Mitte Juli hat Wladimir Putin einen Aufsatz veröffentlicht: Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern. Den Großteil der knapp 40.000 Zeichen widmet der Präsident der ukrainischen Geschichte. In einem Ritt vom Mittelalter bis zur Gegenwart argumentiert er, dass es eigentlich kein ukrainisches Volk gebe – vielmehr seien Russen, Ukrainer und Belarussen Teil einer „großen russischen Nation, eines dreieinigen Volkes“.
Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts hätten einige wenige Nationalisten und ausländische Feinde Russlands eine ukrainische Nation konstruiert. Auch in der Gegenwart würden sie eine Front bilden, die Putin „Anti-Russland“ nennt. Diese Front habe einen „Bürgerkrieg“ im Osten des Landes angezettelt, dem schon über 13.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Russland habe aber „alles getan, um den Brudermord zu stoppen“, und schütze auch jetzt Millionen von Menschen in der Ukraine, die sich gegen den Kurs der ukrainischen „Zwangsassimilation“ stellen. Dieser aggressive Kurs gegen Russland ist laut Putin mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen vergleichbar, „ohne Übertreibung“.
Nachdem der Aufsatz auf der Webseite des Kreml erschienen ist – auf Russisch und Ukrainisch – entlud sich im Internet massive Empörung: Verdrehung von Fakten, Geschichtsfälschung, Pseudowissenschaft, Manipulation, Ideologie – die Liste der Kritikpunkte ist lang. Auf Snob geht auch Konstantin Eggert auf die argumentativen Unzulänglichkeiten des Präsidenten ein. Die wichtigeren Fragen sind für den Journalisten aber die Fragen dahinter: Wie Putin zu solchen Erkenntnissen kommt, ob er selber daran glaubt und was er damit insgesamt bezweckt.
Wladimir Putins Artikel Über die Ukraine hat man in den sozialen Medien Wort für Wort auseinandergenommen. Der Mini-Enzyklopädie der Verdrehungen, Irrtümer und Fälschungen, die Dutzende von Menschen innerhalb kürzester Zeit erstellt haben, ist nichts hinzuzufügen. Allein Putins Hinweis auf die Zeitung Prawda als maßgebliche Quelle für die öffentliche Meinung in Karpatenrussland der 1940er Jahre ist schon bemerkenswert. Ich füge vielleicht noch meine persönlichen Eindrücke von einem Besuch in Kiew vor ein paar Wochen hinzu: Einer Stadt, die unter dem Joch einer nationalistischen Diktatur und „externen Kontrolle“ [Putin spricht von „Kontrolle durch die westlichen Staaten“ – dek] fast zusammenbricht, ähnelt es nicht die Spur.
Warum dieser Text?
Aus dem Artikel geht hervor, dass das von den ukrainischen Behörden eröffnete Strafverfahren gegen den prorussischen Politiker und Putin-Freund Medwedtschuk möglicherweise den Anstoß für den Text gegeben hatte. Eigentlich ist jedoch schon seit 2014 klar, dass es für das Regime Putins nichts Wichtigeres gibt als die ukrainische Frage. Auf dem Weg zu dieser Realität befand sich der Kreml mehrfach an einem Scheideweg, an dem die Geschichte einen anderen Lauf hätte nehmen können: zunächst Ende Februar 2014 bei der Entscheidung, GRU-Spezialkräfte auf die Krim zu entsenden, um das dortige Regionalparlament zu besetzen. Zuletzt am 17. Juli desselben Jahres, als im Fernsehen ein sichtlich erschütterter Putin erschien, nachdem am Himmel über dem Donbass das Passagierflugzeug MH17 der Malaysia Airlines mit fast 300 Passagieren an Bord von einer Buk-Rakete abgeschossen worden war. Putin sagte irgendetwas Unverständliches, das nicht in Erinnerung blieb. Dabei hätte er aber doch eingestehen können, dass im Donbass nicht irgendwelche freiwilligen Bergarbeiter mit Militäruniformen aus dem Army-Shop agierten, sondern russische Streitkräfte. Dass sie das Flugzeug aus Versehen abgeschossen hatten. Und dass Russland jeder Familie, die ihre Angehörigen verloren hatte, eine großzügige Entschädigung zahlen würde.
„Dialog“ – jene besonders raffinierte Form des Sadomasochismus, die hinter der Kremlmauer stets für Gelächter sorgt
Ich war sicher, dass die Regierung Barack Obamas, ganz zu schweigen von den Staatschefs der Europäischen Union, die stets darauf bedacht sind „Russland zu verstehen“, nach einer kurzen Phase der Empörung und der Verabschiedung eines neuen Sanktionspakets (wie viele hat es seitdem schon gegeben?) wie gewöhnlich erneut den „Dialog“ suchen würden – jene besonders raffinierte Form des Sadomasochismus, die hinter der Kremlmauer stets für Gelächter sorgt.
Aber Putin zog es vor, an der Mär vom „Donbass-Volk, das sich erhebt“ festzuhalten. Seitdem ist er eine Geisel der erlogenen offiziellen Version, nach der es nie einen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine gegeben hat. Bei dem Artikel handelt es sich um eine Art kanonische Version der Geschehnisse, eine allumfassende nachträgliche Erklärung, warum Putin schon immer Recht hatte. Denn er kämpfte gegen ein „Anti-Russland“. Dieses neue Mem, das auch von Alexander Dugin stammen könnte (vielleicht ist er der Autor), riecht schon von Weitem nach jenen „analytischen Berichten“ der russischen Geheimdienste mit ihrer seltsamen Mischung aus Messianimus (im Stile „Moskau – das Dritte Rom“), Krämergeist (man rechnete Putin aus, dass die Ukraine in den Jahren 1991–2013 angeblich 82 Milliarden Dollar durch russische Gaslieferungen eingespart habe) und Verschwörungstheorien.
Messianismus, Krämergeist und Verschwörungstheorien
Das ist das Erschreckendste. Schlimm genug, wenn solche schriftlichen Erzeugnisse aus der Feder irgendwelcher Genossen Majore stammen – schließlich sollen die Geheimdienste die Gesellschaft und den Staat doch vor realen Bedrohungen schützen. Aber ein Staatsoberhaupt, das in einer Welt aus Verschwörungsphantasien à la Umberto Eco lebt, das ist eine politische Katastrophe. Und zwar für alle Bürger Russlands, der Ukraine und Belarus‘. Denn im Grunde genommen ist der Artikel ein Freibrief, den Putin sich selbst ausgestellt hat, um in irgendeiner Form gegen eben jenes „Anti-Russland“ zu kämpfen, unter dem in erster Linie die derzeitige ukrainische politische Klasse, aber auch der kollektive Westen verstanden werden. Dieser Artikel ist eine schallende Ohrfeige für alle: für Russen, die bei der Europameisterschaft 2021 die ukrainische Mannschaft anfeuern und dabei aufrichtig glauben, dass „Ukrainer Idioten“ sind und die Krim „uns“ gehört. Für die russische Opposition, die bis auf wenige Ausnahmen versucht hat, auf zwei Stühlen zu sitzen: Putin zu bekämpfen, ohne die Themen der von ihm heraufbeschworenen Konflikte zu berühren – den Neoimperialismus und das Großmachtgebahren. Für die vielen, hauptsächlich europäischen Anhänger der Strategie, um jeden Preis „mit dem Kreml zu reden“. Und natürlich ist es ein „Signal“ für alle Mitglieder der Machtriege, bereit zu sein für neue Härtetests, neue Kriege und neue Sanktionen.
Er denkt, er habe alle gewarnt
Weder eine schnell voranschreitende Pandemie, noch demographische Probleme oder eine geringe Arbeitsproduktivität können Putin von seiner selbst auferlegten historischen Mission abbringen: dem Kampf gegen das in seiner Realität existierende „Anti-Russland“. Und wenn der Präsident morgen die Einstellung des Gastransits durch die Ukraine, die Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk oder gar den Angriff auf Mariupol verkündet, müssen wir uns nicht wundern. Putin denkt, er habe alle vor allem gewarnt.
„Ich möchte mitteilen, dass ich am Freitagabend, dem Tag, an dem die Zerschlagung von Radio Svaboda stattfand, Belarus verlassen habe.“ Dies teilte Waleri Karbalewitsch am gestrigen Sonntag auf Facebook mit. Der Politologe und Historiker schreibt für den belarussischsprachigen Dienst von Radio Liberty regelmäßig politische Analysen. Karbalewitsch befürchtete wohl, selbst festgenommen zu werden. Denn am Freitag hatten Silowiki die Wohnungen von Leuten durchsucht, die mit dem in Prag ansässigen Sender zusammenarbeiten, und zahlreiche freie Mitarbeiter festgenommen. Drei befinden sich aktuell immer noch in Haft. Die Razzien betrafen auch Mitarbeiter des Auslandsenders Belsat und zahlreiche bekannte NGOs im ganzen Land. Bereits seit dem 8. Juli lassen die belarussischen Machthaber die Büros von Medien, Journalisten, Menschenrechtsorganisationen, Parteien und Initiativen durchsuchen, Dokumente und Gerätschaften konfiszieren und Mitarbeiter festnehmen. Gegen vier Mitarbeiter des Online-Mediums Nasha Niva, das aus der ältesten belarussischen Zeitung hervorgegangen ist, wurde bereits ein Strafprozess eingeleitet. Der Vorwurf: „das Organisieren oder Vorbereiten von Aktionen, die die öffentliche Ordnung grob verletzen, oder die Teilnahme daran”. Nasha Niva hat daraufhin die Arbeit vorerst eingestellt. Auch wurden weiter Telegram-Kanäle wie beispielsweise Strana dlja shisni (dt. Ein Land zum Leben) – den die Initiative des inhaftierte Videobloggers Sergej Tichanowski betreibt – als „extremistisch“ eingestuft.
Wie ist die neuerliche Repressionswelle zu deuten? Wollen die Machthaber jegliche Form von Zivilgesellschaft, freie Meinungsäußerung und Dissens in Belarus zerstören und Belarus in einen totalitären Staat verwandeln? Ist die Aktion gar eine Antwort auf die EU-Sanktionen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Journalist Pawljuk Bykowski in seiner Analyse für Naviny.by.
„Gegenwärtig erfolgt eine breit angelegte Operation zur Säuberung von radikal eingestellten Personen“, erklärte der stellvertretende Leiter der Verwaltung Strafermittlung des belarussischen KGB, Konstantin Bytschek. Liest man das Interview dieses Vertreters des KGB aufmerksam durch, dann spricht er zwar von den bekannten „destruktiven Telegram-Kanälen“, doch beziehen sich Bytscheks Worte auch auf einen breiteren Kontext und sind bezeichnend für die Reaktion eines autoritären Regimes, das ins Wanken geraten, aber noch nicht gestürzt ist. Es geht um die Beseitigung jeglicher Protestherde und jeglicher zivilgesellschaftlicher Strukturen, die sich mit diesen solidarisieren könnten, wie auch aller Medien, die zu einem Sprachrohr des Protests werden oder einfach weiterhin mit Empathie für die Opfer der Willkür über die Lage in Politik und Gesellschaft berichten könnten.
Der „Schwarze Donnerstag“
Nach Angaben des unabhängigen Belarussischen Journalistenverbandes (BAJ) sind seit Jahresbeginn 87 Journalisten und Mitarbeiter von Medien festgenommen worden, von denen derzeit 29 hinter Gittern sitzen.
Am 8. Juli wurden an nur einem Tag sieben Journalisten und die Buchhalterin von Nasha Niva festgenommen. Vier von ihnen sind feste Mitarbeiter der Zeitung. Sie werden in einem Strafverfahren der Organisation oder Vorbereitung von Handlungen verdächtigt, die die gesellschaftliche Ordnung grob verletzen. Zwei weitere Mitarbeiter der Redaktion blieben mit unklarem prozessualem Status in Freiheit, mussten aber eine Verschwiegenheitsverpflichtung unterschreiben.
Am 8. und 9. Juli erfolgten auch in den Redaktionen und in den Wohnungen von Mitarbeitern der Brestskaja Gaseta, der Portale Orsha.eu, Media-Polessje, Intex-Press, Bobr.by sowie bei freischaffenden Journalisten, die mit dem aus Polen sendenden TV-Kanal Belsat zusammenarbeiten, Hausdurchsuchungen, bei denen Computer und Smartphones konfisziert wurden.
Media-Polessje teilte mit, dass die Hausdurchsuchungen bei Redaktionsmitarbeitern in Luninzk und Pinsk von Ermittlergruppen des KGB im Rahmen eines Verfahrens wegen eines „terroristischen Aktes“ erfolgt seien.
Darüber hinaus erging am 8. Juli „aufgrund einer Benachrichtigung durch die Generalstaatsanwaltschaft“ der Beschluss, den Zugang zum Portal nn.by (Nasha Niva) zu blockieren: Diese Domaine ist jetzt für belarussische wie auch für ausländische Nutzer gesperrt.
Am gleichen Tag wurde der Nachrichtenredakteur des Portals Perschy rehijon, Oleg Suprunjuk, in einem Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen „der Verbreitung von Informationserzeugnissen, die im Republiksverzeichnis extremistischer Materialien geführt werden“, zu einer Geldstrafe von 590 Rubeln [knapp 200 Euro – dek] verurteilt.
Durch die Unterdrückung unabhängiger Medien wird die Gesellschaft Beiträge lesen, ,die nicht einmal minimalen professionellen Standards genügen‘
Der Belarussische Journalistenverband (BAJ) forderte, „die Vernichtung des freien Wortes [in Belarus] zu stoppen“. „Unter dem Vorwand des Kampfes gegen Extremismus versucht die Regierung, die unabhängigen belarussischen Medien zu vernichten“, heißt es in einer Erklärung des BAJ.
In dem Papier wird prognostiziert, dass durch die flächendeckende Unterdrückung unabhängiger Medien „die Gesellschaft anstelle verifizierter und im Einklang mit der journalistischen Ethik vermittelter Informationen Beiträge lesen wird, die nicht einmal minimalen professionellen Standards genügen“.
Reden mit Kriegsrhetorik
Gleichzeitig erklärte Alexander Lukaschenkoam 8. Juli bei einer Zeremonie zu Ehren der Absolventen der Militärhochschulen und des höheren Offizierskorps, dass ein Krieg heute in der Regel nicht mehr durch eine Aggression von außen begänne: „Er beginnt von innen, damit, dass die Hirne unserer Leute zerstört werden. Er beginnt damit, dass in unserem Land Chaos erzeugt wird, und erst danach werden, wenn nötig, ausländische Truppen hierher entsandt. Davon haben wir gesprochen. Hierin besteht der Kern unserer nationalen Sicherheitskonzeption“.
Die Äußerungen fügen sich in ein propagandistisches Schema, in dem die Proteste keine tieferen Gründe im Land selber haben können
Angesichts des Ortes und der Adressaten lag der Akzent des Auftrittes auf militärischen Aspekten, mit der Rhetorik eines Informationskriegs, der von außen geführt werde. Allerdings fügen sich die Äußerungen sehr wohl in ein propagandistisches Schema, in dem sowohl die Proteste als auch negative Informationen in den Medien keine tieferen Gründe im Land selber haben können, sondern allein als Umsetzung eines Auftrags aus dem Ausland gesehen werden.
In Russland war die Regierung in dieser Hinsicht offener, aber auch raffinierter. Dort wurden die Medien vor allem dadurch unter Kontrolle gebracht, dass die Zeitungen per Kauf übernommen wurden.
Igor Nikolajtschuk, Mitarbeiter des Zentrums für Rüstungsforschung des Russischen Instituts für strategische Studien (RISI), bekannte in einem Interview für die Literaturnaja Gaseta: „Bevor die Krim angeschlossen wurde, erfolgte eine riesige, penible, schmerzliche und nahezu unsichtbare Arbeit, um im medialen Raum in Russland jene Medien auszuschalten, die dem Regime in den Rücken schießen könnten. Der Informationskrieg erfordert eine Übermacht von Medien, die für eine Umsetzung der staatlichen Idee arbeiten. Die propagandistische Katastrophe des ersten Tschetschenienkrieges, als die eigenen Leute [von den Medien] angegangen wurden, ist nicht vergessen und soll sich nicht wiederholen.“
Es geht darum, den nicht loyalen Medien die unternehmerische Basis zu zerstören
Etwas ähnliches versucht man auch in Belarus zu unternehmen, doch geht es hier nicht um die Übernahme von Medien, sondern darum, den nicht loyalen Medien die unternehmerische Basis institutionell zu zerstören, um deren Ausschluss aus dem monopolisierten System, über das Periodika vertrieben werden, und um ein Druckverbot in belarussischen Druckereien.
Die verbleibenden Internet-Medien erhalten Besuch vom KGB oder der GUBOPiK, die Geräte werden konfisziert und die Mitarbeiter der Redaktionen zum Verhör vorgeladen oder in Untersuchungshaft gesteckt. Dadurch werden unabhängige Journalisten gedrängt, ins Ausland zu gehen.
Wird jetzt das Urteil vollzogen, das Makei im April verkündete?
Angesichts der Zerschlagung unabhängiger Medien sind Meldungen über Repressionen gegen Aktivisten und die Zerstörung zivilgesellschaftlicher Strukturen in den Hintergrund getreten. Allerdings wird auch hier das Versprechen von Außenminister Wladimir Makei eingelöst. Der hatte am 10. April erklärt, eine Verhängung von Sanktionen gegen das herrschende Regime werde „zweifellos dazu führen“, dass es „jene Zivilgesellschaft, um die sich unsere europäischen Partner so sehr kümmern, nicht mehr geben wird“.
Jetzt überprüft das Justizministerium auf nationaler Ebene eine Reihe von NGOs, während man sich jetzt schon einige von ihnen auf lokaler Ebene vorknüpft.
So teilte die Staatsanwaltschaft am 8. Juli mit, dass auf Ersuchen der Staatsanwaltschaft Brest die Einrichtungen Sa swoj gorod und Dsedsitsch durch die Verwaltung des Leninski-Stadtbezirks aufgelöst wurden.
Allem Anschein nach werden sie vernichtet, „damit sie niemandem in den Rücken schießen“. Insbesondere in Bezug auf Dsedsitsch wurde festgehalten, dass diese Einrichtung „Wettbewerbe für Kunstwerke und Clips in sozialen Medien organisiert [hat], die die Herausbildung einer Haltung der Bürger propagieren, die rechtswidrige Handlungen gutheißt“.
Eine „Normalisierung der Lage“ – wie sie vom herrschenden Regime verstanden wird – macht es erforderlich, dass aus dem öffentlichen Raum jede Kritik am Regime und jede abweichende Meinung verschwindet. Uniformierte führen die Befehle aus und werden für Pogrome gegen Andersdenkende belohnt.
Es ist zwar von vornherein klar, dass man auf diese Weise die Belarussen nicht dazu bringen kann, Lukaschenko wieder lieb zu gewinnen. Doch ein taktisches Ziel ist durchaus erreichbar, nämlich bestimmte politische Veränderungen vorzunehmen, ohne dass der Unmut der Bevölkerung sichtbar wird.
Wir können nur mutmaßen, wann sie sich auf eine harte Landung werden vorbereiten müssen – im Vorfeld der für den Herbst angekündigten vertieften Integration mit Russland oder vor dem für Anfang 2022 angesetzten Verfassungsreferendum.
Drei deutsche NGOs gefährden laut russischer Generalstaatsanwaltschaft „die Grundlagen der Verfassungsordnung und die Sicherheit der russischen Föderation“. Aus diesem Grund wurden sie Ende Mai 2021 zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt. Warum ausgerechnet diese drei? Wird es noch weitere treffen? Und was sind die Hintergründe? Ein Bystro in neun Fragen und Antworten von Fabian Burkhardt.
1. Was bedeutet der Status „unerwünschte Organisation“ überhaupt? Welche Verbote oder Regularien beinhaltet er?
Die Einführung des Status „unerwünschte Organisation“ im Jahr 2015 ist im Kontext der Krim-Annexion 2014 zu sehen. Das Gesetz wurde von den Abgeordneten Alexander Tarnawski (Gerechtes Russland) und Anton Ischtschenko (LDPR) initiiert als Reaktion auf westliche Wirtschaftssanktionen. Offiziell war das Gesetz gegen transnationale Wirtschaftsunternehmen gerichtet. In der Praxis wurde es aber ausschließlich gegen internationale NGOs angewandt. Derzeit befinden sich 40 Organisationen im Verzeichnis des Justizministeriums, die vor allem aus den USA, aber auch aus EU-Ländern wie Belgien und Tschechien stammen. Mit dem Bard College und dem Oxford Russia Fund wurden im Juni und Juli 2021 zum ersten Mal auch wissenschaftliche Organisationen gelistet. Formal entscheiden federführend das Außenministerium und die Staatsanwaltschaft, welche Organisationen in das Verzeichnis aufgenommen werden. Informell dürfte vor allem das Votum des Inlandsgeheimdienstes FSB entscheidend sein. Eine offizielle Begründung oder gar ein Gerichtsentscheid sind nicht notwendig. Wird eine internationale Organisation als „unerwünscht“ verzeichnet, so muss sie umgehend jegliche Geschäftstätigkeit in und mit Russland einstellen. Bei Zuwiderhandlung sieht das Ordnungs- und Strafrecht hohe Geld- und Freiheitsstrafen von bis zu sechs Jahren vor. In einem Gutachten vom Juni 2016 stellt die Venedig-Kommission des Europarats fest, dass die Gesetzgebung mehrfach gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Auch das Europäische Parlament hat Russland in einer Resolution aufgerufen, die Gesetzgebung wieder rückgängig zu machen. Tatsächlich wurden die Strafen in den vergangenen Jahren verschärft und der Gültigkeitsbereich des Gesetzes ausgeweitet: Inzwischen dürfen russische Staatsbürger auch im Ausland nicht mehr mit „unerwünschten Organisationen“ kooperieren.
2. Ende Mai 2021 wurden drei deutsche NGO’s zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt: DRA, Libmod und das Forum der russischsprachigen Europäer. Was für Organisationen sind das? Welche Projekte haben sie in Russland realisiert?
Der Deutsch-Russische Austausch (DRA) ist die älteste der drei NGOs und wurde 1992 mit dem Ziel gegründet, die demokratische Entwicklung in Russland zu unterstützen. Seither führte der Verein eine Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Projekten in Russland sowie in Mittel- und Osteuropa durch, um die Völkerverständigung zu fördern. Seit 2014 widmet sich der DRA auch der friedlichen Überwindung des Konflikts in der Ostukraine, insbesondere durch den Aufbau der zivilgesellschaftlichen Plattform CivilM+. Das Forum der russischsprachigen Europäer in Deutschland wurde im Jahr 2017 von dem Politologen und Soziologen Igor Eidman gegründet, dem Cousin des 2015 ermordeten Oppositionspolitikers Boris Nemzow. Wie der Name des Vereins schon sagt, richtet er sich vor allem an russischsprachige Menschen in Deutschland. Das Forum wehrt sich dagegen, dass „Putins Russland“ stellvertretend für alle Russen spricht, es will den „Vormarsch des Putinismus nach Europa“ stoppen. Das Zentrum Liberale Moderne (Libmod) wurde 2017 vom ehemaligen Ko-Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung Ralf Fücks und der langjährigen Osteuropapolitikerin der Grünen im Bundestag Marieluise Beck gegründet. Libmod versteht sich als „unabhängige Denkwerkstatt, ein Debattenforum und ein Projektbüro“, das sich der Krise der liberalen Demokratie annimmt. Russland ist zwar nur einer der Schwerpunkte des Zentrums, aber sicherlich ein zentraler, da der „Kreml als Hauptquartier der antiliberalen Internationalen“ angesehen wird. Projekte mit russischen zivilgesellschaftlichen Akteuren widmen sich Themen wie Freiheit im Internet, dem Erbe von Andrej Sacharow, dem Klimawandel und der Abhängigkeit Russlands von fossilen Rohstoffen, Menschenrechten und den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen.
3. Wo liegt der Unterschied zwischen diesen Organisationen?
Vor allem gibt es einige Gemeinsamkeiten. Zum einen ist dies eine klare Werteorientierung hinsichtlich liberaler Demokratie, Menschenrechten und dem Völkerrecht. Zweitens ist dies eine Haltung, die den zivilgesellschaftlichen Akteuren das Primat zuspricht, selbstbestimmt und unabhängig von Wirtschaft und Staat zu entscheiden, mit wem kooperiert wird. Die Organisationen weigern sich also, Russland mit Putins Russland gleichzusetzen. Drittens weigern sich alle drei NGOs, das deutsch-russische Verhältnis als Sonderbeziehung zu betrachten, das auf dem Rücken der mittel- und osteuropäischen Staaten ausgetragen werden kann. Seit der Krim-Annexion spielt hier das Verhältnis zur Ukraine eine herausragende Rolle. Viertens waren alle drei deutschen NGOs in Projekten mit russischen Organisationen involviert, die in Russland als „ausländische Agenten“ eingestuft sind. Und fünftens haben alle drei in unterschiedlichem Ausmaß Fördergelder des Auswärtigen Amts für die Unterstützung der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland bezogen. Zu den Unterschieden: Das Forum sticht etwas heraus, da es am wenigsten Projekte durchführt und vor allem auf die Vernetzung und Kommunikation von russischsprachigen Menschen in Deutschland – etwa auf Facebook – abzielt. Zudem setzen sich das Forum und Libmod vom DRA ab, indem sie deutlich politischer agieren und auch russische Oppositionspolitiker in Veranstaltungen mit einbeziehen. So traten etwa bei einer Veranstaltung des Forums Sergej Dawidis und Wladimir Kara-Mursa auf. Libmod kooperiert mit Michail Chodorkowski und Open Russia, auch Wladimir Kara-Mursa tritt als Sprecher bei Diskussionen auf.
4. Es gab bisher schon rund 30 NGO’s, die in Russland als „unerwünscht“ galten, bisher war darunter nur eine deutsche. Ist diese Entscheidung, nun auch weitere deutsche Organisationen als „unerwünscht“ zu erklären, mit irgendwelchen Problemen in den deutsch-russischen Beziehungen verbunden?
Die deutsch-russischen Beziehungen haben sich im vergangenen Jahrzehnt rapide verschlechtert. Die Krim-Annexion und Russlands Krieg in der Ostukraine markierten nach der Rückkehr Wladimir Putins ins Präsidentenamt im Jahr 2012 und der damit endgültig gescheiterten Modernisierungspartnerschaft einen Wendepunkt und das Ende der Sonderbeziehungen. Deutschland setzte sich für Sanktionen gegen Russland ein, zeigte sich mit dem Normandie-Format aber auch bemüht um Dialog und Konfliktlösung, und der Ausbau der zivilgesellschaftlichen Kontakte blieb weiterhin ein wichtiger Pfeiler der bilateralen Beziehungen. Mit der Zeit wurde es aber immer schwieriger, Konflikt und Kooperation auseinanderzuhalten. 2017 forderten einige Duma-Abgeordnete im Zusammenhang mit der Gedenkrede eines russischen Jungen im Bundestag, dass die Friedrich-Ebert-Stiftung zur „unerwünschten Organisation“ erklärt werden sollte. 2018 wurde im Vorfeld der Präsidentschaftswahl die von der Berliner NGO Europäischer Austausch geführte European Platform for Democratic Elections (EPDE) als erste deutsche NGO zur „unerwünschten Organisation“ in Russland erklärt. Dies geschah offensichtlich für die Kooperation mit der unabhängigen Wahlbeobachtungsorganisation Golos, die in Russland als „ausländischer Agent“ gelistet ist. 2019 forderte der Duma-Ausschuss für die Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands, dass der Deutschen Welle die russische Lizenz für angebliche „Aufrufe zu nicht genehmigten Demonstrationen“ auf Twitter und für die „Rechtfertigung von Extremismus“ entzogen werden sollte. Die Behandlung von Alexej Nawalny in der Berliner Charité nach seiner Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok im Jahr 2020 markierte einen weiteren Tiefpunkt in den Beziehungen. Außenminister Lawrow behauptete sogar, dass Nawalny möglicherweise in Deutschland oder auf dem Weg dorthin im Flugzeug vergiftet worden sein könnte. Im April 2021 belegte Moskau den Leiter der Berliner Staatsanwaltschaft Jörg Raupach mit einer Einreisesperre. Die offizielle Sicht des russischen Außenministeriums: Deutschland nutze Nawalny, um sich in die „inneren Angelegenheiten Russlands einzumischen“ und um „seine außenpolitischen Ambitionen innerhalb der NATO und der EU“ zu realisieren. Insbesondere vor der Dumawahl im September 2021 wolle Deutschland einen „destabilisierenden Einfluss auf die innenpolitische Lage in Russland“ nehmen.
5. Warum wurden aus den zahlreichen deutschen NGO’s, die in Russland tätig sind, ausgerechnet diese drei ausgewählt?
Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Vertreter der deutschen Organisationen können selbst nur spekulieren, was der Grund gewesen sein mag, wirkliche Anzeichen gab es dafür nicht. Vermutlich ist diese Verunsicherung über den Anlass gerade eine der wichtigsten Absichten: Andere zivilgesellschaftliche Organisationen sollen abgeschreckt werden mit dem Ziel, dass diese sich selbst zensieren oder ihr Verhalten konformer gestalten. Die offizielle Begründung der russischen Staatsanwaltschaft ist, dass diese Organisationen eine „Gefahr für die Verfassungsordnung und die Sicherheit“ Russlands darstellen. Wassili Piskarjow, Vorsitzender des Duma-Ausschusses für die Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands, warf den drei deutschen NGOs sowie der Heinrich-Böll-Stiftung bei einem Gespräch mit dem deutschen Botschafter Géza Andreas von Geyr im April 2021 vor, dass diese unter Beobachtung des Ausschusses stünden, weil sie terroristische Tätigkeiten rechtfertigten, sich russischen Projekten im Rohstoff- und Energiesektor entgegenstellten, nationalistische und separatistische Stimmungen beförderten, „nichttraditionelle Werte“ in der Jugend propagierten, Russlands Kampf gegen das Coronavirus diskreditierten und die russische Geschichte verzerrten, insbesondere die Ereignisse im Großen Vaterländischen Krieg. Da die russische Staatsanwaltschaft keine Begründung für die Einstufung der NGOs gibt, kann erstens keine sichere Aussage getroffen werden, welcher der genannten Gründe für die einzelnen NGOs ausschlaggebend war und zweitens, warum die Heinrich-Böll-Stiftung als einzige der genannten nicht als „unerwünschte Organisation“ eingestuft wurde.
6. Bleibt es nur bei diesen „Unerwünschten“? Oder kommen noch weitere deutsche NGO’s auf die Liste?
Aus mehreren Gründen ist zu befürchten, dass diese NGOs nicht die einzigen deutschen „unerwünschten Organisationen“ bleiben werden. Dies hat zum einen mit den sich sukzessive verschlechternden deutsch-russischen Beziehungen zu tun, hier ist in nächster Zeit keine Trendwende in Sicht. Zum anderen liegt dies auch in der bürokratischen Logik des Regimes begründet. Die Rolle des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB ist in den letzten Jahren gewachsen, sowohl im Föderationsrat als auch in der Staatsduma gibt es Ausschüsse, die sich mit ausländischer Einflussnahme in innere Angelegenheiten befassen. Ist diese Maschinerie erst einmal in Gang gebracht, so ist sie nicht nur schwer zu bremsen, sie muss auch immer neue Gefahren „produzieren“, die sie „neutralisieren“ kann. Dies ist auch der Grund, warum die Gesetzgebung über „unerwünschte Organisationen“ verschärft wurde. Im Umkehrschluss heißt dies, dass das, was deutsche NGOs tun und mit wem sie kooperieren, kein hinreichender Grund ist, um als „unerwünscht“ erklärt zu werden: Kalkulierte Willkür der russischen Behörden spielt hier eine entscheidende Rolle.
7. Alles nur Willkür, oder lassen sich gewisse Muster ableiten?
Ja, Muster gibt es. Diese sind erstens Perioden vor und während Wahlen – wie die Präsidentschaftswahl 2018, die Moskauer Stadtdumawahl 2019 oder die Dumawahl 2021 –, die besonders riskant sind. Zweitens sind offenbar insbesondere solche zivilgesellschaftlichen Organisationen gefährdet, die mit anderen Organisationen kooperieren, die in Russland als „unerwünscht“ gelten oder in der Liste der „ausländischen Agenten“ geführt werden. Drittens scheinen (zumindest bisher noch) deutsche politische Stiftungen (wie die Böll-Stiftung) besser geschützt als zivilgesellschaftliche Organisationen. Wie eine Sendung im russischen Militärkanal Swesdavom Mai 2021 zeigt, werden diese aber von Hardlinern als Handlanger der deutschen Geheimdienste gesehen, und es wird außerdem darauf verwiesen, dass sie in Ländern wie Belarus keine Länderbüros mehr haben. Zudem scheint es, viertens, bestimmte Themen zu geben, die von den russischen Sicherheitsorganen als besonders heikel betrachtet werden. Hierzu gehören etwa Wahlen und Wahlbeobachtung, Proteste und nicht-systemische Opposition, Menschenrechte, Sanktionen, oder auch Energiepolitik wie etwa Gas (Nord Stream 2) . Zu weiteren heiklen Themenfeldern gehören auch Gender, der Nordkaukasus, die Ukraine (insbesondere die Krim), als „terroristisch“ oder „extremistisch“ eingestuften Organisationen sowie Geschichtspolitik.
8. Welche Konsequenzen hat diese Entscheidung für die deutsch-russischen Beziehungen?
Konkret hatte dies erst einmal zwei Folgen: Zum einen waren die drei NGOs gezwungen, jegliche bilateralen Projekte und formalen Geschäftsbeziehungen zu beenden, um die russischen Partner keiner strafrechtlicher Verfolgung auszusetzen. Zum anderen wurde eine Vorstandssitzung des Petersburger Dialogs abgesagt, die für den 8. und 9. Juli in Moskau angesetzt war. Sollten insbesondere der Deutsch-Russische Austausch und das Zentrum Liberale Moderne „unerwünscht“ bleiben, – beide sind Mitglieder des Petersburger Dialogs – so ist eine Fortführung des Petersburger Dialogs in derzeitiger Form nicht mehr denkbar, da für die deutsche Seite eine Trennung in „erwünschte“ und „unerwünschte“ Organisationen nicht akzeptabel ist. Möglich ist auch, dass Mitglieder der NGOs mit Einreisesperren nach Russland belegt werden, wie etwa im Fall der Geschäftsführerin des Europäischen Austauschs Stefanie Schiffer, die nach der Listung der European Platform for Democratic Elections seit 2018 kein Visum mehr bekommt.
9. Es geht dabei also auch um eine Wirkung nach außen?
Insgesamt richtet sich die Listung auch gegen die Bundesregierung und vor allem gegen das Auswärtige Amt, das seit 2014 mit seinem Programm zum Ausbau der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Russland Projekte des DRA, Libmod und des Forums unterstützt. Die russische Gesetzgebung über „unerwünschte Organisationen“ trägt also nicht einfach zur weiteren Isolierung der russischen Zivilgesellschaft bei, sie hat auch extraterritoriale Wirkung: Sie durchkreuzt die deutsche Strategie, zivilgesellschaftliche Kooperation mit russischen Akteuren außerhalb von Russland zu fördern, etwa bei Seminaren in Berlin. Zudem wird es immer schwieriger, russische Partner in überregionale Projekte einzubinden, etwa mit NGOs aus den Ländern der östlichen Partnerschaft. Nicht zuletzt stellt die Gesetzgebung die deutsche Zivilgesellschaft vor die Wahl, inwieweit sie bereit ist, sich selbst zu zensieren, um weitere Projekte mit Russland durchführen zu können. Letztendlich führt die russische Gesetzgebung der Bundesregierung die Widersprüchlichkeit der deutschen Russlandpolitik vor Augen: Russland mit Sanktionen zu belegen und die Resilienz der EU zu stärken, gleichzeitig aber den zivilgesellschaftlichen Austausch fördern zu wollen, wird immer schwieriger. Vor allem aber ist die vom Kreml unabhängige russische Zivilgesellschaft die Hauptleidtragende. Denn selbst wenn keine weiteren deutschen Organisationen mehr als „unerwünscht“ bezeichnet werden, wird die Luft für sie durch andere repressive Gesetzgebung über „ausländische Agenten“ oder die Einschränkung der Bildungstätigkeit immer dünner.
Der Giftanschlag auf Alexej Nawalny war kein Einzelfall. Hinter den (versuchten) politischen Morden steckt laut Recherchenetzwerk Bellingcat System. Es gebe zahlreiche Hinweise auf die Beteiligung des FSB, die Fäden für die Auftragsmorde führten jedoch ganz nach oben – und nur der erste Mann im Staat zahle den Preis für deren Erfolg oder Misserfolg.
Zu diesen Erkenntnissen kommt der Investigativjournalist und Recherche-Leiter von Bellingcat Christo Grozev. Er ist der Mann hinter den Untersuchungen zum Abschuss von Flug MH17 und zu den Giftanschlägen auf Alexej Nawalny, Wladimir Kara-Mursa und Dimitri Bykow. Jede Recherche liefert neue Hinweise, legt Verbindungen zu älteren Fällen offen und zeigt Ähnlichkeiten in der Arbeit von FSB und seinem sowjetischen Vorgänger KGB auf.
Wie ist das System der politischen Morde in Russland aufgebaut? Warum stehen nicht nur oppositionelle Politiker wie Nawalny, sondern auch Schriftsteller wie Bykow auf der Abschussliste? Wie hängen die verschiedenen Fälle zusammen? Und warum bindet dieses System Wladimir Putin nur noch fester ans Präsidentenamt?
Auf diese Fragen antwortet Christo Grozev im Interview mit Yevgenia Albats – Chefredakteurin des Online-Mediums The New Times und Kennerin der FSB-Geschichte.
Jewgenija Albats: Viele kennen Ihren Namen und wissen, dass Sie Teil des Recherchenetzwerks Bellingcat sind und unmittelbar an der Aufklärung von Morden und Mordversuchen arbeiten, die die Politische Polizei in Russland verübt. Sie untersuchten unter anderem die Anschläge auf Alexej Nawalny, Wladimir Kara-Mursa, Dimitri Bykow. Ich habe eine ganze Reihe von Fragen zu diesem Thema, aber vielleicht erzählen Sie mir zuerst: Wer sind Sie, Christo Grozev? Die russische Propaganda behauptet, dass Sie bei der CIA sind, oder dem britischen Geheimdienst MI-6 oder MI-5, vielleicht auch beim israelischen Mossad … Also, wer sind Sie?
Christo Grozev: Die Behauptung, ich würde für westliche Geheimdienste arbeiten, gab es schon, bevor ich in Russland als Journalist bekannt wurde. Aber die Antwort ist ziemlich einfach: Ich wurde in Bulgarien geboren, bin gleich nach der Schule für eine Weile nach Europa gegangen – ich wollte Musikradio machen, das war gegen Ende des Kommunismus. Dann bin ich nach Bulgarien zurück, wollte dort den ersten Musiksender gründen. Das war damals noch verboten, also betrieb ich einen Piratensender. Danach habe ich in den USA Journalismus studiert. Gleich nach der Uni bekam ich einen Job: Ich sollte die ersten kommerziellen Rundfunksender in Russland aufbauen. Ein amerikanisches Unternehmen, das seine Erfahrung aus den USA nach Russland und Osteuropa bringen wollte. Dort machte ich Karriere, wurde zunächst Regionaldirektor, dann geschäftsführender Direktor der ganzen Radiogruppe. Dann habe ich in den Niederlanden investiert – das ist alles. Das war ein Selbstläufer, ich musste mich nicht jeden Tag darum kümmern. Und dann begann der Krieg. Der Dritte Weltkrieg, wie ich ihn nenne, der 2014 begann. Und ich fing an, meinen Blog zu führen …
Heute ist es ein globaler Krieg mit dem Einsatz von Informationen als Waffe
Ja, das war der Anfang. Aber danach veränderte sich alles. Heute ist es ein globaler Krieg … Weder ein kalter noch ein bewaffneter, aber dennoch ein Krieg, an dem alle Seiten irgendwie beteiligt sind. Mein Blog widmete sich zunächst dem, was man „weaponization of information“ nennt, also dem Einsatz von Information als Waffe, damals durch Russland, aber nicht nur – zu Beginn des Krieges auch durch die Ukraine. Dann kam MH17, und das wurde mein Hauptthema, dadurch bin ich zu Bellingcat gekommen. Nach ein paar Untersuchungen übernahm ich die Recherche-Leitung.
Wenn ich das richtig verstehe, haben Sie mit dem Radiosender viel Geld gemacht.
Nicht viel nach russischen, also Oligarchen-Maßstäben. Aber für bulgarische Verhältnisse schon. Ich kann gut davon leben und meinem Hobby nachgehen. Ich kann sogar in mein Hobby investieren, was ich seit vier Jahren tue.
Diese Recherchen bezahle ich
Bellingcat zahlt Ihnen also kein Gehalt?
Nein. Ich bestehe immer noch darauf, dass sie mich nicht bezahlen, damit die Frage, woher das Geld für die Recherchen kommt, ganz klar beantwortet werden kann. Bei Bellingcat ist zwar auch alles transparent, aber für mich ist es einfacher zu sagen: „Ich. Ich bezahle diese Recherchen.“ Deshalb garantiere ich mit meinem Namen: Niemand hat für mich diese Recherchen bezahlt, weder die Amerikaner noch die Briten noch sonst wer. Meine Finanzen lassen sich leicht überprüfen: Das sind die Dividenden aus dem kommerziellen Musiksender, mehr gibt es nicht.
Sie investieren Ihr Geld, Ihre Zeit und Ihre Sicherheit – denn es ist klar, dass diese Arbeit gefährlich ist – in Untersuchungen, die mit Russland und russischen Politikern zu tun haben. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Das ist nichts, was ich vorher geplant hätte. Untersuchungen werden dort gemacht, wo Verbrechen verübt werden. Es gibt einen Krieg, das ist Fakt, und Russland ist eine der Kriegsparteien. Die offensichtlichsten grenzüberschreitenden Verbrechen, hinter denen der Staat steht, sind die russischen Verbrechen. Auch das ist ein Fakt.
Als wir anfingen, die Katastrophe um den Flug MH17 zu untersuchen, wusste ich nicht, dass Russland für den Abschuss des Flugzeugs verantwortlich ist. In den ersten Stunden nach dem Vorfall hielt ich es für wahrscheinlicher, dass die Ukraine es versehentlich abgeschossen hatte. Ich hielt die Mitschnitte abgefangener Telefonate, die der SBU [Inlandsgeheimdienst der Ukraine – dek] im Internet veröffentlicht hatte, für eine Fälschung. Erst später dann verstand ich, dass sie nicht gefälscht waren. Wissen Sie, wie? Weil sie damals auch die Telefonnummern veröffentlicht haben, von denen diese Mitschnitte stammten. Ich fing an, diese Nummern anzurufen, und hatte tatsächlich Separatisten am Apparat, die mir alles erzählten.
Sie haben gezeigt, dass es ein System hinter den Vergiftungen gibt
Aber nun zu Ihrer jüngsten Untersuchung, bei der mir das Wichtigste zu sein scheint, dass Sie gezeigt haben, dass es ein System gibt: nämlich die Kooperation zwischen der 2. Abteilung des FSB und dem NII 2 [Institut für Kriminalistik des FSB – dek]. Zur 2. Abteilung des FSB gehört der Verfassungsschutz, die sogenannte Dienststelle „S“. Sie ist die Nachfolgerin der 5. Hauptverwaltung des sowjetischen KGB, die gegen Dissidenten und Andersdenkende kämpfte, die Kirche, Profisportler, NGOs und so weiter überwachte. Wir wissen, dass es in der Geschichte der Politischen Polizei in der Sowjetunion immer Abteilungen gab, die für politischen Terror und Morde verantwortlich waren. So war es früher, vor den Verbrechen, die Sie jetzt untersuchen. Woher wissen Sie, dass es tatsächlich eine Kollaboration zwischen der politischen, ideologischen Spionageabwehr und einem Institut gibt, das sich auf Vergiftungen spezialisiert?
Zunächst einmal möchte ich sagen, dass wir das nicht objektiv wissen. Das werden wir tun, sobald wir irgendein Dokument finden, das uns zeigt, wie alles organisiert ist. Im Moment können wir lediglich auf analytischem Wege Hypothesen aufstellen. Ich stelle alle Fakten zur Verfügung, die wir haben, und dann können Sie, wenn Sie möchten, eine Gegenhypothese aufstellen. Was wir sehen, ist, dass an jeder Vergiftungsoperation Menschen aus unterschiedlichen Abteilungen beteiligt sind. Wir haben lange gerätselt, aus welchen Abteilungen sie kommen. Wir hatten gedacht, das wären Ad-hoc-Gruppen, Brigaden aus Fachleuten mit unterschiedlichem Background. Aber dann wurde uns klar, dass es offenbar doch eine klare Arbeitsteilung gibt. Und der erste Teil – die Beschattung, während der die Entscheidung vorbereitet wird – wird ausschließlich von Leuten aus der 2. Abteilung des FSB übernommen, die General Sedow untersteht.
Jede neue Untersuchung liefert uns auch zu älteren Fällen neue Erkenntnisse. Bei dem aktuellen Fall haben wir zum Beispiel gesehen, dass die Leute, die sowohl Nawalny als auch Bykow und Kara-Mursa beschattet hatten, alle aus Sedows Abteilung kommen. Aus seiner Abteilung kommen auch diejenigen, die im Ausland Menschen erschießen, wie zum Beispiel im Fall Khangoshvili.
Der erste Teil wird vom FSB ausgeführt. Dann werden Chemiker, Ärzte eingeschaltet
Das ist ein wichtiger Punkt. Sie sagen also, die Beschattung wird von Mitarbeitern der 2. Abteilung des FSB durchgeführt?
Ja. Aber das ist keine „einfache“ Beschattung, über die alle Bescheid wissen. Diese Beschattung hat das Ziel, eine Handlung herbeizuführen. Anders als bei einer einfachen Beschattung wird hier nie etwas an die örtlichen Strukturen delegiert. Weder weiß der lokale FSB, dass diese Menschen kommen, noch sprechen sie mit jemandem vor Ort, mit Ausnahme der Region Stawropol und Tschetschenien.
Der erste Teil des Auftrags wird also ausschließlich von Menschen aus der 2. Abteilung ausgeführt. Und dann, ab einem bestimmten Zeitpunkt, werden Spezialisten aus dem NII 2 eingeschaltet. Das sind dann Chemiker, Ärzte oder Fachleute für Chemiewaffen oder Chromatographie-Spezialisten, es gibt auch Fachleute, die wissen, wie man Spuren verschiedener Chemikalien findet, und so weiter und so fort. Aber die kommen erst in der letzten Phase dazu.
So wurde uns die Arbeitsteilung klar. Und auch, dass die Beteiligten sich gegenseitig nicht unbedingt gut kennen. Kudrjawzew, zum Beispiel, der „Spurenbeseitiger“ aus dem NII 2, mit dem Nawalny telefoniert hat, kannte die Namen seiner Kollegen nicht … Er wusste zum Beispiel nicht, wie der Kollege aus der 2. Abteilung heißt, mit dem seine direkten Kollegen aus dem NII 2, Ossipow und Alexandrow, zusammen den Anschlag auf Nawalny verübten.
Wer sind Ossipow und Alexandrow?
Ossipow und Alexandrow sind zwei Chemiker und Ärzte, zwei Schlüsselfiguren aus dem NII 2. Sie arbeiten seit 2008 in diesem Dienst. Dem Vergiftungsdienst. Nach unserem Kenntnisstand sieht die Rangordnung folgendermaßen aus: Diese Ärzte führen Aufgaben aus, die ihnen die 2. Abteilung überträgt. Die 2. Abteilung wiederum steht in Kontakt zur politischen Führung.
Das heißt, der Auftrag kommt von oben …
Man könnte es so formulieren: Die Listen führt die 2. Abteilung des FSB.
Haben Sie diese Listen jemals gesehen?
Nein, wir selbst nicht. Ich habe schon vor langer Zeit von der Existenz dieser Listen gehört, schon 2014/2015. Von Menschen, die früher beim FSB oder in den Machtstrukturen tätig waren. Ich habe ihnen nicht geglaubt. Ich dachte, falls es sie gibt, dann eher im Wirtschaftsbereich, dass jemand [privat] Abschusslisten führt. Aber jetzt weiß ich, dass diese Listen doch über die 2. Abteilung erlassen werden. In der letzten Phase, wenn der Anschlag verübt wird, ist immer jemand aus der 2. Abteilung und ein oder zwei Vertreter der Chemiebrigade aus dem NII 2 involviert.
Vielleicht wählen sie einen Kriminellen, der tut, was man ihm sagt
Das heißt, das NII 2 ist eine rein ausführende Instanz.
Sie sind Dienstleister. Und hier ist wichtig zu verstehen, dass die Leute aus der 2. Abteilung, die die Operation vorbereiten, sie nicht zwangsläufig mit den Händen des NII 2 zu Ende bringen. Vielleicht wählen sie auch ein anderes Mittel, eine Pistole zum Beispiel und einen Kriminellen, der einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist und tut, was man ihm sagt.
Das war eine sehr beliebte Methode des KGB.
Ja. Und einige von unseren zukünftigen Recherchen werden vermutlich zeigen, wie das gemacht wird. Das heißt, durch die 2. Abteilung des FSB, aber mit anderen Händen.
Der KGB entließ für die Ausführung eines Auftrags gewöhnlich einen Häftling mit lebenslanger Haftstrafe aus dem Lager, oder jemanden, der in den Uranminen seine Strafe verbüßte.
Etwas Ähnliches konnten wir in der Ukraine beobachten, als ein Oberst der ukrainischen Militäraufklärung eliminiert werden sollte, der offenbar russische Militärinteressen im Osten der Ukraine verletzt hatte. Der Mann, den sie dort hinschickten, reiste mit einem gefälschten Pass ein, einem tadschikischen oder kirgisischen. Aber der Anschlag missglückte, die Autobombe tötete ihn selbst. Wir haben uns daraufhin angeschaut, wer er war, welchen Background er hatte, wir konnten ihn identifizieren. Wie sich zeigte, war er ein ehemaliger Polizist, Ermittler beim Drogendezernat in Moskau. Er war der Erpressung einer sehr großen Bestechungssumme überführt und zu einer hohen Haft- und einer riesigen Geldstrafe verurteilt worden, fast eine Million Dollar. Und vier, fünf Monate nach der Verurteilung tauchte er plötzlich in Kiew auf – offenbar hatte man ihm angeboten, seine Probleme loszuwerden …
Es gibt eine Arbeitsteilung: Morde im Ausland sind in der Regel Sache des Militärnachrichtendienstes
Warum hat man mit der Beseitigung Litwinenkos in London Lugowoi beauftragt – der doch beim KGB gearbeitet hat, für die Nomenklatura zuständig war, zu Gaidars Personenschutz gehörte und so weiter?
Ich habe diesen Fall nicht untersucht, aber logisch kann ich es mir so erklären, dass sie jemanden gebraucht haben, dem Litwinenko vertraute und den er treffen würde, obwohl er Angst vor einem Anschlag hatte. Übrigens erinnere ich mich, dass es wohl auch gegen Lugowoi zu jener Zeit oder schon früher ein Strafverfahren gab.
Ja stimmt, Lugowoi hatte ebenfalls große Probleme mit den russischen Behörden. Und das Attentat auf Skripal und seine Tochter in Salisbury – da gilt es doch als bewiesen, dass die Killer aus dem Militärnachrichtendienst GRU kamen.
Da gibt es eine Arbeitsteilung: Morde im Ausland sind in der Regel Sache des GRU. Nur die Morde an Tschetschenen übernimmt normalerweise der FSB. Das gilt als dessen Territorium, da werden die Grenzen Russlands sozusagen virtuell ausgeweitet. Deshalb war auch die Ermordung Khangoshvilis in Berlin 2019 Sache des FSB. Genau wie der Mord an einigen anderen Islamisten und Terroristen (die sie in deren Augen sind) 2014, 2015 und noch 2016 in der Türkei. Aber der Anschlag in Salisbury war ganz sicher Sache des GRU. Nicht nur, weil es das Ausland war, sondern auch, weil das Opfer ein Kollege war, jemand vom Militärgeheimdienst.
Nur sehr wenige Leute sind in die politischen Morde eingeweiht
Das sind also die Ausführenden. Und die Auftraggeber beziehungsweise diejenigen, die den Auftrag für die oberste Führung Russlands ausarbeiten, das sind die 2. Abteilung und der ihm zugehörige Verfassungsschutz. Die 2. Abteilung wird von General Sedow geleitet. Wo genau verorten Sie seine Rolle?
Wir sehen nur eine Hierarchieebene zwischen General Sedow und dem ranghöchsten Mitarbeiter, der konkret an diesen Attentaten beteiligt war: Roman Mesenzew aus der 2. Abteilung, der Kara-Mursa bis zu dessen Vergiftung beschattet hat. Er steht in der Rangordnung ziemlich weit oben, ist entweder Oberst oder General. Dieser Roman Mesenzew steht in direktem Kontakt zu General Sedow, das heißt, seinem direkten Vorgesetzten. Deshalb glaube ich, dass der Weg vom Chef der 2. Abteilung zu den Todesschwadronen, wie man sie bezeichnen kann, recht kurz ist.
Es ist doch aber erstaunlich, dass ein Oberst oder General die Beschattung übernimmt, da stimmt doch etwas nicht.
Noch einmal: Das ist keine Beschattung, verstehen Sie? Das ist eine sehr verantwortungsvolle Arbeit. Nur sehr wenige Leute sind eingeweiht. Dieser Kreis darf nicht erweitert werden, sonst hätten wir das, was wir jetzt wissen, schon vor fünf bis zehn Jahren gewusst. Diese Art von Arbeit ist nicht nur illegal, sondern auch illegitim. Und nur Leute, die das bereits verinnerlicht haben, bleiben weiterhin eingeweiht. Sonst könnte es jemanden geben, auch innerhalb des FSB, der davon erfährt, dass sie politische Gegner beschatten, und der sich dann einfach besäuft, es seiner Frau erzählt und so weiter, und dann würde alles ins Rollen kommen. Deshalb wissen nur sehr wenige von der Existenz dieser Unter-Unter-Unterabteilung der Dienststelle S [Verfassungsschutz – dek]. Und das macht es manchmal erforderlich, dass auch jemand aus der Führungsebene mitarbeitet.
Den Preis für den Erfolg oder Misserfolg eines politischen Auftragsmordes zahlt der erste Mann im Staat
[Bellingcats Auswertungen von Passagierlisten russischer Linienflüge haben Bewegungsprofile von FSB-Mitarbeitern offengelegt und zahlreiche Hinweise auf Nawalnys Vergifter geliefert. – dek] Wohin ist General Sedow denn geflogen?
Sedow ist recht viel geflogen, doch eine konkrete Überschneidung sehen wir mit Oberst Eduard Bernezki, der beispielsweise das Attentat auf Khangoshvili in Berlin unmittelbar koordinierte und überwachte. In Russland sind sie mehrmals zusammen geflogen, General Sedow und dieser Eduard Bernezki. Und einige Zeit später koordinierte Bernezki das Attentat auf eine der Zielpersonen. Daher ist Sedow mit Sicherheit eingeweiht, anders kann es nicht sein. Den Preis für den Erfolg oder Misserfolg eines politischen Auftragsmordes zahlt nämlich der erste Mann im Staat. Deshalb würde es dieser erste Mann niemals zulassen, dass jemand anderes die Entscheidungen fällt und absegnet.
Ehemalige KGBler sagen Folgendes: Niemand lässt sich auf einen politischen Mord ein, wenn es keine Garantie gibt, dass er am Ende nicht der Dumme ist. Und der Einzige, der deinem Vorgesetzten diese Garantie geben kann, der wiederum dir einen solchen Befehl erteilt, ist der erste Mann im Staate – der Generalsekretär oder der Präsident.
Aber glauben diese Leute – hier geht es um die Giftmischer und die Leute aus der 2. Abteilung –, glauben die ihrem General Sedow aufs Wort, dass diese Entscheidung auf höchster Ebene getroffen wurde? Ich würde an deren Stelle nicht darauf vertrauen, dass mich jemand im Falle des Falles rettet …
Da können wir nur Vermutungen anstellen. Jedoch wissen wir etwas durch die Aussagen von Sudoplatow und dessen Stellvertreter Eitington, die nicht an der Spitze des NKWD, der OGPU, des NKGB et cetera standen, sondern Abteilungsleiter waren. Sie wussten nämlich, dass der Befehl zur Beseitigung eines politischen Widersachers unmittelbar von Stalin oder von Stalin und Molotow kam. Sudoplatows Aufzeichnungen zufolge konnte es anders gar nicht sein.
Der Fall Bykow: ‚Es gab eine Vergiftung, das haben Ärzte nachgewiesen, auch wenn sie nicht wussten, womit.‘
Da ist noch eine wichtige Frage. Beim Fall Nawalny konnten Sie nicht nur aufdecken, dass er von Leuten des NII 2 beschattet wurde, es ist ihnen auch gelungen, einen der „Spurenbeseitiger“ zu kontaktieren: Kudrjawzjew, der in eben diesem NII 2 arbeitet. Wir haben keine Zweifel, wer den Mord mit dem Nervengift aus der Nowitschok-Gruppe in Auftrag gegeben hat. Was aber die Mordversuche an Kara-Mursa und Bykow angeht … Wir sehen, dass in beide Fälle Ossipow vom NII 2 verwickelt war. Woher wissen wir aber, dass Bykow vergiftet wurde? Dmitri Muratow, der seinerzeit unmittelbar Bykows Abtransport aus Ufa organisiert hatte, erzählte mir, dass Bykow sehr hohe Blutzuckerwerte hatte, und er starke Zweifel hat, dass es eine Vergiftung war. Welche Beweise haben Sie?
Zum einen gab es eine Beschattung, und zwar eine vorbereitende, nach demselben Prinzip, das wir bei Nawalny gesehen haben. Zuerst war es nur die Dienststelle S, dann wurde ein Chemiker und Arzt hinzugeholt, Ossipow. Der verbringt einen Großteil seiner Arbeitszeit im NII 2. Eine Analyse seiner Telefon- und Verbindungsdaten zeigt, dass er ausgerechnet mit Fachleuten für Nowitschok zu tun hat. Das heißt, er steht im Wesentlichen in Kontakt mit Leuten aus dem ehemaligen 33. Institut [33. Zentrales Forschungsinstitut des Verteidigungsministeriums – dek] und mit jenen, die jetzt im Wissenschaftszentrums Signal tätig sind und dort an einer Weiterentwicklung des Nervengifts Nowitschok arbeiten. Das heißt, er ist nicht irgendein beliebiger Beschatter. Er machte sich unter falschem Namen auf, auch das ist wichtig. Denn die Beschattung wird oft unter dem Klarnamen durchgeführt. Wenn sie sich aber entscheiden aktiv zu werden, nehmen sie die zweiten Pässe, um keine Spuren zu hinterlassen (wobei sie damit meiner Ansicht nach nur noch mehr Spuren hinterlassen).
Deshalb ist Ossipow unter dem Namen Spiridonow ausgerechnet nach Nowosibirsk geflogen, ohne Rückflugticket und mit einer zweiten Person, die am Tag der Vergiftung Nawalnys ebenfalls mit Nawalny in Tomsk war. Ihr Vorgesetzter Sucharew fliegt zur gleichen Zeit nach Sotschi, ebenfalls ohne Rückflugticket.
Und in der Nacht, nachdem Bykows Hotelzimmer ungefähr sechs Stunden lang leergestanden hatte (der ideale Zeitpunkt, um dort reinzugehen), da kauften sie sofort Tickets und kehrten am nächsten Tag nach Moskau zurück. Zwei Tage später fällt Bykow ins Koma.
Es bleibt die Frage, ob das Koma durch eine Vergiftung ausgelöst wurde. Und als Antwort sollte man nicht die Worte oder Versionen von Herrn Muratow übernehmen, der Bykow seinerzeit sehr geholfen hat, der ihm wohl wirklich das Leben gerettet hat. Weil die Ärzte in ihrer Diagnose „Vergiftung durch unbekannte Substanz“ geschrieben hatten. Was von erhöhtem Blutzucker begleitet wird. Aller Wahrscheinlichkeit nach, weil er in einem prädiabetischen Zustand war. Man muss aber wissen: Eine Vergiftung mit organischen Phosphaten wird stets von einem erhöhten Glukosespiegel begleitet.
Also, es gab eine Vergiftung, das haben die Ärzte nachgewiesen, auch wenn sie damals nicht wussten, womit. Der Giftmörder war ganz in der Nähe. Welche harmlose Erklärung wollen Sie mir da geben?
Bykow glaubte aufgrund unserer Ergebnisse sofort, dass er vergiftet wurde
Es gab den Anschlag auf Wladimir Kara-Mursa, die Gründe sind mehr oder weniger klar. Er ist ein Politiker, der ganz direkt den Magnitsky-Act vorantreibt, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in anderen Ländern. Es liegt auf der Hand, wer sich warum an ihm rächen will. Bei Alexej Nawalny ist es noch offensichtlicher. Er ist Putins persönlicher Feind. Dann gibt es noch den Fall Pjotr Wersilow, bei dem man in der Charité keine giftigen Substanzen gefunden hat. Allerdings vermuten Angehörige, dass er ebenfalls mit etwas vergiftet wurde.
Aber nun zurück zu Bykow. Er ist zweifellos sehr talentiert und hat hervorragende Romane geschrieben; einige seiner Vorlesungen sind einfach genial. Ein Dichter! Warum hätte man ihn vergiften wollen?
Zu den Motiven weiß ich keine Antwort. Und der Umstand, dass es keine offensichtlichen Motive gab, hat mir noch mehr innere Überzeugung abgefordert, dass es sich um einen Vergiftungsanschlag handelte. Denn es ist sehr viel einfacher, den Leser zu überzeugen, dass jemand vergiftet wurde, wenn es ein offensichtliches Motiv gibt. Fehlt das, ist die Unsicherheit viel größer. Deswegen haben wir so lange für diesen Bericht recherchiert.
Ich kann es Ihnen nicht sagen, ich habe Bykow einen Tag vor der Veröffentlichung gefragt. Er wusste auch keine Antwort, glaubte aber aufgrund unserer Ergebnisse sofort, dass er vergiftet wurde.
Sie reden mit Pseudowissenschaftlern. Das ist die Art Berater, die sie haben
Wir wissen nicht, wie es in ihren Köpfen aussieht, wie sie denken. Vielleicht haben sie irgendein Labor, in dem sie Risikomodelle erstellen. Ich weiß, dass diese Leute Pseudowissenschaft betreiben. Das sieht man an ihren Telefongesprächen, aus den Verbindungsdaten, den Gesprächen mit diversen Wahrsagern und Hellsehern.
Sie reden mit Pseudowissenschaftlern … Das ist die Art Berater, die sie haben … Daher ist es durchaus möglich, dass sie irgendein virtuelles Labor haben, in dem ihnen jemand etwas prophezeit, wie in Minority Report, falls sie den Film gesehen haben …
Könnte es sein, dass sie getestet haben, welche Dosis tödlich ist, welche nicht, bei Menschen mit unterschiedlicher Statur, mit unterschiedlichen Begleiterkrankungen?
Das wäre zu grausam, sogar für sie. Kann ich mir nicht vorstellen. Das wäre zu viel.
Ich denke, das Risiko, dass eine solche Operation scheitert, wäre zu groß, als dass sie an so zentralen Persönlichkeiten herumprobieren würden. Sie würden das bei irgendwelchen unbekannten Leuten machen.
Mörder heranzuziehen ist ein besonderer Prozess
In einem der Videoclips sagen Sie zurecht, dass wir von Fällen wissen, in denen ein Giftanschlag misslungen ist, dass wir aber nicht wissen, wie viele Menschen ermordet wurden. Rätselhafte Todesfälle hat es sowohl in London als auch in Moskau gegeben, und wohl auch an anderen Orten. Sie haben mir in einem der Interviews gesagt, dass es, wenn man all die Daten bei Gericht vorlegen würde, sehr schwierig wäre, sie zu leugnen, dass das Gericht genug Beweise hätte, um ein Verfahren wegen versuchten Mordes oder Mordes zu verhandeln. Was meinen Sie, würde so etwas die russische Staatsführung davon abhalten, mit dieser Praxis fortzufahren oder nicht?
Ich denke, das würde den Staat nicht aufhalten. Es würde aber sehr viel schwieriger werden, diese Strukturen schnell zu regenerieren, sie überhaupt wiederherzustellen. Mörder heranzuziehen ist nämlich ein besonderer Prozess. Es gibt ein recht großes Kontingent an Leuten, die zu den Sicherheitsdiensten gehen, um ihre Heimat zu verteidigen. Im weiteren Verlauf sind sie bereit, sich ein recht breites Verständnis, eine weit gefasste Definition von Feind eigen zu machen. In keine dieser Definitionen passt für einen frischgebackenen FSBler aber ein Feind wie Nawalny, ein Feind wie Bykow.
Am Anfang ist der Feind ein Terrorist, der während des Musicals Nord-Ost oder in einer Schule Geiseln nimmt oder Unschuldige mit einer Bombe umbringt und so weiter. Darauf sind sie vorbereitet, verstehen sogar, dass man einiges jenseits des Gesetzes machen muss, allerdings im Namen einer guten Sache. Aber nach einer Weile entfernen sich die Ziele von diesem Verständnis, es kommen Feinde hinzu, die nicht mehr ganz so offensichtlich Feinde sind – und das geht so weit, dass sie aufhören, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden und schließlich zu Geiseln ihrer eigenen Arbeit werden. Dieser Prozess braucht nach unseren Beobachtungen allerdings mindestens fünf, sechs, sieben Jahre.
Das heißt also, die Todesbrigaden bestehen aus auserwählten Menschen, die sich längst nicht alle zu direkten politischen Morden bereiterklären, selbst auf Befehl nicht. Müssen General Sedow und die Führungsriege des NII 2 jetzt, wo viele von diesen Leuten durch Ihre Recherchen im Rampenlicht stehen, intensiv an den Personalressourcen arbeiten, um neue Todesbrigaden aufzubauen?
Absolut richtig. Umso mehr, als es sehr viel schwieriger sein wird, neue Leute für etwas zu rekrutieren, bei dem es nicht mehr wie früher die Garantie gibt, dass alles auf immer geheim bleibt. Wie es aussieht, haben ein paar nichtsnutzige Journalisten es offenbar geschafft, sie zu enttarnen und ihr Privatleben zu zerstören, weil sie bereits von ihren Nachbarn gehasst werden, verstehen Sie? Und von ihren Verwandten. Ich denke, es wird sehr viel schwieriger werden, neue Leute zu rekrutieren.
Nach dem, was er getan hat, kann er nicht von dieser Macht zurückzutreten
Da wäre noch ein Punkt. Wir alle erinnern uns, wie US-Präsident Joe Biden die Frage eines amerikanischen Journalisten bejahte, ob er Putin für einen Mörder halte. Der Sender NBC, der Putin vor dem Treffen der beiden Präsidenten [in Genf] interviewte, fragte ihn ganz direkt: „Sind sie ein Mörder?“ Putin wird zum Gefangenen einer aus seiner Sicht schlecht erledigten Arbeit (aus unserer Sicht: Danke, dass sie nicht mal fähig sind zu morden). Wäre ich an Putins Stelle, würde ich mich fragen: Was nützen mir Vollstrecker, die nichts sauber hinkriegen und mich in eine so heikle Lage bringen? Umso mehr, wenn dann sogar die Kinder fragen: „Papa, hast du wirklich Morde genehmigt?“ Oder der engste Kreis sagt: Wie können wir einen Präsidenten akzeptieren, von dem die ganze Welt sagt, dass er ein Mörder ist? Da entstehen doch für Putin, was sein Überleben betrifft, ganz erhebliche Risiken, oder nicht?
Ja. Ich denke, er ist Gefangener seiner eigenen Vergangenheit. Ich sage das nicht als investigativer Journalist. Das ist meine persönliche Analyse. Nach dem, was er getan hat oder aus guter alter Tradition weiterhin tat, obwohl es nicht mehr angebracht war, kann er es sich nicht erlauben, von dieser Macht zurückzutreten. Und garantieren, dass er nicht geht oder zumindest nicht auf normale Weise geht, kann er nur, wenn er diese Strukturen aufrechterhält. Weil sonst niemand weiß, was in ein, zwei Jahren bei den Wahlen passieren wird. Es ist unmöglich, sich auf sanfte Art von solchen Entscheidungen, von einem solchen Arsenal zu lösen.
Er ist nicht mehr so sehr der Verteidiger und Förderer der Interessen der herrschenden Nomenklatura, sondern stellt für deren Kapital ein gewisses zusätzliches Risiko dar. Ich würde sagen: das ist ein Gefangenendilemma.
Ich denke aber, was in diesem Dilemma überwiegen wird … Vermutlich wird sich eher die Elite von ihm lossagen als er sich von der Elite. Weil die Elite dann ihr Gesicht wahren kann, und sei es um der eigenen Verwandten und Kinder willen, indem sie erklärt: Ich habe ja nicht gewusst, dass er das getan hat.
Es entsteht eine Mischung aus Adrenalin und dem Verlangen, die Ressourcen einzusetzen, die du in dir entdeckt hast
Umso mehr, als dass niemand in der Elite sicher sein kann, dass er nicht morgen auch auf einer solchen Liste landen könnte, wie unter Genosse Stalin. Meine letzte Frage, Christo. Sie sind wohlhabend, Sie leben in Europa, Sie kommen aus Bulgarien, und nicht aus Russland. Wozu machen Sie das alles?
Nun, das ist doch alles sehr ungerecht, und ich sehe, dass man es ans Tageslicht befördern und beweisen muss … Haben Sie mal den Film über diesen amerikanischen Chemielehrer gesehen, der zum Drogenhersteller wurde, Breaking Bad? Ich habe diesen Film vor anderthalb, zwei Jahren gesehen und dachte, dass ich diese Motivation zum Teil auch habe. Das heißt, du fängst an, etwas zu tun, was überhaupt nicht deine Aufgabe ist, und plötzlich stellt sich heraus, dass du es besser machst als die Geheimdienste. Und es entsteht eine Mischung aus Adrenalin und diesem Verlangen, die Ressourcen einzusetzen, die du in dir entdeckt hast … Es ist sehr schwer aufzuhören, wenn du das erstmal erkannt hast.
Das Goethe-Institut in Minsk und der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) müssen auf Druck der belarussischen Machthaber ihre Arbeit im Land einstellen. Ein Schritt, der international vielfach kritisiert und als Reaktion auf das vierte Sanktionspaket der EU gedeutet wurde. Am 16. Juni 2021 hatten die EU-Außenminister beschlossen, massiv die Sanktionen gegen die belarussische Führung auszuweiten. In der vergangenen Woche sagte Alexander Lukaschenko auch, dass die Sicherheitsbehörden „terroristische Schläferzellen“ enttarnt und zerschlagen hätten. Diese stünden in Verbindung mit Deutschland, der Ukraine, den USA, Polen und Litauen. Daraufhin verfügte der Staat die Schließung der Landesgrenze zur Ukraine. Im Fokus der „antiterroristischen“ Operation stehen dabei Mitglieder des ehemaligen Telegram-Kanals Einheiten der zivilen Selbstverteidigung (blr. Atrady hramadsjanskai samaabarony), der von den Behörden als extremistisch verboten wurde. Dutzende Mitglieder des Kanals wurden festgenommen, einige stehen bereits vor Gericht.
Zudem erschien am 3. Juli im staatlichen TV-Sender ONT ein Beitrag, der angeblich „terroristische Aktivitäten“ in Belarus beweist. Dies sorgte im Land für hitzige Diskussionen. In dem Beitrag wird ein offenbar inszeniertes Attentat auf Grigori Asarjonok gezeigt, einen der berüchtigsten Fernsehmoderatoren der Staatspropaganda, der für den Staatssender CTV arbeitet und regelmäßig gegen die Opposition hetzt. In dieser Atmosphäre beging die Staatsführung am 3. Juli den „Tag der Unabhängigkeit“ mit zahlreichen Veranstaltungen im ganzen Land.
Wird Lukaschenko angesichts einer schwächelnden Wirtschaft nun doch nervös oder ist es bloß Säbelrasseln? Der politische Analyst Waleri Karbalewitsch erörtert in seinem Beitrag für das Medium SN Plus mögliche Folgen der Sanktionen und diskutiert verschiedene Szenarien, mit der die belarussische Führung auf die Strafmaßnahmen reagieren könnte.
Sei vorsichtig mit deinen Wünschen – sie könnten in Erfüllung gehen.
Englisches Sprichwort
Mögliche Folgen der Sanktionen
Nach eingehender Betrachtung des von der EU erlassenen Papiers ist klar, dass die sektoralen Sanktionen, sagen wir mal, nicht in der radikalsten Form ergangen sind. Das wird zum Beispiel daran deutlich, dass das wichtigste Kaliprodukt, das nach Europa exportiert wird, nicht auf der schwarzen Liste steht. Und Belaruskali hat nicht darunter zu leiden, sondern unter dem blockierten Zugang zum litauischen Hafen Klaipėda, über den 97 Prozent der belarussischen Exporte von Kalidüngern abgewickelt werden. So muss eine neue Route über einen russischen Hafen im Leningrader Gebiet erschlossen werden.
Außerdem treten die Sanktionen teilweise erst mit Beginn des kommenden Jahres oder sogar noch später in Kraft. Wenn es also um die Auswirkungen der Sanktionen geht, so sind die in den nächsten Monaten nicht zu erwarten.
Nichtsdestotrotz beginnt das Land, mit den sektoralen Sanktionen zu leben. Diese unterscheiden sich von zielgerichteten (gegen einzelne Unternehmen oder Oligarchen gerichtete) Sanktionen dadurch, dass sie schwieriger zu umgehen sind. Ein Unternehmen kann man verkaufen, der Name oder Eigentümer kann sich ändern, mit ganzen Branchen lässt sich das jedoch nicht machen.
Die Verluste für die belarussische Wirtschaft lassen sich nur schwer beziffern. Es gibt Schätzungen, nach denen Belarus 15 Prozent seines Exports verliert. Immerhin geht ein Viertel der belarussischen Exporte von Erdölprodukten in Mitgliedsstaaten der EU, im Jahr 2020 waren das rund 600 Millionen US-Dollar. Darüber hinaus wurden 10 Prozent der Kaliexporte, für rund 200 Millionen US-Dollar in die EU geliefert.
Premierminister Roman Golowtschenko erklärte, die Verluste durch die Sanktionen würden nicht mehr als 2,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen. Unabhängige Wirtschaftswissenschaftler nennen Werte von 7 bis 14 Prozent. Diese große Schere ergibt sich durch unterschiedliche Berechnungsmethoden. Die einen zählen nur den unmittelbaren Schaden, andere berücksichtigen auch mittelbare Verluste (Kosten durch die Suche nach Wegen zur Umgehung der Sanktionen, ausbleibende neue Vertragsabschlüsse, den Umstand, dass ausländische Geschäftspartner Unternehmen meiden, die auf der Sanktionsliste stehen und so weiter).
Die Sanktionspolitik des Westens ist jedoch ein Prozess – der wurde nun in Gang gesetzt, und es ist unklar, wo und wann er zum Halten kommt. So erklärte jüngst Victoria Nuland, Mitarbeiterin für politische Angelegenheiten im US-Außenministerium: „Die EU ist einen Schritt voraus, indem sie sektorale Sanktionen gegen die belarussische Wirtschaft und jene Bereiche verhängt hat, von denen Lukaschenko abhängig ist. Wir werden versuchen nachzuziehen“.
Die Sanktionen des Westens verstärken die Abhängigkeit des Landes von Russland. Allerdings könnte der Umstand, dass der russische Oligarch Michail Guzerijew auf der Sanktionsliste landete, Unternehmen aus Russland von Belarus abschrecken. Man könnte leicht auf der schwarzen Liste der EU und von den USA landen.
Das gefährliche Thema Krieg
Die Regierung in Belarus hat auf die Sanktionen mit aggressiver Rhetorik, Drohungen gegen den Westen und Erpressungsversuchen reagiert: So hat sich beispielsweise der Strom illegal einreisender Migranten aus Belarus nach Litauen drastisch verstärkt.
Doch unsere Aufmerksamkeit weckt Folgendes: Seit dem 9. August 2020 schürt Lukaschenko in der Bevölkerung Angst vor einem möglichen Krieg mit dem Westen. Angesichts der sektoralen Sanktionen der EU und der USA erlangt diese Rhetorik einen neuen Sinn.
Bei einer Rede am 22. Juni 2021 in der Festung von Brest setzte Lukaschenko einen starken Akzent auf die Frage nach einem möglichen neuen Krieg. Er erklärte: „Im vergangenen Jahr haben wir die modernsten Technologien eines hybriden Krieges erfahren müssen. Die Belarussen fragen immer öfter: Was ist los, werden wir in den Krieg ziehen? Wie denn, Belarussen. Wir sind schon lange im Krieg. Der Krieg hat einfach andere Formen angenommen … 80 Jahre sind vergangen, und …? Ein neuer heißer Krieg … Und weiter? Eine Intervention?“
Indem er in der Bevölkerung Angst vor einem Krieg schürt, versucht Lukaschenko, künstlich das Modell einer „belagerten Festung“ zu konstruieren, die politischen Repressionen zu rechtfertigen sowie die Nomenklatura und die eigenen Anhänger zur Verteidigung des Regimes zu mobilisieren.
Eine solche Rhetorik könnte jedoch das Gegenteil bewirken. Das Volk will keinen Krieg und hat Angst davor. Die Gefahr, dass ein bewaffneter Konflikt entfesselt wird, weckt im historischen Gedächtnis des Massenbewusstseins traumatische Archetypen. Die Belarussen, sogar die Anhänger Lukaschenkos sind wohl kaum gewillt, für Lukaschenko in den Krieg zu ziehen. Dessen Figur wird zunehmend mit Kriegsgefahr assoziiert. Auch der Effekt einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung sollte nicht vernachlässigt werden.
Der Normalbürger sieht, dass das Ausmaß der Probleme – und zwar nicht nur der wirtschaftlichen –, die Lukaschenko zu verantworten hat, größer und größer wird. Der Preis für Lukaschenkos Verbleib an der Macht wird mit jedem Tag höher. Auch für seine nähere Umgebung, einschließlich seiner Hof-Oligarchen.
Aus der Geschichte sind diverse Beispiele bekannt, dass Wirtschaftssanktionen und äußere Konflikte Auswirkungen auf die Stabilität eines politischen Regimes hatten. Mitunter wird ein Regime dadurch gefestigt. Manchmal ist das Gegenteil der Fall.
Es gibt einige Beispiele, dass autoritäre Regime sich in einem bewaffneten Konflikt mit einem äußeren Feind befinden, ihn verlieren und dann zusammenbrechen. So stürzte die Diktatur der Obristen in Griechenland 1974 nach der Niederlage im Zypern-Konflikt mit der Türkei. Die Militärdiktatur in Argentinien brach 1983 nach dem verlorenen Falklandkrieg gegen Großbritannien zusammen. Das Regime von Slobodan Milošević trat wegen des Kosovo einen Krieg gegen die gesamte Welt los, verlor ihn und wurde im Jahr 2000 nach Protesten der Bevölkerung gestürzt.
Dies einfach als Anregung zum Nachdenken.
Das Spiel mit Roman Protassewitsch
Der Umstand, dass Roman Protassewitsch und Sofija Sapega in Hausarrest überführt wurden, ist ein Hinweis, dass das Regime eine Vielzahl von Schachzügen unternimmt und den oppositionellen Journalisten als wichtige Figur einsetzt.
Die Regierung hat sich entschieden, angesichts der dramatischen Folgen von Protassewitschs Festnahme (Schließung des Luftraums und sektorale Sanktionen durch die EU) den Gefangenen vollends auszunutzen und aus der Affäre eine möglichst große politische Dividende herauszupressen. Romans Einwilligung „mit den Ermittlungsbehörden zusammenzuarbeiten“ eröffnete der Regierung die Möglichkeit, – an unterschiedliche Adressaten gerichtet – gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.
Aufgabe Nummer eins ist natürlich die Diskreditierung der Opposition. Die „entlarvenden“ Erklärungen von Protassewitsch sollten all das Negative über die politischen Opponenten unterfüttern, das ein ganzes Jahr schon wie ein Wasserfall aus den Kanälen des belarussischen Staatsfernsehens strömt. Hinzu kommt die Diskreditierung der westlichen Länder. Roman soll „Beweise“ geliefert haben, dass die Proteste von westlichen Geheimdiensten gesteuert worden seien. Das alles richtet sich an das inländische Publikum.
Um den Skandal mit der erzwungenen Landung Russland gegenüber zu „verkaufen“, hat die belarussische Regierung betont, dass Roman im Donbass gekämpft habe. Das hat intensives Interesse bei den russischen Medien gefunden. Zur Lösung dieses Problems wurde die „Volksrepublik Luhansk“ ins Spiel gebracht – erfolglos, wie sich später herausstellte.
Der Hausarrest für Sofija Sapega, die die russische Staatsangehörigkeit besitzt, ist ebenfalls eine Geste an Moskau, eine Demonstration des grenzenlosen „Humanismus“ der belarussischen Behörden.
Eine andere aufdringliche Demonstration des Humanismus ist an das westliche Publikum gerichtet. In Europa wurde geschrieben, dass Protassewitsch möglicherweise gefoltert wurde. Und die Medien-Kampagne gegen Lukaschenkos Regime stützte sich unter anderem auf das Mitgefühl für ein Opfer des diktatorischen Regimes (und nicht nur auf die Verletzung der Flugsicherheit). Romans gesunde, muntere und lächelnde Auftritte vor der Öffentlichkeit sollten diese Thesen widerlegen. Auf gleiche Weise ist auch Romans Überführung in Hausarrest zu verstehen.
Mit den öffentlichen Auftritten von Protassewitsch wollte das offizielle Minsk zudem versuchen, die Wirtschaftssanktionen des Westens, wenn nicht zu verhindern, so doch abzumildern.
Ein weiterer Aspekt dieses endlosen belarussischen Dramas steht in Verbindung mit der Psychologie der einen Person: Das Phänomen eines reuigen, moralisch gebrochenen Feindes erklärt in der belarussischen Politik vieles. Unter Lukaschenko als Präsidenten wurden sämtliche politischen Häftlinge dazu gedrängt, Gnadengesuche zu schreiben. Das war für den Staatschef von grundsätzlicher Bedeutung.
Nach den vom Regime inszenierten Auftritten Protassewitschs kann man nun auch Menschlichkeit walten lassen. Es gibt derzeit 515 politische Häftlinge in Belarus. Allerdings zeigt man sich nur gegenüber Juri Woskressenski und Roman Protassewitsch „menschlich“ (Sofija Sapega soll lediglich Protassewitsch Gesellschaft leisten). Diese politischen Gefangenen haben nicht nur öffentlich vor der Kamera Reue gezeigt, sondern stehen jetzt auf der anderen Seite der Barrikaden. Das ist das Handlungsmuster für alle politischen Häftlinge, die vorzeitig aus dem Gefängnis freikommen wollen.
Russland droht die vierte Welle der Corona-Pandemie – wenn sich das Land nicht schon mittendrin befindet. Die offiziellen Zahlen – die viele immer noch für geschönt halten – sind erschreckend: Die Anzahl der Neuinfektionen pro Tag liegt demnach bei mehr als 20.000, mit 669 Toten am Tag war die Sterberate Ende Juni so hoch wie nie zuvor. Besonders stark betroffen sind die Metropolen, dabei sind allein in Moskau laut Behördenangaben 90 Prozent der Neuinfektionen auf die Delta-Variante zurückzuführen.
So war es auch Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin, der vor rund zwei Wochen Alarm schlug. In Moskau dürfen seit Montag nur noch Geimpfte, Getestete oder Genesene die Restaurants und deren Außenbereiche besuchen, was über QR-Codes geprüft wird. Außerdem verhängte Moskau eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen, einzelne weitere russische Regionen in der Folge ebenfalls. Nichtsdestotrotz wird am morgigen Freitag ein Viertelfinalspiel der Fußball-EM in der Sankt Petersburger Gazprom-Arena stattfinden – 50 Prozent Auslastung sind zugelassen, das sind knapp 30.000 Menschen.
Beim Direkten Draht mit Wladimir Putin am gestrigen Mittwoch war Corona eines der wichtigsten Themen. Putin betonte dabei die Notwendigkeit einer Impfung, schloss eine Impfpflicht jedoch aus und sagte, dass durch die neue Impfstrategie der Regionen ein Lockdown hoffentlich verhindert werden könne. Immer wieder werden kritische Stimmen laut, dass eine einheitliche Coronastrategie fehle: Die Regierung habe vielmehr lange den Eindruck erweckt, als sei die Coronagefahr gebannt. Und auch jetzt überlasse sie die Verantwortung den Regionen – wohl aus Angst, vor der Dumawahl im Herbst unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen.
Die Impfskepsis jedenfalls ist in Russland trotz der erschreckend hohen Zahlen nach wie vor groß: Laut John Hopkins University sind nur knapp 12 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft – und das, obwohl Russland mit Sputnik V als erstes Land einen Impfstoff zugelassen hatte. Laut Umfrageinstitut Lewada lehnen nach wie vor rund 60 Prozent der Menschen im Land eine Impfung ab.
In sozialen Medien entbrannte sogleich eine heftige Debatte über die teilweise geltende Impfpflicht. Die Linien verlaufen dabei jedoch nicht nur zwischen Corona-Leugnern, Impfgegnern und -befürwortern, vielmehr wird quer durch alle Milieus ein hohes Misstrauen gegenüber staatlich verordneten Maßnahmen deutlich.
Ein solches „Misstrauen auf allen Ebenen“ nimmt auch Journalist Andrej Sinizyn wahr und gibt auf Republic Einblick in ein zerrüttetes Gesundheits-und Vertrauenssystem.
Letztes Jahr, als meine Zwillinge zwei Monate waren, fuhren wir in die Poliklinik, um sie vorschriftsgemäß impfen zu lassen. Wir gingen nacheinander ins Behandlungszimmer (die Mutter mit der Tochter und ich mit dem Sohn). Als wir fertig waren, wunderten wir uns, warum ein Kind eine Schluckimpfung gegen Rotaviren, das andere aber eine Spritze bekommen hatte. Doch auf unsere empörte Nachfrage entgegnete die Krankenschwester, das müsse so sein. Erst zu Hause sagte unsere wachsame Großmutter (eine Kinderärztin mit langjähriger Berufserfahrung), die gerade zu Besuch war, eine Rotaviren-Impfung würde niemals gespritzt. Wir fuhren sofort wieder hin und es stellte sich heraus, dass die Krankenschwester sich vertan und meinen Sohn gegen Hepatitis statt gegen Rotaviren geimpft hatte („Was ist schon dabei? Nächstes Mal machen wir es eben andersrum.“).
Falsche Impfung? „Was ist schon dabei?“
Wir mussten ihn umgehend gegen Rotaviren und unsere Tochter gegen Hepatitis impfen lassen. Das war natürlich eine zusätzliche Belastung für den kleinen Körper (zuvor hatten beide auch noch „Prevenar“ bekommen), aber sonst wäre es noch gefährlicher geworden: Gegen Rotaviren gibt es eine Lebendimpfung, ein Kind könnte das andere anstecken, sie leben ja nicht nur zusammen, sie saugen auch noch an derselben Brust. Selbstverständlich war der Papa schuld, weil er sich nicht im Voraus informiert hatte, welche Impfstoffe wie verabreicht werden. Anders gesagt, er hätte sich nicht blind auf die Pädiatrie verlassen dürfen, wo man offensichtlich Impfungen vertauscht, dies zunächst abstreitet und dann auch noch sagt: „Was ist schon dabei?“
Gesundheitssystem am Boden – und dann bricht die Epidemie aus
Der Papa ist ja nicht erst seit gestern auf der Welt, er hat schon seine Eltern zu Grabe getragen – verstorben an einem Infarkt und an Lungenkrebs, beides war im Bezirkskrankenhaus nicht diagnostiziert worden. Und auch er selbst hat schon bei Gesprächen mit Ärzten widersprüchliche Erfahrungen machen müssen. Ob Sowjetunion oder Russland, ob Kinder- oder Erwachsenenmedizin – die Qualitätsunterschiede sind nicht sonderlich groß. Alles hängt vom jeweiligen Krankenhaus, den jeweiligen Ärzten und jeweiligen Krankenschwestern ab, und die haben nicht wirklich viele Anreize, ihre Arbeit gut zu machen. Darüber wurde bereits hundertfach berichtet. Das Ausbildungsniveau, die technische Versorgung, die Gehälter, die Korruption, der Druck durch die Verwaltung (Buchhaltung und Schönung der Daten, damit das Ergebnis stimmt), der Druck durch die Behörden (Stichwort „Ärzteverschwörung“), die berüchtigte Optimierung des Gesundheitswesens – das alles sind Faktoren, weshalb die medizinische Versorgung in Russland in den letzten Jahren ins Bodenlose gestürzt ist.
Und dann bricht in diesem Land eine Epidemie aus. Wir berichten über heldenhafte Ärzte, heldenhafte Krankenschwestern, heldenhafte Ehrenamtler – völlig zurecht. Sie sind Helden, sie retten Menschen, riskieren ihre Leben, sterben. Wir berichten von aus dem Nichts gestampften Covid-Krankenhäusern mit moderner Technik – auch zurecht, obwohl sich hier schon erste Fragen stellen: nach der medizinischen Versorgung jenseits von Covid und nach Korruption.
Korruption, Ineffizienz und schwindende Kompetenz
Vergessen wir nicht, dass das russische Gesundheitssystem immer noch von Korruption, Ineffizienz und schwindender Kompetenz geprägt ist. Und wenn wirklich große Aufgaben wie die Impfung der gesamten Bevölkerung anstehen, wird das besonders deutlich.
Die Novaya Gazeta berichtete davon, wie in Impfzentren Sputnik V gegen EpiVacCorona ausgetauscht wird (der Impfstoff hat zwar keine klinischen Studien durchlaufen, aber dafür hat der Leiter der Gesundheitsaufsichtsbehörde ihn mitentwickelt). Forscher haben ernsthafte Vorbehalte gegen EpiVac. Zudem wird einigen Patienten nach einer ersten Impfung mit Sputnik V als zweite Dosis EpiVac verabreicht, was prinzipiell nicht zulässig ist. Diese Fälle sind so häufig, dass sie sich nicht mehr mit Versehen oder Unwissenheit entschuldigen lassen – es scheint vielmehr, als bekämen die Kliniken entsprechende Anweisungen von oben. Zudem gibt es vermutlich Lieferengpässe bei Sputnik. Angenommen, Sputnik fehlt, die Logistik hinkt, aber, sieh an, EpiVac ist verfügbar – nehmen wir!
Die Menschen, die der Novaya davon erzählt haben, werden vor Gericht ziehen. Aber wie viele Menschen, die wissen, dass sie betrogen wurden, ziehen nicht vor Gericht? Und wie viele wissen es nicht mal?
Misstrauen auf allen Ebenen
Wenn wir behaupten, der Unwille der russischen Bevölkerung, sich impfen zu lassen, käme vom Misstrauen gegenüber der Regierung, denken die meisten wohl an Putin, Mischustin, Sobjanin oder irgendwelche Minister und Bürgermeister. Aber Misstrauen herrscht auf allen Ebenen, auch auf der untersten: Misstrauen untereinander ist allen wohlbekannt.
Gehört ein Arzt zum Machtapparat dazu? Für den Durchschnittsrussen absolut, und das seit Sowjetzeiten. Das Gesundheitswesen war ja staatlich (und ist es auch heute noch mehr oder weniger). Aber sogar, wenn es um konkrete Behandlungen geht, lehrt die Erfahrung mit diesem System einen Patienten, dass er ihm nur vertrauen soll, wenn es gar nicht anders geht. 60 Prozent der Lunge hin – na gut, dann rettet mich mal, wo wart ihr denn bislang? Aber mich impfen lassen? Nee, ich trink lieber einen Wodka, ein bewährtes Volksheilmittel.
Deswegen liegt Russland am 23. Juni mit einer Impfquote von 14,13 Prozent auch weltweit auf Platz 83. Während die Zahl der Infizierten unaufhaltsam steigt, Moskau und Petersburg brechen alle Rekorde bei der Corona-Sterberate.
„Mich impfen lassen? Nee, ich trink lieber einen Wodka“
In den sozialen Netzwerken wird hitzig diskutiert, ob das russische Volk gut oder böse sei, weil es sich trotz aller Gegebenheiten, trotz wirksamen Impfstoffs, nicht impfen lassen wolle und damit die Gesundheit anderer gefährde. Während die Regierung – endlich „aufgewacht“ – die Verantwortung für die Nicht-Impfung auf das Volk schiebt.
Aber eigentlich nehmen sich Volk und Regierung nicht viel. Das Problem ist nicht nur, dass ein Staat, der bisher gelogen hat, plötzlich die Wahrheit sagt und etwas Nützliches tut, während das Volk sein Glück nicht fassen kann und ihm nicht glaubt. Das Problem ist auch, dass der Staat das Nützliche mit seinen gewohnten Mitteln macht – sprich, einfach Mist –, indem er nur die halbe Wahrheit sagt, und auch die nur, wenn er davon einen Vorteil hat. Deswegen verliert nicht nur der Durchschnittsrusse den Überblick, sondern auch der Durchschnittsarzt, der zu diesem Russen sagt: „Der Impfstoff ist nicht ausreichend erforscht, lass dich lieber nicht impfen.“
Aber die Beamten wären keine Beamten, wenn sie die Bürger nicht zur Impfung motivieren würden: durch strenge Regelungen in Restaurants, Druck auf Unternehmen, die Einführung einer 60-prozentigen Impfpflicht, Androhung von Diskriminierung und Kündigung. Sie übererfüllen die Norm und reproduzieren Sowjetpraktiken, denen die Bürger längst zu entgehen gelernt haben.
Nicht alle natürlich. Die Impfpflicht („wie in der Sowjetunion“) kann die Quote anheben. Viele Bürger sind paternalistisch eingestellt; wenn eine „starke Hand“ uns zur Impfung zwingt – na dann machen wir’s halt. Aber irgendein „Impfkapital“ oben drauf, das wär doch fein? Natürlich mit der Verpflichtung, es in die Gesundheit zu investieren. Nur in die Gesundheit! Keine Auszahlung in bar, versteht sich … Na ja, höchstens für eine Reise in den Kaukasus. Oder für die Hypothek. Ein bisschen was für die Hypothek ist schon in Ordnung, oder Wladimir Wladimirowitsch? So kurz vor den Wahlen?
Dann lassen wir uns auch impfen. Wenn wir dann noch leben.