geld gezahlt wurde. Ja, im August gab es einmalige Boni – 500 Rubel [rund 160 Euro – dek] zusätzlich zum normalen Gehalt. Aber selbst beim OMON verdient man keine exorbitanten Summen – viele machen es wirklich aus Überzeugung.
Wie pflichteifrig jemand bei den Verhaftungen ist, hängt weitgehend von der Person ab. Auch hier ist das Verhältnis meiner Meinung nach 50 : 50. Der eine glaubt an westliche Drahtzieher und ist besonders aktiv. Aber die Hälfte tut nur so. Sie denken, ich werde in der Kette stehen mit meinem Schild, aber ich werde nichts tun. Glauben Sie, dass unsere Verwandten nicht festgenommen werden? Doch, das werden sie. Eine Verwandte von mir wurde festgenommen, sie stand da mit Blumen in der Hand. Sie nahmen ihr den Schmuck, das Telefon und sogar den Ehering ab und erklärten, sie bekäme es zurück, wenn sie die Strafe bezahlt.
Wer gehen will, geht leise, damit es keine Probleme gibt
Wie ist es für die Sicherheitsbeamten, erkannt zu werden? Ist das ein schmerzhafter Moment?
Einige schämen sich, andere haben Angst um ihre Familien. Diejenigen, die sich im Recht fühlen, werden einfach wütend. Aber es gibt sicherlich niemanden, dem es egal ist. Das ist echt belastend. Das weiß ich von mir selbst: Ich wollte die Maske nicht abnehmen, und wir haben immer gegenseitig darauf geachtet, dass unsere Gesichter bedeckt waren. Viele haben Angst zu gehen, weil sie nicht wissen, was sie dann tun sollen. Wenn einer nach der Schule zur Militärakademie geht oder sich nach dem Wehrdienst verpflichtet, hat er nichts anderes gelernt. Natürlich hat er dann Angst, etwas Neues anzufangen und sein Leben von Grund auf zu verändern. Viele haben Familie, Kinder, Kredite, Staatsbedienstetenwohnungen – und wo sollen sie dann hin?
Wer gehen will, geht leise, damit es keine Probleme gibt. Für die Hälfte meiner Kollegen bin ich ein Verräter, vor allem für die Führung. Sie werden bis zum Ende für dieses Regime ihren Kopf hinhalten. Viele von ihnen sind über 40. Die haben durch den Dienst vieles erreicht, warum sollten sie es aufs Spiel setzen?
Die Armee wurde geschaffen, um äußere Feinde zu bekämpfen. Nach der Logik derer, die dem System besonders treu ergeben sind, kämpft sie auch jetzt gegen westliche Drahtzieher, die die Leute für ihre Teilnahme an Protestaktionen bezahlen. Ein Teil von ihnen denkt, dass Lukaschenko eine starke Führungspersönlichkeit ist und an der Macht bleiben wird. Der andere Teil glaubt, dass Russland uns bezwingen wird. Aber diese Option ist ihnen auch recht. Wie mir einmal ein Kommandant sagte: „Na und? Führen die Offiziere in Russland etwa ein schlechtes Leben?“
Stimmt es, dass wegen der ständigen Proteste die Einsatzkräfte in Kasernen leben?
Am Anfang lebten wir, das heißt die, die unter Vertrag standen und die Offiziere, tatsächlich in Kasernen. Jetzt sitzen sie hauptsächlich an den Wochenenden in den Kasernen, weil die Proteste am Samstag und Sonntag stattfinden. Und die freien Tage wurden auf Mitte der Woche verlegt, wenn keine Demos stattfinden. Die Kollegen sind sehr müde, sie sehen ihre Familien nicht und können sich nicht wirklich ausruhen. Niemand hatte damit gerechnet, dass sich das Ganze Monate hinziehen würde. Am 10. und 11. August, als es zu größeren Gewaltausbrüchen kam, waren wir in Bereitschaft, aber wir hörten die Explosionen um uns herum. Als ich später all diese Bilder sah, diese Lawine von Gewalt, war ich mir sicher, dass es niemals enden würde. Ich dachte, Lukaschenko würde das Kriegsrecht einführen und alles würde noch schlimmer. Und das war der Moment, an dem ich anfing, darüber nachzudenken, dass ich aussteigen muss.
Haben Sie die Videos im Internet gesehen, in denen die Leute den Einsatzkräften zurufen: „Miliz mit dem Volk“? Wie wird das wahrgenommen?
Mir selbst haben die Leute das entgegengerufen. Aber in dieser Situation funktioniert das überhaupt nicht. Die Stimmung ist sehr angespannt, man passt auf, dass niemand etwas wirft, und dann schreien sie einem ins Gesicht. Jeder muss selbst erkennen, was er tut, und für sich eine Entscheidung treffen. Das kritische Denken muss an das Gewissen appellieren und die Scheuklappen öffnen.
Vor jedem Einsatz stellen sie die Frage: „Wer ist nicht bereit? Vortreten“. Niemand tritt vor. Vortreten ist das Schlimmste. Was kommt dann? Man wird bestraft oder gefeuert oder wer weiß, was passiert. Lieber man fährt mit, irgendwie wird man den Einsatz schon überleben.
Als wir nach Minsk fuhren, hupten uns alle zu. Ich erinnere mich, wie ein Kollege sagte: „Wie sie uns alle hassen“. Aber man denkt: Ich bin ja ein normaler Mensch, ich habe niemanden geschlagen, und dann siehst du die Bilder von der Okrestina … Jetzt verstehe ich, warum die Leute uns so hassen, weil wir die Grenze des Gesetzes übertreten haben, denn das Gesetz gilt jetzt nur noch in eine Richtung, und wenn Du Dich gegen die Herrschenden stellst, hast Du keinerlei Schutz. Und das ist schlimmer als im Krieg. Du lebst und denkst, dass sie jeden Moment kommen und dich für irgendeine abfällige Bemerkung mitnehmen können. Und das Gefühl dieser permanenten Ungerechtigkeit raubt dir nachts den Schlaf.
Die, die dem System treu bleiben, glauben nicht, dass Lukaschenko geht, und sollte er doch gehen, sind sie überzeugt, dass die Armee unter jeder Regierung gebraucht wird. Sie denken, ach, das sitzen wir aus, und dann wird es wie vor der Wahl. Ich glaube, die Regierung wird sich noch ein, zwei Jahre halten. Und dann ist Zahltag.
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Die Schäferhündchen-Frage
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„Ich erlaube mir, ich zu sein“
„Die Geschichte meiner Held*innen ist nicht die Geschichte des Kampfes einer bestimmten Community, sondern der Kampf für ein grundlegendes Menschenrecht – das Recht zu sein.“
Zum Tag der Menschenrechte bringt dekoder eine Fotostrecke über Transgendermenschen von Oleg Ponomarev.
Der 1988 in Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, geborene Fotograf widmet sich in seinen Arbeiten vor allem sozialen und ethnologischen Themen. Auf dekoder erschienen von ihm bisher Sumbur – ein heilsames Durcheinander und Beim Volk der Mari.Gender-Dysphorie ist ein furchtbarer Zustand, der einen dummes Zeug machen lässt. Zum Beispiel im Internet nach Hormonen suchen und sie sich spritzen, bevor man mit Ärzten gesprochen hat. Ich bin einer von ihnen, aber es war der einzige Ausweg. – IGNAT / Fotos © Oleg Ponomarev
Meine Eltern haben mir, bis ich zwölf war, keine Geschlechterrollen aufgedrängt, keine Kleidchen angezogen. Ich fühlte mich als geschlechtsloses Tröpfchen. Mit 15 bin ich von zu Hause weg. Mit 16 erfuhr ich dann, dass es Transgender gibt, und mir war sofort klar, was mit mir los ist. Ich begann, mir den Kopf zu rasieren, und sprach von mir in der männlichen Form. Das hat mich irrsinnig erleichtert. Ich kam in dieser Zeit aufs College, wo mich die Jungs völlig unerwartet akzeptierten. „Hier haben wir ja noch einen Kerl.“ – TIM
Die soziale Geschlechterangleichung begann bei mir mit zehn. Als die Probleme mit meiner Mutter losgingen, dachte ich mir eigene Welten aus, Geschichten, in denen ich lebte.
Meine Adoptivmutter hat mich später vor dem Kinderheim gerettet, wofür ich ihr sehr dankbar bin, doch mit der Familie hat es nicht geklappt.
Im Endeffekt bin ich von dort weg und habe mir Arbeit gesucht. Da musste ich mit dem Manager sprechen. Als wir sprachen, hörte ich, dass seine Stimme durch eine Hormontherapie beeinflusst ist. Wir haben dann viel miteinander unternommen und sind jetzt richtige Freunde. Er hat mir bei der ganzen Hormonsache geholfen. – JURADie Beziehung zu meinen Eltern wurde nach der Geschlechtsangleichung noch besser, wir haben gelernt, miteinander zu reden, und verstanden uns dann auch besser. Das haben auch alle damit verbundenen Schwierigkeiten möglich gemacht. Ich denke, ich hatte großes Glück. Sowohl von meiner Seite als auch von Seiten meiner Eltern bestand ein riesiges Bedürfnis in Kontakt zu bleiben. – ALEXEJ
Es war dann irgendwann klar, dass ich in Chabarowsk nichts mehr verloren hatte. Ich zog zu meinem Freund nach Petersburg. Ich bin ihm sehr dankbar, möchte mich bedanken, dass er immer für mich da war und mich unterstützt hat. Er ist Künstler. So begann meine Webcam-Laufbahn und Karriere als Porno-Bloggerin. – ALISA
Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit meiner Mutter und sie sagte, sie würde weiter Kontakt zu mir haben wollen, würde aber ihrem zukünftigen Mann oder sonstwem in ihrem privaten Umfeld nicht erklären wollen, warum sie einen Kerl mit Bart ihre Tochter nennt. Das ist zwar traurig, aber ich bin froh, dass sie nicht aufhört mich zu lieben. Ja, ich werde nicht bei ihr wohnen, aber sie hat nicht mit mir gebrochen. Ich kenne Leute, denen die Eltern gesagt haben: „Tschüss, ruf uns bitte nie mehr an.“ – MAXIM (Name geändert)
Mit 19 stieß ich auf das Wort Transgender. Es war eine merkwürdige Situation, denn ich war in dieser Zeit verheiratet. Ich war bei Freunden auf einer Feier, und es stellte sich heraus, dass einer der Gäste ein Transmann war. Ich sah ihn – da zog sich etwas in mir zusammen. Er bemerkte meine Reaktion, wir kamen ins Gespräch, ich stellte Fragen, und er sagte, das sei Transgeschlechtlichkeit. Einige Monate später haben mein Mann und ich uns im Frieden getrennt. – NIKITA
Seit meiner Kindheit habe ich mich für alle möglichen Protagonisten von Computerspielen, Filmen und Animationsfilmen interessiert und bin in diese Rollen geschlüpft. Ich habe sie vollständig imitiert, alle Details bis hin zu Mimik und Gestik übernommen, aber es waren immer nur männliche Rollen. – OLEG
Sobald ich mir erlaubte, mich so zu entwickeln, wie es mir angenehm war, begann ich mich wie auf einen Fingerschnips hin zu feminisieren. Ich erlaubte mir, ich zu sein, und dann kam der Moment, wo ich merkte, was ich tat, doch da hatte ich schon keine Angst mehr. Das ist nicht gut oder schlecht – es ist einfach so. Wenn das dann Feminisierung oder Geschlechtsangleichung heißt, okay. Ich wollte mir einfach nur gefallen und nicht das Bedürfnis haben, mein Spiegelbild anzuspucken. Und ich will leben, ohne zusammengeschlagen zu werden. Das war’s. – MARINA
Mit 25 wurde mir klar: Transsexualität geht mich an. Ich weiß nicht, was meine Orientierung ist. Obwohl mir zu Beginn der Geschlechtsangleichung meine lesbische Identität sehr wichtig war, wichtiger als die Identität als Transfrau. Lesbische Transfrau, das kam sogar in Transkreisen nicht so richtig gut an. Warum eine Geschlechtsangleichung vornehmen, wenn dir Frauen gefallen? Was soll ich machen, soll ich mich zerreißen? Was bin ich nur für eine Tscheburaschka! Ich verstehe das bis heute nicht und stelle mich auf meinen Seminaren oft vor mit den Worten: „Guten Tag. Ich heiße Katja. Ich bin eine Tscheburaschka.“ – KATHARINA, Aktivistin bei T-Deistwije (dt. T-Action)
Ich bin jetzt freier und fröhlicher. Und muss vor meinen Eltern nichts mehr geheimhalten oder Brustbinder verstecken. An die einzelnen Schritte der Geschlechtsangleichung denke ich voller Freude und kann es kaum erwarten. In sozialer Hinsicht habe ich keine Probleme: Alle, mit denen ich zu tun habe, nehmen mich so, wie ich bin, nur Körper und Stimme müssen noch in Ordnung kommen. Das Finale der Angleichung wird für mich das Ausbleiben von Fragen, die mir gestellt werden. – SASCHA
Meine Gender-Dysphorie begann, als ich eine Brust bekam. Ich schaute in den Spiegel und mir war klar, dass da was nicht stimmt, wenn ich so aussehe. Wie wenn jemand geschwollene Beine kriegt und merkt, dass da was nicht stimmt und zum Arzt geht, damit der was dagegen tut. Durch die Angleichung kann ich ich sein. Es fällt mir jetzt leichter mit Menschen zu kommunizieren, ich werde nicht mehr als Frau angesprochen und bin dadurch glücklicher. Ich fühle mich jetzt sicherer. – DAMIAN
Fotograf: Oleg Ponomarev
Bildredaktion: Andy Heller
Original: Takie Dela
Veröffentlicht am 10.12.2020Weitere Themen
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In Russland sei es zwar etwas besser als in Honduras, aber etwa so wie in Papua Neuguinea – blickt man auf den Korruptionsindex von Transparency International, wird nachvollziehbar, warum so viele russische Kreml-Kritiker ihr Land solchen Vergleichen unterziehen. Regelmäßig belegt Russland einen Platz im unteren Viertel dieser Rangliste. Und tatsächlich ist Korruption in Russland allgegenwärtig: Laut Meinungsumfragen gehört sie zu den größten Problemen des Landes, außerdem halten nur acht Prozent der Menschen in Russland die Staatsmacht für gerecht.
An diesem neuralgischen Punkt setzt daher auch die Opposition in Russland an: Korruptionsermittlungen des von Alexej Nawalny gegründeten Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) erreichen Millionen von YouTube-Klicks, auch die Recherchen unabhängiger Medien lösen regelmäßig öffentliche Debatten aus.
Der politischen Elite sind solche Korruptionsermittlungen offenbar ein Dorn im Auge: Der FBK etwa wurde im Juli 2020 faktisch zwangsgeschlossen, auch den Investigativmedien werden systematisch Steine in den Weg gelegt.
Inwieweit ist das System Putin eine Kleptokratie? Warum gilt das System als unreformierbar? Warum bleibt das Volk stumm? Und was haben Badeenten und Corgis mit Korruption zu tun? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigt sich dieses dekoder-Dossier.
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„Es lebe Belarus“: Woher kommt die Losung?
Auch am vergangenen Sonntag beim Marsch der Freiheit konnte man wieder hören, wie Demonstranten diese Losung schrien: Shywe Belarus!, Es lebe Belarus! Zudem sieht man den Ausruf auch immer wieder auf Wänden, Plakaten oder Fahnen. Es ist nicht so, dass diese Beschwörungsformel erst seit dem Beginn der Proteste im Sommer in Belarus populär geworden ist. Auf Kundgebungen und Demonstrationen der Opposition gehört sie schon lange zum Standardrepertoire, um seinen Protest gegen Machthaber Alexander Lukaschenko auszudrücken und die Souveränität der Republik Belarus zu betonen.
Aber woher stammt diese Losung eigentlich? Wann hat sie sich entwickelt? Und in welchen unterschiedlichen Kontexten wurde sie seitdem verwendet? Auf diese Fragen gibt der Historiker Denis Martinowitsch für das belarussische Medienportal tut.by eine Antwort.
Der Historiker Alexej Kawka sieht den Ursprung dieses Ausspruchs in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als manche Teilnehmer am Aufstand von Kastus Kalinouski die Parole benutzten: „Wen liebst du? – Ich liebe Belarus. – Ganz meinerseits.“
Doch die genaue Wortkombination trat erstmals am Ende eines Gedichts von Janka Kupala auf: „Ein Klagen, ein Schrei, dass Belarus lebt!“, entstanden in den Jahren 1905 bis 1907, als damals im Russischen Reich gerade eine Revolution im Gange war.
Wer liebt nicht dieses Feld, den Wald,
den grünen Garten, die schnatternde Gans!
Der Wirbelsturm, der hier manchmal klagt –
ist ein Klagen, ein Schrei, dass Belarus lebt!
Aber nicht nur Janka Kupala, auch andere Dichter, die in der Zeitung Nasha Niva publizierten, verwendeten aktiv diesen Spruch. Kein Wunder, dass im Editorial einer Ausgabe von 1911 stand:
„Die belarussische Nationalbewegung wächst, die armseligen, in Vergessenheit geratenen belarussischen Dörfer erwachen zu einem neuen, eigenständigen Leben; unsere Städte und Ortschaften erwachen und werden ihrer nationalen Namen gewahr. Es erwacht die riesige, kriwitschische Weite mit unseren Äckern, Wiesen und Wäldern, und in den Liedern unserer Volkssänger erschallt, dass Belarus lebt!“.Wie wurde diese Losung vor dem Zweiten Weltkrieg verwendet?
Sehr aktiv. Aber bevor wir diese Frage beantworten, machen wir einen kleinen Exkurs.
1917 fand in Minsk der Erste Allbelarussische Kongress statt. Die belarussischen Staatsbeamten betonten immer wieder dessen große Bedeutung. „Diese Volksversammlung hat die zentralen Werte erkennen lassen, die für uns bis zum heutigen Tag Gültigkeit haben: ein eigener Staat, dessen sozialer Charakter und das Faktum, dass nur das Volk, sein Wille, seine kollektive Vernunft und seine politische Führung ein echter Quell der Unabhängigkeit sein können“, erklärte Alexander Lukaschenko 2017.„Erstmals seit vielen Jahrhunderten zeigte das belarussische Volk seinen Willen zur Selbstbestimmung, und erstmals wurde die Idee einer belarussischen Staatlichkeit geäußert. Aus dieser Idee, der Idee des Allbelarussischen Kongresses, geht die Praxis der Allbelarussischen Versammlungen hervor“, sagte Igor Marsaljuk ebenfalls 2017 in einer Sendung des Staatsfernsehens ONT.
Auf eben diesem Kongress erklang die Losung „Es lebe das freie Belarus!“. Bis zum Krieg behielt die Losung in der Belarussischen SSR ihre Bedeutung bei. Nur dann in der Variante „Es lebe das sowjetische Belarus!“. Und auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Losung noch verwendet, wie auf dem Plakat zu sehen ist.Wie wurde die Losung während des Krieges verwendet?
Der Verweis auf die Zeit der nationalsozialistischen Okkupation ist ein Lieblingsmotiv der belarussischen Propagandisten. Leider lässt auch der habilitierte Geschichtswissenschaftler Igor Marsaljuk es nicht aus.
„Man kann sich natürlich auf Verse von Kupala oder Pimen Pantschenko beziehen, in denen diese Wendung vorkommt. Aber wenn wir nicht von der Wortverbindung sprechen, sondern von der Grußform, dann sehen wir in den Statuten des Weißruthenischen Jugendwerks, dass man als Rangniederer auf den Ranghöheren zuging, ihn begrüßte mit: Es lebe Belarus und dabei die Hand zum Hitlergruß hob. Die Antwort darauf war kurz und bündig: Es lebe. Dieser Gruß wurde, genauso wie Sieg heil!, während der deutsch-faschistischen Besetzung der BSSR kanonisch und in weiterer Folge zu einer konstanten, alltäglichen Formel der belarussischen Emigration in Kanada und den Vereinigten Staaten“, sagte Marsaljuk auf CTV.
Während des Krieges gab es im besetzten Belarus tatsächlich eine solche Organisation mit dem Namen Weißruthenisches Jugendwerk. Sie wurde 1943 gegründet, ein Jahr vor der Befreiung. Und ja, ihre Mitglieder grüßten wirklich mit Hitlergruß. Doch auf ihrem Höhepunkt hatte die Organisation gerade mal 12.600 Mitglieder, von denen noch dazu später ein Teil zu den Partisanen überlief. Doch gleichzeitig wurde diese Losung auch auf der anderen Seite der Barrikaden verwendet. „Verfechter der BSSR und später auch Partisanen und Untergrundkämpfer im Zweiten Weltkrieg riefen: ‚Es lebe das sowjetische Belarus!‘“, schrieb 2007 die Zeitung SB. Belarus segodnja. Während des Krieges entstand ein Marschlied der belarussischen Partisanen. Ein kurzes Fragment daraus zitierte E. Tumas vom Lehrstuhl für Chor und Gesang der Belarussischen Universität für Kunst und Kultur. Wir bringen einen längeren Ausschnitt:
Niemals wird erliegen den heftigen Bränden
unser großes und ruhmreiches Land.
Auf in den Kampf für die Heimat, Genosse,
schließ dich den Partisanen an.
Am preußischen Henker
für Dorf und Haus
ruft das Volk zur Rache auf.
Zum Angriff bereit sind die Waldsoldaten,
Granaten krachen, Gewehre donnern –
es lebe Belarus! Es lebe hoch!
Dieser Text ist in der Werksammlung von Pimen Pantschenko zu finden, einem Klassiker der belarussischen Literatur. Es handelt sich um eine Übersetzung des vom russischen Dichter Alexej Surkow verfassten Partisanenmarsches. Der Band, in dem das Gedicht erschien, wurde 1981 in einer Auflage von 17.000 Stück veröffentlicht. Die Losung Es lebe Belarus irritierte niemanden.Wie der Slogan „Es lebe Belarus“ wieder aktuell wurde
Nach dem Krieg wurde die Losung in der Emigration aktiv verwendet, während sie in der BSSR in den Hintergrund trat. Aktuelle Bedeutung erlangte sie durch die Belarussische Nationale Front (BNF) und die politischen Ereignisse Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre. Doch nach dem Machtantritt Alexander Lukaschenkos ereilte die Parole Es lebe Belarus dasselbe Schicksal wie die weiß-rot-weiße Fahne: Die staatlichen Medien begannen, sie ausschließlich mit der Opposition im Allgemeinen und der BNF im Besonderen zu assoziieren. Diese Wahrnehmung herrschte lange Zeit vor und beeinflusste die Haltung eines Teils der Gesellschaft zu nationaler Symbolik und zu dieser Losung.
In den 2010er Jahren kehrte der Slogan wieder auf die Tagesordnung zurück. Die Opposition im ursprünglichen Wortsinn war praktisch zur Gänze vernichtet. Die Parteien (auch die BNF) hörten in diesen Jahren auf, das politische Geschehen mitzugestalten. Gleichzeitig traten anderweitig politisch aktive Belarussen bei politischen Aktionen weiterhin mit nationaler Symbolik auf und skandierten Es lebe Belarus! In der Folge wurden sowohl die nationale Fahne als auch die Losung nicht mehr nur der Opposition zugeordnet. Zumal: Ab dem Jahr 1990 erschien sie regelmäßig als Slogan auf der Titelseite der Narodnaja Gaseta, einer Publikation des Parlaments. Der oben erwähnte Igor Marsaljuk ist übrigens Abgeordneter des Repräsentantenhauses.
Seit den 1990er Jahren ist einiges an Zeit vergangen. Eine neue Generation ist herangewachsen, die bereits im unabhängigen Belarus zur Schule ging, Geschichte und Literatur des eigenen Landes gelernt hat und in der Lage war, selbst ihre Schlüsse zu ziehen. „Für Belarus!, Es lebe Belarus! oder Blühe, Belarus! – im Grunde ist das alles dasselbe mit anderen Worten. Ist es denn so außergewöhnlich oder gar – das fehlte gerade noch – das exklusive Recht bestimmter Parteien, seinem Land Wohlergehen zu wünschen, zu betonen, dass es lebt (und nicht im Sterben liegt und nicht untergeht – Gott bewahre!)? Soll das heißen, ein normaler Mensch, der mit Politik nichts am Hut hat, darf nicht einmal ein paar schöne Worte über sein eigenes Land verlieren?“, stellte 2007 die Zeitung SB. Belarus segodnja die rhetorische Frage. „Heimatliebe, Nationalbewusstsein oder, wenn man so will, ‚Bewusstheit‘ sind heute der Normalzustand jedes Belarussen.“Weitere Themen
Neues belarussisches Wörterbuch
Sound des belarussischen Protests
„Wir brauchen keine starken Anführer – wir brauchen eine starke Gesellschaft“
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Editorial: Warum wir nun auch Belarus entschlüsseln
Foto © Vola Kuzmich/«Support Belarus» Art-action
Seien wir ehrlich: Wir wissen kaum etwas über Belarus. Ich selbst bin 1995 als Student der Osteuropäischen Geschichte und Slawistik zum ersten Mal nach Belarus gereist. Ein Land, von dem ich keinen blassen Schimmer hatte. Überhaupt gab es nur wenige Informationen, die über die üblichen Formeln wie beispielsweise „Freilichtmuseum des Sozialismus“ oder später „die letzte Diktatur Europas“ hinausgingen. Exemplarische Geschichten und Tiefenwissen, die die komplexen kulturhistorischen Verwerfungen dieses faszinierenden Kulturraums sichtbar machen, erzählen, seine quicklebendige zeitgenössische Musik-, Literatur- und Kunstszene erklären, oder eben das über Jahrhunderte eingeübte Ertragen von autoritären Herrschern. Wer von uns hat in der Schule schon gelernt, dass das Magdeburger Stadtrecht auch im belarussischen Kulturraum galt oder dass sich die Geschichte vieler berühmter Juden, die als Warner Bros. oder als israelische Präsidenten Karriere machten, dorthin zurückverfolgen lässt? Und wer hat schon davon gehört, dass es im Belarussischen solche wunderbaren Wörter wie schtschymliwa (шчымліва) gibt, die einen schönen Herzschmerz beschreiben?
Das Land zwischen Warschau und Moskau bietet viele solcher Überraschungen. Über die Jahre der Beschäftigung mit diesem Land ist in mir die Überzeugung gereift, dass Europa nur zusammenwachsen kann, wenn wir uns öffnen und wenn wir nicht nur übereinander lernen wollen, sondern vor allem voneinander. Das hilft nicht nur gegen ermüdende Stereotype und gefährliche Propaganda. Gut recherchierte und aufbereitete Informationen sind die Basis unseres demokratischen Zusammenlebens.
Seit über drei Monaten protestieren die Belarussen gegen den Machthaber, der das Land seit 1994 mit harter Hand regiert. Nicht nur den autoritären Strukturen scheint entgangen zu sein, dass sich die Gesellschaft in den vergangenen Jahren verändert hat und nun einen politischen Wandel einfordert. Von diesem schleichenden Wandlungsprozess haben auch in der EU und in Deutschland wohl nur die wenigsten etwas geahnt. Dass er sich in diesem Jahr auf eine derartig überwältigende, friedliche und kreative Art und Weise seinen Weg bahnen würde, hat wohl überhaupt niemand geahnt. Die Belarussen, die als duldsam und unpolitisch gelten, haben die Welt überrascht – und sich selbst. Noch 2010 sagte mir der Schriftsteller Viktor Martinowitsch: „Es ist nicht so, dass die Belarussen gar keine Veränderung wollten. Sie haben nur einfach Angst davor, die Quelle der Veränderung zu sein. Denn viele kennen all die Geschichten von denen, die politische Wechsel initiiert haben und vom Staat grausam bestraft wurden. Aber wenn wir wirkliche Bürger werden wollen, müssen wir das endlich lernen.“
Offensichtlich sind die Belarussen nun bereit, wirkliche Bürger zu werden. Ein Wandel ist im Gange, dessen politischer Ausgang noch in den Sternen steht. Dennoch dürfte klar sein, dass es sich um einen tiefgreifenden Wandel handelt, der das Land schon heute verändert.
dekoder begleitet die Ereignisse in Belarus bereits seit August mit eigenen Übersetzungen. Aber wir haben beschlossen, das Dossier Werym, Mosham, Peramosham: Proteste in Belarus auch strukturell zu verankern und künftig auszubauen. Die Interviews, Essays, Reportagen oder Erklärstücke, die wir übersetzen und nach dekoder-Art journalistisch und wissenschaftlich kontextualisieren, stammen aus unabhängigen belarussischen Medien, die in den vergangenen Jahren ein hohes Niveau an Professionalität und thematischer Diversität erreicht haben. Diesem Pluralismus wollen wir eine Stimme geben. Zudem werden bekannte Wissenschaftler und Fachexperten im Textformat der Gnose landestypische Phänomene und Entwicklungen erklären – und es geht auch darum, die Ereignisse aus einer wissenschaftlichen Metaperspektive einzuordnen und zu begleiten.
Seit dem 1. November verantworte ich bei dekoder alles, was mit Belarus zu tun hat. Wir freuen uns, dass wir mit dem German Marshall Fund of the United States, der Alfred Toepfer Stiftung und der S. Fischer Stiftung Partner gefunden haben, die diesen Neustart fördern. Und wir haben noch viel vor:
dekoder Belarus soll, das ist unser Ziel, zu einer zentralen und lebendigen Wissens- und Informationsplattform werden, die neugierig macht und die den Wandel in Belarus auf lange Sicht begleitet. Wir sind uns sicher, dass unsere wissbegierigen Leserinnen und Leser diesen Schritt mitgehen werden. Es ist Zeit, dass wir Belarus besser kennenlernen. Auch damit wir uns in Europa besser kennenlernen. Darauf will ich, wollen wir dekoderщiki, mit Euch anstoßen, wie es die Belarussen tun: Будзьма! Budsma!
Euer Ingo
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