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Platforma: (Exil-)Journalisten schreiben für dekoder
In diesem Dossier sammeln wir Texte aus unserer Reihe Platforma, in der wir russische, belarussische oder auch ukrainische Journalistinnen und Journalisten bitten, für uns zu schreiben und Einblick in aktuelle Debatten und Entwicklungen zu osteuropäischen Themen zu liefern.
Die Texte werden mitunter von Journalistinnen und Journalisten verfasst, die sich gezwungen sahen, aufgrund der Repressionen in ihren Ländern ins Exil zu gehen.
Inhalte
Bystro #38: Proteste in Belarus 2020. Was ist vom Widerstand geblieben?
Wenn die Raketen fliegen – Fußball im Krieg
Aufstieg, Repressionen, Flucht – das Schicksal der belarussischen IT-Branche
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Wenn die Raketen fliegen – Fußball im Krieg
Als die erste Schockstarre nach Beginn des russischen Angriffskrieges überwunden war, fragte man sich in der Ukraine, wie es mit dem Fußball weitergehen könnte. Die Meisterschaften der Saison 2021/2022 wurden bekanntlich eingefroren. Die Entscheidung, den Ball trotz des Krieges wieder rollen zu lassen, begann im späten Frühjahr zu reifen. Die Entscheidung wurde auf höchster Ebene vorangetrieben. Wolodymyr Selensky sprach sich persönlich dafür aus, neue Meisterschaften anzusetzen. Am 23. und 24. August, dem Tag der Unabhängigkeit der Ukraine, ist es nun soweit, mit dem Start der höchsten Spielklasse des Landes.
Allerdings gibt es viele Zweifel, Skeptiker und natürlich wichtige Fragen: Wie spielt man Fußball, wenn russische Raketen fliegen? Darf man in einem Krieg überhaupt Fußball spielen? Oder muss man sogar? Werden Fans zu den Spielen zugelassen? Was passiert, wenn es während des Spiels Luftalarm gibt? Haben die Vereine überhaupt noch genügend finanzielle Mittel, um das millionenschwere Fußballgeschäft aufrechtzuerhalten?
All diesen Fragen und anderen widmet sich der ukrainische Sportjournalist Yuriy Konkevych in diesem Beitrag. Er erklärt, welche Debatten rund um den Wiederanpfiff geführt wurden und wie die Meisterschaft in der Zeit des Krieges sicher und reibungslos ablaufen soll.
Der Artikel entstand in einer Kooperation mit dem österreichischen Fußballmagazin ballesterer, in dessen September-Ausgabe eine kürzere Version dieses Beitrags erscheint. Er gehört zu unserer Reihe Platforma, in der russische, belarussische oder auch ukrainische Journalistinnen und Journalisten schreiben und Einblick in aktuelle Debatten und Entwicklungen zu osteuropäischen Themen liefern. Die Texte werden weitgehend von Journalistinnen und Journalisten geschrieben, die sich gezwungen sahen, aufgrund der Repressionen in ihren Ländern ins Exil zu gehen.
Am 23. August beginnt – trotz allem – die neue Saison der Premjer Liha, der höchsten Spielklasse im ukrainischen Fußball. Die Spiele werden in den heimatlichen Stadien ausgetragen. Die Zusammensetzung der Liga wie auch der Teams wird allerdings eine andere sein. Und die Spielbedingungen wurden an die Realitäten des Krieges angepasst.
„Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie wir spielen werden. An jedem Ort der Ukraine kann jederzeit eine Rakete einschlagen. Kann gut sein, dass du losläufst und es nicht in den Luftschutzkeller schaffst.“ Diese Bedenken des Fußballers Olexandr Kutscherenko sind berechtigt. Den ganzen Sommer saß er am Steuer eines Transporters und fuhr in den Osten der Ukraine, um humanitäre Hilfsgüter zu verteilen, die Freunde, Fans und Fußballer gesammelt haben. „Aber ohne Fußball geht es auch nicht. Ich habe zwei Träume: Dass die Saison losgeht, und dass wir die Besatzer aus unserem Land jagen“, ergänzt Kutscherenko.
Der Trainer Juri Wernydub ist der gleichen Ansicht. Sein Team von Sheriff Tiraspol aus Moldau spielte am 24. Februar in der Europaliga gegen Braga in Portugal. Als er vom Kriegsbeginn erfuhr, packte er seine Sachen, fuhr in die Ukraine zurück und ging als Artillerist an die Front. Im Juni nahm er seine Arbeit als Trainer wieder auf, nun allerdings in der Ukraine.
Spieler sammeln Geld, Fans kämpfen an der Front
Kutscherenko ist einer der wenigen Fußballer, die der Front und den zivilen Stellen nicht nur mit Geld helfen, sondern sich auch in die Bewegung der Ehrenamtlichen eingeklinkt haben. Selbst als sich sein Team von Inhulez Petrowe, einem Premjer Liha-Verein aus der Zentralukraine, auf die Saison vorbereitete, versuchte Olexsandr noch, der Armee zu helfen.
Erst der Schock, dann wird gehandelt, so leben die Ukrainer seit dem 24. Februar. Den Fans hat gefallen, wie fast alle prominenten Fußballer auf den Krieg reagierten. Namhafte Legionäre von europäischen Spitzenklubs: Ruslan Malinowski von Atalanta Bergamo, Andrij Jarmolenko von West Ham United, Olexandr Sintschenko, der jetzt bei Arsenal London spielt, oder Roman Jaremtschuk von Benfica Lissabon, sie alle sammelten Millionen Euro für die Ukraine und die Armee.
Fußballlegende Andrij Schewtschenko ist aktuell Botschafter der Präsidentenstiftung United24, die im Ausland Spenden sammelt. Dynamo Kyjiw und Schachtar Donezk haben Dutzende internationale Benefizspiele veranstaltet, um Geld für die Armee zu sammeln, und dabei gleichzeitig die Spieler der ukrainischen Nationalmannschaft für die Playoff-Qualifikationsspiele zur WM 2022 fitgemacht.
Viele Ultras kämpfen seit dem 24. Februar an der Front, einige sind gefallen. Beim Benefizspiel von ehemaligen Spielern des FK Wolyn aus Luzk in der Westukraine, dem ersten Spiel überhaupt seit November 2021, waren im Block der Ultras nicht mal zehn Fans anwesend. Bei diesem Spiel wurden Gelder zum Kauf von Kampfdrohnen gesammelt.
Am emotionalsten waren die Spiele der Nationalmannschaft im Ausland. Die Blau-Gelben konnten zwar Schottland bezwingen, scheiterten dann aber im Finale um den letzten Platz für das Teilnehmerfeld bei der der WM in Katar an Wales. Es folgten drei Spiele in der Nations League. Überall dominierten die Nationalfarben in den Stadien, ukrainische Lieder wurden gesungen, und die Fans reisten aus ganz Europa an.
Das Juri Gagarin-Stadion in Tschernihiw, zerstört durch russische Raketen / Foto © Facebook/desnafc
Angesichts dieser einmütigen Reaktion ist das Verhalten einiger ukrainischer Spieler, die in Russland geblieben sind, besonders auffällig. Iwan Ordez, ein ehemaliger Spieler von Schachtar Donezk, verlängerte seinen Vertrag bei Dynamo Moskau, nahm allerdings eine Leihoption beim deutschen Bundesligisten VfL Bochum in Anspruch. Der ukrainische Rekordnationalspieler Anatoli Tymoschtschuk (144 Einsätze) hat sich mit keinem Wort zum Krieg geäußert, lebt weiterhin in Sankt Petersburg und arbeitet dort für Zenit. Der U-19-Europameister Wytali Wyzenez wurde wegen „antiukrainischer“ Äußerungen beim ukrainischen Krywbas Krywyj Rih gefeuert; fand aber schnell einen neuen Arbeitsplatz beim russischen Erstligisten Arsenal Tula. Jaroslaw Rakyzkyj, der immer wieder aufgrund seines mangelnden Patriotismus kritisiert wurde (er hatte bei Spielen der Nationalmannschaft prinzipiell nicht die Hymne mitgesungen), packte einige Tage nach Kriegsbeginn seine Sachen und ging nach Russland.
Spiele unter Bomben: unterbrochen wegen Luftalarms
Als der erste Schock überwunden war, fragte man sich in der Ukraine, wie es mit dem Fußball weitergehen soll. Die Profiligen in der Ukraine waren stets mit Geldern von Oligarchen verquickt, und angesichts der riesigen Zerstörungen und des finanziellen Zusammenbruchs weigerten sich viele Klubpräsidenten, ihre Mittel für Fußball auszugeben.
Aufgrund ihrer zerstörten Heimspielstätten haben sich Desna Tschernihiw und der FK Mariupol aus der ukrainischen Premjer Liha zurückgezogen. In Mariupol haben die Russen Asowstal zerbombt, das Stahlwerk, das Rinat Achmetow gehörte, dem Eigentümer und Präsidenten des großen FK Schachtar Donezk.
Aufgrund der finanziellen Probleme der Vereinsbesitzer oder der zerstörten Infrastruktur fehlen der zweit- und dritthöchsten ukrainischen Liga (dem Namen nach die Erste und Zweite Ukrainische Liga) 20 bis 30 Prozent der Klubs. Einige Besitzer erklärten, sie würden ihr Engagement im Profifußball aussetzen, aber den Jugendfußball weiter unterstützen. Nach dem Sieg im Krieg würde man eine Rückkehr der Professionellen Fußballliga (PFL) der Ukraine, die die Erste und Zweite Liga organisiert und verwaltet, oder der Ukrainischen Premjer Liha (UPL) ermöglichen.
Die Meisterschaft 2021/22 wurde bekanntlich abgebrochen, der Meistertitel nicht vergeben Die Entscheidung über einen Wiederbeginn der Premjer Liha reifte Ende März 2022 heran, als die russische Armee aus dem Kyjiwer Umland und dem Norden der Ukraine vertrieben wurde. Ein Teil der Vereinsbesitzer, die an den europäischen Wettbewerben teilnehmen wollten, erhoben die Forderung, die Meisterschaft in Polen oder der Türkei auszutragen. Es gab auch Stimmen, die kein Verständnis dafür zeigten, dass für Fußball Geld ausgegeben wird, wo doch die Armee dringend die Mittel benötige. Der Präsident von Agrobisnes Wolotschysk aus der Zweiten Liga hat sein Team sogar aufgelöst – „bis zum Sieg“. Bis zu zehn Spieler und Mitarbeiter des Klubs dienen in den ukrainischen Streitkräften.
Ihor Dedyschyn, Geschäftsführer Sport von Ruch Lwiw, ist da weniger kategorisch. Er verweist die Gegner eines „Fußballs unter Bomben“ auf die Erfahrungen in Kroatien. „Anfang der 1990er Jahre, als sich das Land im Krieg befand, haben sie dort vier Jahre Fußball gespielt. Das war ein Weg, Zusammenhalt zu zeigen, sein Land zu unterstützen, Kroatien moralisch zu stärken“, erklärte Dedyschyn.
Präsident Wolodymyr Selensky bestand bei einem Treffen mit Andrij Pawelko, dem Chef des Ukrainischen Fußballverbands, darauf, dass die Meisterschaft ausschließlich aus patriotischen Motiven in der Ukraine veranstaltet werden solle. Er gab zu verstehen, dass er die massenhafte Abwanderung von Spielern – Männern im wehrfähigen Alter –, ins Ausland nicht dulden werde. Pawelko erklärte: „Wir haben darüber gesprochen, welche Kraft der Fußball hat, indem er den Menschen hilft, an die Zukunft zu denken. Daher haben wir gemeinsam mit dem Präsidenten beschlossen, dass wir im August die ukrainische Meisterschaft wieder aufnehmen werden.“
Für den Saisonstart der Ukrainischen Premjer Liha (UPL) wurde ein symbolisches Datum gewählt: der 24. August, der Tag der Unabhängigkeit der Ukraine. In der Premjer Liha treten wie vor dem Krieg 16 Teams an. Der Klub Mynaj aus dem westukrainischen Ush‘horod, der eigentlich hätte absteigen müssen, zog eine Wild Card und blieb in der UPL, während die Ligaplätze von Desna Tschernihiw und FK Mariupol an Metalist Charkiw (das von dem Milliardär Olexandr Jaroslawskyj wiederbelebt wurde), und an Krywbas Krywyj Rih gingen, das von der Verwaltung und Firmen in Krywyj Rih unterstützt wird. Es ist die Geburtsstadt von Präsident Selensky.
Doch der Beschluss zu spielen und in einem Land, das sich im Krieg befindet, den Ligabetrieb tatsächlich wieder aufzunehmen, sind zwei unterschiedliche Dinge: Das Stadion von Desna Tschernihiw etwa wurde bei Angriffen der russischen Armee getroffen, das Stadion von Metalist Charkiw erlebte eine Welle von Explosionen und auch in Stadien in der Nähe von Kyjiw (in Hostomel und Borodjanka) gab es einige Einschläge. Die Russen haben die Fußballarena in Mariupol zerbombt, in Bachmut und Wolnowacha sind alle Sportanlagen zerstört. Die Liste ließe sich lange fortführen.
In zehn Stadien haben die Behörden nun einen Spielbetrieb ohne Zuschauer genehmigt, so in den relativ sicheren Gebieten Kyjiw, Lwiw und Transkarpatien; für die Spiele gelten besondere Sicherheitsauflagen. Alle Personen, die am Ligabetrieb beteiligt sind, werden vom Wehrdienst freigestellt. Die Spiele müssen in Stadien stattfinden, die sich höchstens 500 Meter von einem Luftschutzraum entfernt befinden. Pro Spiel werden höchstens 280 Zuschauer zugelassen. Im Fall eines Luftalarms wird das Spiel unterbrochen und alle begeben sich in den Luftschutzkeller. Hält der Luftalarm länger als 60 Minuten an, wird die Begegnung am nächsten Tag zu Ende gespielt. Ist der Alarm relativ schnell vorbei, bekommen die Mannschaften zehn Minuten, um sich wieder warmzumachen, bevor das Spiel fortgesetzt wird.
Fußball in Kriegszeiten: mehr Chancen für junge Spieler
Zum zweiten Mal nach 2014 haben im Sommer dieses Jahres sehr viele Ausländer die UPL verlassen. Nicht nur ausländische Spieler, sondern auch Ukrainer, die zu Kriegsbeginn in Trainingslagern im Ausland waren und nicht mehr zurückgekehrt sind. Wer Glück hatte, kam bei einem europäischen Klub unter. Andere gingen in Länder, die fußballerisch eher exotisch anmuten, in asiatische Staaten, nach Kanada oder Indien. Einige beschäftigen sich statt mit Fußball nun mit Kryptowährungen.
Skeptiker sagen dem ukrainischen Fußball vor allem eines voraus: seinen Zusammenbruch. Optimisten sehen in der aktuellen Situation eine Chance, sie prognostizieren einen Aufschwung im Kinder- und Jugendbereich.
Die Wahrheit liege wohl eher in der Mitte, sagt Jaroslaw Wyschnjak, der Trainer von Kolos Kowaliwka. Nach 2014 haben einige Vereine eine sehr starke Jugendarbeit aufgebaut. Viele junge Spieler sind in Vereinen der UPL Stammspieler geworden oder ins Ausland gegangen. Ein Beispiel ist der 18-jährige Jehor Jarmoljuk, der beim englischen Klub Brentford FC einen Vertrag für die Premier League erhielt. „Viele haben zwar die Ukraine verlassen“, meint Wyschnjak, „aber schauen Sie nur, was für Trainer geblieben sind: Juri Wernydub, Roman Hrygortschuk, Mircea Lucescu, Igor Jovićević, Wiktor Skrypnyk. Die wissen, wie man mit jungen Spielern arbeiten muss, deshalb wird es bald neue Spieler geben, auf die wir stolz sein können.“
Wyschnjak ist Cheftrainer des FK Kolos aus dem Dorf Kowaliwka im Kyjiwer Gebiet. Das Team rangiert in der Premjer Liha im Mittelfeld. Experten schätzen, dass die Spiele von Kolos und sieben bis acht weiterer Vereine entscheidend dafür sein werden, wie sich das Fußballinteresse der Ukrainer in Zeiten des Krieges entwickelt. Die Qualität des Fußballs könnte nachlassen, daher rücken nicht Preise und das Niveau der Spieler in den Vordergrund, sondern die Entscheidungen von Trainern und Managern. „Die Gehälter sind erheblich zurückgegangen, die Nachfrage nach guten ukrainischen Spielern ist gestiegen, und die Manager mit der größten Weitsicht könnten zu dem Schluss kommen, dass man selbst in Kriegszeiten neue Spieler aufbauen kann, die nach dem Krieg Ablösesummen einbringen“, meint der Fußballkommentator Wiktor Wazko.
Meisterschaft der Skandale
Eine Eigenheit aus früheren Zeiten hat der ukrainische Fußball allerdings auch jetzt noch beibehalten: die Skandale.
Im März richtete sich die Wut der Fans gegen die Brüder Ihor und Hrygori Surkis, die Bosse von Dynamo Kyjiw. Medien hatten berichtet, dass sie 17 Millionen US-Dollar, eine russische Staatsangehörige und zwei Männer im wehrfähigen Alter mit dem Kleinbus außer Landes gebracht hatten. Hrygori Surkis kam daraufhin zurück, allerdings nur, um seine Uhrensammlung abzuholen.
Im Sommer sorgte dann Schachtar Donezk Aufregung: Anstelle des Italieners Roberto De Zerbi übernahm der Kroate Igor Jovićević das Team, obwohl letzterer zuvor mehrfach seine Treue gegenüber Dnipro-1 verkündet hatte. Zusätzlich entschied sich Schachtar, gegen die FIFA vors Sportgericht zu ziehen, um 50 Millionen Euro Entschädigung einzufordern. Der Grund seien die neuen Transferregeln für die UPL: Die FIFA hatte es nach dem 24. Februar ausländischen Spielern in der UPL erlaubt, die Verträge mit ihren Klubs auszusetzen und auch mitten in der Saison den Verein zu wechseln. Das war ein Schlag für jene Vereine, die vor allem auf ausländische Spieler setzen, zu denen eben auch Schachtar gehört. Der Verein aus Donezk hatte im Februar 14 Ausländer unter Vertrag, von denen er sich nun trennen musste und dabei erhebliche Geldsummen verlor. „Wir hatten keine Zeit, die Spieler zu verkaufen. Die potenziellen Käufer und auch die Agenten der Spieler mussten einfach nur den 30. Juni abwarten, um keine Ablöse an den Verein zahlen zu müssen“, erklärt Serhij Palkin, Generaldirektor von Schachtar, den Grund für die Klage.
All diese Herausforderungen, die der Krieg mit sich bringt, könnten den ukrainischen Fußball um Jahrzehnte zurückwerfen. Dringender denn je ist jetzt eine schnelle Reaktion des Ukrainischen Fußballverbands (UAF) gefragt. Dem steht seit 2015 Andrij Pawelko vor. Er übernahm das Amt unter dem Eindruck unzufriedener Fans, die forderten, den Fußball zu reformieren, die Korruption zu beseitigen und den Einfluss der Oligarchen einzuhegen.
Stattdessen ist es Pawelko gelungen, vor allem seine Macht zu zementieren. Neben der Leitung des ukrainischen Fußballs hatte er lange auch den Vorsitz im Haushaltsausschuss des Parlaments inne, und zwar für die Partei von Ex-Präsident Petro Poroschenko. In dieser Zeit hat er die Vorsitzenden der Fußball-Regionalverbände abgesetzt und dort seine Vertrauten installiert. Nach dem Sieg von Wolodymyr Selenskyj zeigte er sich auch dem neuen Präsidenten gegenüber loyal.
Am 5. März sollte ein neuer Präsident des ukrainischen Verbandes gewählt werden, doch wegen der Kriegsereignisse wurde der Verbandskongress abgesagt. Eine spannende Wahl war eh nicht zu erwarten: einen Gegenkandidaten zu Pawelko gab es nicht. Aufgrund einer Satzungsänderung ist für eine außerordentliche Neuwahl des Verbandspräsidenten oder die Nominierung eines Kandidaten eine Zweidrittelmehrheit der Teilnehmer erforderlich. Die ist derzeit schlicht unrealistisch.
„Pawelko ist unser Lukaschenko“, scherzt der ukrainische Journalist Michail Sliwakowskyj. Sein Kollege Roberto Morales ist überzeugt, dass Pawelko deshalb eine Wiederwahl braucht, damit er im Exekutivkomitee der UEFA bleiben kann. Wenn er bis Dezember nicht wiedergewählt wird, könnte er seinen Posten verlieren.
Unterdessen nutzt Russland den Fußball, um seine imperialen Ideen zu verfolgen. Im Juli sprach Odes Bajsultanow, stellvertretender Sportminister Russlands, über Pläne, einen Ligawettbewerb mit Vereinen von der besetzten Halbinsel Krim, aus den sogenannten Volksrepubliken im Donbass, den besetzten Teilen der Gebiete Cherson und Saporishshja sowie aus Abchasien und Südossetien zu veranstalten. Den Russen ist klar, dass sie sich damit weitere Sanktionen der UEFA einhandeln könnten, daher wird diese Sonderliga für „befreundete Republiken“ in einem Format angekündigt, das keine russische Beteiligung vorsieht. Die Liga soll 2023 starten, doch zuvor haben sie mit dem Widerstand der ukrainischen Armee zu rechnen.
Autor: Yuriy Konkevych
Übersetzer: Hartmut Schröder
Veröffentlicht am: 23.08.2022Weitere Themen
Vom Fußball und Erwachsenwerden
Zitat #12: „Meine Stadt stirbt einen qualvollen Tod“
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„Solange die Hälfte des Landes im Zombie-Zustand verharrt, wird nichts besser“
Russlands Krieg gegen die Ukraine wird auch in den Köpfen der Menschen geführt. Das Politische schneidet dabei so scharf ins Private ein, dass ganze Familien zerbrechen. Seit der Invasion passiert das in Russland zigfach, noch mehr als das ohnehin schon seit 2014 und dem Krieg im Donbass der Fall war. Diese Kluft verläuft entlang der offiziellen Linie der russischen Führung, zwischen Eltern und ihren Kindern, unter Geschwistern, ja sogar Eheleuten. Der bekannte russische Journalist Andrej Loschak hat darüber einen Dokumentarfilm gedreht: Rasryw Swjasi (dt. Beziehungsabbruch). Er wurde auf YouTube veröffentlicht, eine der wenigen Nischen, in der in Russland noch kritische Standpunkte zum Krieg zu finden sind.
Mit Loschak hat die ukrainische Journalistin Anna Filimonowa, Herausgeberin des Online-Magazins Majak, für Holod über seinen Film gesprochen – über Mütter, die Putin alles glauben, das Klammern an Mythen und die letzten Chancen des Zweifelns.
Hier gibt es die Doku Rasryw Swjasi (dt. Beziehungsabbruch) mit englischen Untertiteln
Anna Filimonowa: Ich wollte Sie eigentlich zunächst fragen, seit wann Sie sich für das Thema Ukraine interessieren. Doch in Ihrer Dokumentation Rasryw swjasi geht es im Grunde gar nicht um die Ukraine, oder?
Andrej Loschak: Das ist heute schwer zu trennen – es ist nicht das erste Mal, dass Russland in die Ukraine einmarschiert und dort einen Krieg beginnt. Leider hängt die Situation in der Ukraine jetzt davon ab, was die Russen dazu denken und fühlen. Da gibt es eine direkte Verbindung: Je mehr Russen aufhören, das Vorgehen der Regierung zu unterstützen, desto schneller wird die Aggression vorbei sein. Und für mich als Journalist, der immer mit dem russischen Kontext gearbeitet hat, lag es in der Natur der Sache, etwas darüber zu machen, wie das alles in Russland wahrgenommen wird. Allein schon, weil ich viel weniger davon verstehe, wie es die Ukrainer wahrnehmen.
Die Idee mit der Kluft zwischen Familienmitgliedern hatte ich eigentlich seit 2014. Schon damals hat die Krim die Gesellschaft stark polarisiert. Wobei es jetzt, wie mir scheint, mehr Menschen gibt, die gegen den Krieg sind – oder zumindest zweifeln. Weil sie diesmal nicht mit irgendwelchen Märchen über grüne Männchen durchkommen und von Anfang an alles schiefgelaufen ist. Die Menschen sehen, dass das eine blutige, schwerwiegende, furchtbare Geschichte ist, sodass trotz allem Zweifel aufkommen.
Je mehr Russen aufhören, das Vorgehen der Regierung zu unterstützen, desto schneller wird die Aggression vorbei sein
Ich habe mir diese Mütter in Ihrem Film angesehen und hatte den Eindruck, dass für sie allein schon der Gedanke unerträglich ist, dass ein russischer Soldat vergewaltigen, plündern und Zivilisten töten kann. Sie schieben diese Vorstellung weit von sich – das kann nicht wahr sein, das ist Fake. Meines Erachtens ist das ein sehr wichtiger Aspekt, denn er zeigt, dass nicht alles Menschliche in ihnen abgestorben ist.
Natürlich. Für mich ist genau das der Knackpunkt des Films: Eigentlich sehen wir ganz normale Menschen. Das heißt, sie sagen ziemlich ungeheuerliche Sachen, aber wir sehen auch, dass sie liebende Eltern, Ehemänner und dergleichen sind. Das war der Grund, warum ich familiäre Beziehungen zum Thema machte – die sind immer sehr menschlich: Man sieht lebendige Gefühle, Leiden, Freude etc. Auch hier. Aber wenn sie über das zu sprechen anfangen, was in der Ukraine passiert, verlieren sie ihre Menschlichkeit irgendwie. Ob sie jetzt Zombies sind oder Unmenschen – irgendetwas stimmt mit ihnen nicht. Ihre Gedanken sind nicht ihre Gedanken. Als ob sie nicht mit eigenen Worten sprechen würden. Ihre Stimmen, die Intonation, ihr Gesichtsausdruck – an allem sieht man, dass das nicht ganz sie sind. Als würde etwas von ihnen Besitz ergreifen, ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Das ist wahrscheinlich etwas Psychologisches oder Psychiatrisches.
Die Menschen haben 22 Jahre lang gedacht, dass alles mehr oder weniger okay ist. Und dann sagt man dir plötzlich, dass Russland mittlerweile als eine Art faschistisches Deutschland wahrgenommen wird
Wenn sie den Gedanken zulassen würden, dass die Russen das alles wirklich machen, dass sie auf fremdem Territorium Menschen umbringen, dann wäre das sehr schlimm für sie, sehr schockierend. Mit diesem Gedanken will die Mehrheit der Menschen, nach allem zu urteilen, einfach nicht leben.
Diese Menschen haben 22 Jahre lang gedacht, dass alles gut ist, dass Putin unser Präsident, unser nationaler Leader ist, dass er gegen Feinde der Heimat kämpft, gegen den Westen, der uns zerstören will. Ihnen schien, dass alles mehr oder weniger okay ist. Und dann sagt man dir plötzlich, dass Russland mittlerweile als eine Art faschistisches Deutschland wahrgenommen wird. Es ist sehr schwer, das zu glauben, es ist sehr schwer, das zu akzeptieren. Der Mensch ist offenbar so angelegt, dass er sich bis zuletzt an irgendwelche Mythen klammert wie an Rettungsringe, die sein Bewusstsein ihm hinwirft. „Unsere Soldaten sind zu so etwas schlichtweg nicht imstande.“ Wirklich nicht? Haben Sie gesehen, was sie in Tschetschenien angerichtet haben?
Der Mensch ist offenbar so angelegt, dass er sich bis zuletzt an irgendwelche Mythen klammert wie an Rettungsringe
Ich habe Bücher über einfache Leute und über Soldaten im Dritten Reich gelesen, die ungeheuerliche Verbrechen begingen, aber bis dahin ganz normale Bürger waren. In ihren Verhörprotokollen ging es darum, wie sie sich verhalten haben und warum sie sich so verhalten haben. Sie sagten, sie wollten dazugehören. Alle machen das, soll ich etwa nicht? Bin ich etwa keiner von ihnen? Bin ich denn schwach, bin ich feige? Nein, ich will auch dabei sein. Man will nicht in der Minderheit sein – das macht Angst. Wenn man zur Mehrheit gehört, fühlt man sich irgendwie wohler. Und dann zimmert man sich seine Realität zurecht: Unsere Soldaten würden das nie tun. Punkt. Sie glauben das ja wirklich. Es ist nicht so, dass sie mich zynisch hinters Licht führen wollten, sondern sie glauben das.
Ihr Film wurde in Tbilisi öffentlich gezeigt, und die Zuschauer lachten an den Stellen, wo Befürworter des Kriegs sprachen. Hat Sie das beeindruckt?
Ich habe davon gehört, dass die Leute gelacht haben, ja. Und meine Redakteurin Darina Lukutina sagte, dass das wie eine Schutzreaktion klang, ein sehr nervöses Lachen. Ich habe im Grunde kein Problem damit, wenn jemand über Dummheit oder logische Ungereimtheiten lacht – davon gibt es in den Antworten jener, die für den Krieg sind, genug, und ich habe bewusst versucht, sie herauszustellen.
Es gibt da auch einen interessanten Effekt. Sie übernehmen quasi irgendwelche Formeln aus dem Fernsehen oder woher auch immer. Doch wenn man weiterbohrt und versucht, in die Tiefe zu gehen, fangen sie an, sich zu widersprechen und zu stammeln wie Studenten bei einer Prüfung, für die sie nicht gelernt haben. Das zu zeigen, war mir wichtig. Wie Menschen, die sich vor der Realität verstecken, einfach das glauben, was ihnen die Propaganda vorgaukelt. Aber die Propaganda benimmt sich oft seltsam – wenn sie etwas richtig verschissen haben, dann verbreiten sie einfach tonnenweise unterschiedliche Versionen und überfluten den Informationsraum mit Dreck. So wie bei Butscha. So kriegt man das Gefühl, dass alle lügen, und glaubt niemandem mehr – auch den Ukrainern nicht.
Sie sind Menschen, normale Bürger, die sich auf diese Weise über Wasser halten. Doch das befreit sie nicht von ihrer Verantwortung, auf keinen Fall
Ich glaube nicht, dass das Publikum aus Herzlosigkeit gelacht hat. Und ich wollte meine Protagonisten auch nicht karikieren und lächerlich machen. Ich wollte, dass die Zuschauer in ihnen Menschen sehen. Weil das alles sehr komplex ist, sie sind nicht einfach irgendwelche Trolle oder Orks. Sie sind Menschen, normale Leute, die sich auf diese Weise über Wasser halten. Doch das befreit sie nicht von ihrer Verantwortung, das auf keinen Fall.
Sie sprechen davon, wie brüchig ihre Haltung ist. Wobei es unmöglich ist, sie von etwas anderem zu überzeugen.
Das ist deswegen unmöglich, weil es ein Glaube ist und sich somit außerhalb jeglicher Logik befindet: Es ist absurd, also glaube ich.
In Ihrem Film spricht eine Psychotherapeutin über eine narzisstische Spaltung: ein beklemmendes Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit, das man mit einem Gefühl von Grandiosität bekämpft. Das wird als narzisstischer Schutz bezeichnet. Mit der Mutter dieser Psychotherapeutin hatte ich am meisten Mitgefühl, weil sie so vertrauensselig in dieser Falle sitzt und inständig glaubt, für das Gute zu sein, aber in Wirklichkeit auf der Seite des Bösen steht. Was alle anderen betrifft, kommt natürlich so ein Gefühl auf, wo man auf Revanche hofft: Ich warte auf den Moment, wenn ihr endlich die Wahrheit erfahrt. So einen Film würde ich mir gern anschauen. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob das je passieren wird.
Ja, ich träume auch davon, das zu sehen. Nicht aus Schadenfreude – für mich als jemanden, der immer noch russischer Patriot ist und dem Land nur das Beste wünscht, ist es wichtig, dass diese Leute aufwachen. Das Entsetzen in ihren Augen zu sehen – das wäre ein Meilenstein auf dem Weg zu einer umfassenden Genesung. Das würde ich gern noch erleben. Denn solange mindestens die Hälfte des Landes in einem realitätsfremden Zombie-Zustand verharrt, wird in diesem Land nichts besser werden. Und das ist eine echte Bedrohung für die ganze Welt.
Es ist wichtig, dass diese Leute aufwachen. Das Entsetzen in ihren Augen zu sehen – das wäre ein Meilenstein auf dem Weg zu einer umfassenden Genesung
Ich weiß nicht, was die Soldaten denken. Ich würde ja gern eine Methode erfinden, wie ich in die Köpfe jener Leute hineinkriechen kann, die die Kriegsverbrechen verübt haben. Die Protagonisten von Rasryw swjasi kann man als Opfer betrachten – sie wurden gehirngewaschen, für dies und jenes drohen Haftstrafen, sie haben Angst und all das. Aber sie sind nicht direkt an Kriegsverbrechen beteiligt. Doch die, die im Krieg sind – ich würde nur zu gern wissen, was in ihnen vorgeht, was sie antreibt zu tun, was sie tun.
Verfolgen Sie weiterhin, was mit Ihren Protagonisten passiert? Diejenigen, die in Russland leben und gegen den Krieg sind, gehen ja bestimmt ein Risiko ein. Hat sich in ihrem Leben etwas verändert?
Noch scheint alles relativ okay zu sein. Bis auf ein paar nervenaufreibende Anrufe ist bisher nichts passiert. Es sah zwar so aus, als gäbe es [für die staatliche Willkür] überhaupt kein Halten mehr, aber vielleicht doch. Den Leuten wird nicht einfach gekündigt, nur weil sie im Film sagen, dass sie gegen den Krieg sind. Mehr sagen sie ja nicht, sie sagen nichts Strafbares. Nur: Wir wollen keinen Krieg.
Halten Sie es für möglich, dass Sie nie mehr nach Russland zurückkehren können?
Ja. Wahrscheinlich ist mir das noch nicht sehr bewusst, aber ich will nicht so wie die Protagonisten in meinem Film sein und mich an irgendwelche illusorischen Konstrukte klammern. Man muss sich deutlich bewusst machen, dass diese Möglichkeit besteht. Die Erfahrung früherer Migrationswellen zeigt, dass sich das jahrzehntelang hinziehen kann.
Noch habe ich keine nostalgischen Anfälle von Heimweh, weil diese Erfahrung ja noch ganz frisch ist. Später wird das schon noch kommen, aber darum geht es nicht. Das Problem ist, dass mein Beruf mit Russland verbunden ist. Das ist das, wo ich mich halbwegs kompetent fühle: Ich kann Geschichten aus der russischen Pampa erzählen, über Russland und die russische Mentalität. Mich haben die Paradoxa dieser Mentalität immer interessiert, und damit habe ich gearbeitet. Ich kannte die Antworten nicht, aber ich wusste, welche Fragen ich stellen will. Jetzt muss ich mich wohl irgendwie umorientieren. Hinfahren [nach Russland] wird kaum gehen, dabei mache ich hauptsächlich Reportagen: Man fährt an den Ort, in die Gegend, und unterhält sich mit den Leuten dort. Wie es für mich jetzt ohne dieses Land weitergehen soll, das ist die große Frage.
Wie es für mich jetzt ohne Russland weitergehen soll, das ist die große Frage
Wahrscheinlich wird sich mit der Zeit der Kontext ändern, es werden andere Interessen dazukommen. Aber ich stelle mir auch die Frage: Wozu machst du das? Weil ich eigentlich schon die russische Zielgruppe vor Augen hatte. Für wen soll ich sonst arbeiten, wenn nicht für sie? Wenn die Verbindungen jetzt endgültig abreißen – wenn das Internet abgedreht wird oder einfach bei jedem, der irgendetwas aus dem Ausland anklickt, sofort Genosse Major anklopft. Das ist denkbar, es geht in diese Richtung, ich bin darauf gefasst. Aber es macht mich fertig.
Ich kann die Ukrainer nicht dazu bewegen, mit den Russen mitzufühlen, aber ich glaube, wir vergessen manchmal, dass ihr euer Land verliert. Wir verlieren unser Land nicht. Es stimmt, uns droht der Tod, aber was uns bleibt, ist unser Land.
Ja, das ist ein grundlegender Unterschied. Ihr habt ein Land, in das ihr zurückkehren könnt. Also, natürlich müsst ihr euch erstmal von dieser Horde befreien, aber dann könnt ihr zurückkehren und aufbauen. Und ihr wisst, was ihr bauen wollt und wie. Bei uns herrscht absolute Ungewissheit. Vor uns liegt die Finsternis, ansonsten sieht man nichts mehr.
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„Die große Politik ist für Lukaschenko vorbei”
Bei der Konferenz Neues Belarus, die kürzlich vom Büro Swetlana Tichanowskaja in Vilnius organisiert wurde, ging es zuweilen hoch her, was sicher auch Ausdruck einer vitalen demokratischen Kultur ist, die von der neuen belarussischen Diaspora gelebt wird. Seit geraumer Zeit steht die belarussische Oppositionsführerin in der Kritik, die aus den eigenen Reihen kommt. Auch um den Kritikern entgegenzukommen und verschiedene oppositionelle Initiativen und Gruppen besser zu repräsentieren, wurde ein fünfköpfiges Exilkabinett beschlossen, dem neben Pawel Latuschko vom Nationalen Anti-Krisenmanagement unter anderem auch Alexander Asarow, Chef der Initiative BYPOL angehören. Ob dieses Kabinett ein effektiveres Instrument ist, um Einfluss auf politische Entwicklungen in Belarus selbst zu nehmen, wird von Experten wie Alexander Klaskowski mitunter bezweifelt. Größere Einflussmöglichkeiten hat die Opposition indes in der Außenpolitik. „Faktisch ist Tichanowskajas Büro“, so urteilt der Politikanalyst Waleri Karbalewitsch, „zum alternativen belarussischen Außenministerium geworden, und zwar einem viel wirkungsvolleren als das offizielle Außenministerium unter der Führung von Wladimir Makei.“
Die große Politik für Alexander Lukaschenko sei indes vorbei, meint der belarussische Journalist Igor Lenkewitsch. Dem belarussischen Machthaber bleiben vor allem Treffen mit Wladimir Putin, mit dem ihn eine fatale Abhängigkeit verbindet. Vor dem Hintergrund des Besuches von Denis Puschilin, dem Anführer der selbsternannten Donezker Volksrepublik (DNR), in Belarus analysiert Lenkewitsch im belarussischen Online-Medium Reform.by, dass sich Lukaschenko außenpolitisch in eine ausweglose Position gebracht habe, die auch die Unabhängigkeit des Landes bedrohe.
Der Präsident der selbsternannten Donezker Voklksrepublik (DNR) Denis Puschilin war nach Brest gereist. Dort besuchte er gemeinsam mit dem Generalsekretär der Partei Einiges Russland, Andrej Turtschak, dem Botschafter der Russischen Föderation in Belarus, Boris Gryslow, und anderen Delegationsmitgliedern aus der Pseudorepublik die Gedenkstätte Brester Festung. Am Ewigen Feuer legte man Blumen nieder.
In seiner Erklärung nannte Puschilin Brest eine Stadt, die zum „Vorbild für Mut und Widerstand des russischen Soldaten“ geworden sei. Hier stellt sich die Frage: Warum nur „des russischen“? Die Brester Festung wurde schließlich von Soldaten verschiedener Nationalitäten der UdSSR verteidigt. Und an 1939 wagt man ja kaum zu erinnern. Dennoch setzte Puschilin den Akzent ausschließlich auf den „russischen Soldaten“. Zufall? Oder steht der „russische Soldat“ für das russländische Imperium? Hält Puschilin damit auch Brest, das Vorbild des russischen Heldenmutes, für russisch? Bedeutet das, dass Russlands ambitionierte Pläne territorial so weit reichen? Wie angemessen sind solche Äußerungen überhaupt in einem fremden Land?
Bis zu diesem Besuch hatte die belarussische Regierung von offiziellen Gesprächen mit Vertretern von DNR und LNR abgesehen, mit Ausnahme eines Austauschs in der Trilateralen Kontaktgruppe. Den Donbass hatte der Parlamentsabgeordnete Oleg Gaidukewitsch gemeinsam mit einer Delegation seiner Partei LDPB besucht. Der in Minsk nach der erzwungenen Landung des Ryanair-Fluges festgenommene Blogger Roman Protassewitsch gab an, in Minsk von Ermittlern aus der sogenannten LNR befragt worden zu sein. Dazu äußerte sich im August 2021 auch Lukaschenko. Das war alles. Sollte es weitere Kontakte gegeben haben, so wurde es vorgezogen, sie nicht an die große Öffentlichkeit zu tragen.
Gute Auswege gibt es für das offizielle Minsk einfach nicht mehr
In einem Interview mit der französischen Nachrichtenagentur AFP sagte Lukaschenko, er sehe keine Notwendigkeit und keinen Sinn in der Anerkennung der besetzten ukrainischen Gebiete Donezk und Lugansk als unabhängige Staaten, ebenso verhalte es sich mit der von Russland besetzten Krim. „Sollten die Krim, Lugansk und Donezk Lebensmittel, Ziegel, Zement oder Unterstützung beim Wiederaufbau benötigen, werden wir sie unterstützen. Wenn es notwendig ist, werden wir sie anerkennen. Wenn das irgendeinen Sinn ergeben sollte. Doch welchen Sinn hat es heute, ob ich sie öffentlich anerkenne oder nicht?“, erläuterte Lukaschenko seine Position.
Hat sich die Situation seitdem geändert? Gibt es mittlerweile diesen Sinn? Eine Wahrscheinlichkeit besteht. Der Kreml könnte Druck auf Lukaschenko ausüben und die Erfüllung der Unionsverpflichtungen einfordern. Möglich ist auch, dass Moskau die ewigen Ausflüchte des offiziellen Minsk leid ist und nun entschieden hat, dass die Zeit für die Anerkennung gekommen ist. Aus praktischen Gesichtspunkten gibt es für Russland keinen besonderen Sinn, außer dass es Lukaschenko noch mehr die Hände binden würde. Die Anerkennung der Separatistenregionen auf ukrainischem Gebiet als eigenständige Staaten würde die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine sowie deren Verbündeten nur noch zusätzlich belasten. Minsk zu nötigen, Puschilin zu empfangen, ist außerdem eine gute Option für Moskau, den Verbündeten auf seinen Platz zu verweisen.
Letztlich ist auch eine andere Variante denkbar: Es wird keine offizielle Anerkennung von DNR und LNR geben, da der Kreml „Referenden“ vorbereitet, die über den Beitritt der Separatistengebiete zur Russischen Föderation befinden sollen. Eine Anerkennung wäre dann gar nicht nötig. Es wird einfach mitgeteilt, dass die Vertreter der DNR angereist sind, um im Kontext des Hilfsangebotes der belarussischen Seite ihren Bedarf an Zement und Lebensmitteln zu formulieren.
Damit würde jedoch das Problem nur aufgeschoben. Denn es ergibt sich unvermeidlich die Frage nach der Anerkennung der Moskauer „Referenden“. Hier wird der Kreml seinem Verbündeten in jedem Fall die Daumenschrauben anlegen. Gute Auswege gibt es für das offizielle Minsk einfach nicht mehr. Es bleibt lediglich die Hoffnung auf Erfolge der ukrainischen Armee, die solche „Referenden“ verhindern würde.
Die große Politik ist für Lukaschenko vorbei
Oder einfach abwinken und tun, was Moskau will? Den vom Kreml zugewiesenen Platz einnehmen? Denn die bloße Tatsache des Besuchs der DNR-Delegation stellt Belarus letztlich in eine Reihe mit dieser Pseudorepublik. Man kann sich ohne Ende hinter „de jure“ und „de facto“ verstecken und der Welt weismachen, dass man niemanden anerkannt hat, sondern nur den Bedürftigen hilft – das alles sind Argumente zugunsten der Armen. Die niemand glaubt. Die große Politik ist für Lukaschenko vorbei. Kamen früher noch die deutsche Kanzlerin, der französische Präsident oder der US-Außenminister nach Minsk, ist es heute nur Puschilin. Und gerade dieser Besuch definiert Belarus‘ aktuelle Position in der politischen Konstellation des Kreml.
So tummelt sich also die DNR in Brest, und Puschilin macht zweideutige Bemerkungen. Belarus ist gezwungen, einen Menschen zu empfangen, dem nicht nur die ukrainische, sondern auch die belarussische Unabhängigkeit keine Kopeke wert sind. Für den Brest höchstwahrscheinlich – wie auch Poltawa und Odessa – eine „russische Stadt“ ist. Den Moskau als Sturmbock für die Eroberung von Gebieten eines Nachbarstaates einsetzt, für die „Befreiung“ von Städten, „von russischen Menschen gegründet“. Die Glocke läutet, und dieses Läuten ist sehr besorgniserregend.
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„Man setzt darauf, dass die Europäer einknicken“
Russland liefert derzeit deutlich weniger Erdgas nach Westeuropa, berief sich zwischenzeitlich auf „höhere Gewalt“ und mehrmals auf Wartungsarbeiten. Zahlreiche europäische Politiker halten das für Vorwände und Taktik mit dem Kalkül: Der Westen solle gezwungen werden, die wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine verhängten Sanktionen zurückzunehmen, um im Gegenzug im nächsten Winter nicht zu frieren. Seit diesem Dienstag gilt ein Notfallplan der EU, um Gas sorgsamer zu verbrauchen und für den Fall eventueller Lieferstopps vorzusorgen.
Besonders abhängig vom russischen Gas ist und bleibt Deutschland. Entgegen der erhitzten deutschen Debatte, lässt sich eine schwere Gaskrise laut Experten für diesen Winter – jedenfalls mit rechtzeitigen Sparmaßnahmen – noch abwenden. Deutsche Gasspeicher sind im Moment mehr als 70 Prozent gefüllt, 90 sollten es werden, so das angestrebte Ziel.
Was auf der anderen Seite das Erdöl angeht: Die Preise sind schon massiv gestiegen, die EU will ihre russischen Importe bis Jahresende um rund 90 Prozent reduzieren.
Doch welche Folgen haben Sanktionen und Gas-Lieferstopps eigentlich für Russland selbst? Immerhin speist sich der russische Staatshaushalt größtenteils aus Rohstoffexporten, die wiederum größtenteils nach Westeuropa gehen. Wird diese Geldquelle wirklich versiegen? Verfolgt Russland Pläne, um das zu kompensieren? Wenn ja, wie erfolgversprechend sind diese Ansätze? Und woher kommt das Geld für den Krieg gegen die Ukraine?
Darüber hat The New Times-Chefredakteurin Yevgenia Albats mit dem Öl- und Gasmarkt-Experten Michail Krutichin und dem Wirtschaftsjournalisten Wladimir Gurewitsch gesprochen.
Yevgenia Albats: Wie stark sinken die Staatseinnahmen durch das europäische Embargo auf russisches Erdöl?
Wladimir Gurewitsch: Im Moment kommen etwas mehr als 50,3 Prozent unserer Haushaltseinnahmen aus dem Erdgas- oder Erdölgeschäft. Dieser Anteil ändert sich ständig durch Ölpreisschwankungen. Das ist ein wichtiger, doch nicht der einzige Indikator. Die Erdöl- und Erdgasindustrie hat eine viel größere Bedeutung für unsere Wirtschaft. Denn aus den Gewinnen der Erdöl- und Erdgasunternehmen und der erdölverarbeitenden Industrie (die Gewinnsteuer liegt bei 20 Prozent) fließen 17 Prozent in die Haushalte der Regionen. Wenn diese Unternehmen plötzlich weniger produzieren, dann ist klar, wohin das führt. Das ist Punkt eins. Punkt zwei: Das sind Unternehmen, in denen die Menschen, selbst die einfachen Arbeiter, ganz gut verdienen. In diesen Unternehmen arbeiten hunderttausende Menschen. Wenn ihre Löhne sinken oder ein Teil entlassen werden muss, führt auch das zu geringeren Einnahmen in den Haushalten der Regionen. Zudem gehen weniger Sozialversicherungsbeiträge ein.
Der Erdöl- und der Erdgassektor sind die größten Auftraggeber für die inländische Industrie
Punkt drei: Der Erdöl- und der Erdgassektor sind die größten Auftraggeber für die inländische Industrie – Metallverarbeitung, Maschinenbau, Transportwesen, Baugewerbe. Wenn sie da, mal angenommen, 150 Millionen Tonnen im Jahr weniger fördern, dann stagnieren auch die Aufträge in all diesen Branchen. Insofern geht es also bei weitem nicht nur um die Mindereinnahmen im föderalen Haushalt.
Können wir diese Mindereinnahmen nicht wenigstens teilweise kompensieren? Der Export nach Indien soll sich um das Vierfache erhöht haben …
Michail Krutichin: Indien reduziert die Importe aktuell bereits wieder.
W.G.: China ebenfalls.
M.K.: Und zwar gravierend, die Hoffnungen waren wohl nicht ganz gerechtfertigt. Daher sollten wir uns nicht an Indien orientieren. Zumal da Konkurrenz mit Saudi-Arabien und angrenzenden Staaten besteht. Das Erdöl aus Russland zu exportieren, zumal mit dem riesigen Rabatt von 30 Prozent, das bedeutet kolossale Anstrengungen, Aufwendungen, Ausgaben für Transport und so weiter. Auch besteht die Gefahr, dass das russische Erdöl und andere Flüssigtransporte aufgrund der Sanktionen nicht mehr versicherbar sind. Daher ist Indien so zurückhaltend bei Erhöhungen der Erdölimporte aus Russland.
Wir sollten uns nicht an Indien orientieren. Zumal da Konkurrenz mit Saudi-Arabien und angrenzenden Staaten besteht
Für den Staatshaushalt gibt es verschiedene Überlegungen. Wenn die Erdölförderung um 56 Prozent fällt – die Förderung lag im vergangenen Jahr bei 524 bis 526 Millionen Tonnen, wenn also 250 bis 260 oder gar 300 Millionen verschwinden, dann ist das ein schwerer Schlag für die Einnahmen. Wenn wir sagen, dass 50 Prozent aus Erdöl- und Erdgaseinnahmen in den Staatshaushalt fließen, dann bezieht sich das auf drei Steuerarten: die Abbausteuer für Bodenschätze, die Ausfuhrsteuer und die Energiesteuer für Kraftstoffe. Und was ist mit den [Staatseinnahmen – dek] durch die Gewinnausschüttungen der Erdölunternehmen? Und mit dem erwähnten Einnahmerückgang der Regionalhaushalte und mit dem sinkenden Steueraufkommen durch Rückgang der Lohnsteuereinnahmen? Und das ist noch nicht alles. Tatsächlich sprechen wir insgesamt von 70 Prozent des Staatshaushalts. Wenn wir die Erdölförderung also halbieren, was bleibt dann noch vom Staatshaushalt?
Das genau zu beziffern ist unmöglich, weil wir weder die künftigen Preise kennen noch konkrete Zahlen, wie die Sanktionen wirklich umgesetzt werden und wie stark Russland die Erdölförderung zurückfährt. Aber es wird auf jeden Fall sehr viel.
Und was geschieht mit den Erdölanlagen, wenn die Förderung derart stark reduziert werden muss?
M.K.: Ja, das ist den Erdölunternehmen sehr wohl bewusst. Zunächst einmal wird kein Erdölunternehmen, ausgenommen das staatliche Rosneft, neue Vorkommen erschließen oder welche antasten, die erst kürzlich erschlossen wurden. Wer wird heute investieren, wenn der Gewinn erst in 10 bis 15 Jahren zu erwarten ist? Und wer weiß schon, was in diesen 10 bis 15 Jahren noch alles passiert?
Zunächst einmal wird kein Erdölunternehmen, ausgenommen das staatliche Rosneft, neue Vorkommen erschließen
Erfahrung mit der Stilllegung von Bohrlöchern haben wir schon aus der Zeit, als die Förderung durch Vorgaben der OPEC+ eingeschränkt werden musste. Damals wurde vor allem die Förderung aus Quellen mit niedrigem Ertrag gedrosselt, also es wurden die ineffektivsten Bohrlöcher stillgelegt. Jetzt muss man aber weitergehen, sie schließen oder konservieren. Unter russischen Bedingungen ist das schwierig, denn ein Teil der Ölquellen befindet sich im hohen Norden. Dort sind die Bohrlöcher anderthalb bis zwei Kilometer tief. Wenn dieser Flüssigkeitspfahl einfriert, bilden sich gigantische Pfropfen, die man später nur unter Aufwendung hoher Kosten wieder entkonservieren kann, gegebenenfalls muss man komplett neu bohren.
Halten wir also fest, der Einnahmeausfall im Staatshaushalt durch das Öl-Embargo kann etwa 30 Prozent betragen – liege ich richtig?
M.K.: Sogar mehr.
Gut, also 30 bis 40 Prozent. Gleichzeitig lese ich letzte Woche in der Financial Times und im Economist, dass Gazprom die Gaslieferungen nach Europa reduziert, dass Europa in Panik aufkommt, weil es zu erfrieren fürchtet. Gibt es denn auf russisches Gas noch keine Sanktionen?
M.K.: Auf Gas gibt es keine Sanktionen. Selbst im 7. Sanktionspaket, das die EU gerade vorbereitet, ist keine Rede von Gas. Der Gazprom-Konzern hat aber gegenüber vier europäischen Abnehmern höhere Gewalt geltend gemacht. Aus Gründen, auf die man keinen Einfluss habe, könne man die Verpflichtungen gegenüber den Kunden nicht erfüllen.
Europa wurde der Gaskrieg erklärt. Das ist eine Reaktion darauf, dass Europa unabhängig von russischem Gas zu sein plant
Was bedeutet das? Ich habe versucht zu verstehen, ob es für solche außergewöhnlichen Umstände irgendwelche unüberwindbaren Faktoren im technischen oder wirtschaftlichen Bereich gibt. Ich habe keine gefunden.
Europa wurde also der Gaskrieg erklärt. Das ist eine Reaktion darauf, dass Europa in zwei bis fünf Jahren unabhängig von russischem Gas zu sein plant. Nun läuft eine Art Wettlauf. Die russische Regierung meint: ‚Wenn ihr so mit uns umgeht, zeigen wir euch mal, wie es ohne russisches Gas aussieht. Und so drehen wir euch unter einem passenden Vorwand – in unserem Fall höhere Gewalt – den Gashahn zu.‘
Wenn ich Sie richtig verstehe, dann zeigt Russland Europa den Mittelfinger: Ihr wollt uns drohen? Hier hast du die Granate, Faschist – wie wir in der Kindheit sagten. Dennoch berührt all das unsere Staatseinnahmen. Wenn wir Europa geißeln, ist das vermutlich schmerzhaft für Europa, doch was wird aus unserem Haushalt? Das Erdöl fließt nicht, und da begrenzen wir auch noch selbst den Gasexport? Und wohin soll all das Gas gepumpt werden, das durch alle diese unendlichen Pipelines fließt, Jamal, TurkStream und wie sie alle heißen.
M.K.: Das kommt dem Mord an Gazprom gleich: Kommt, wir wischen Europa mal eins aus und vernichten Gazprom als Gasexporteur. Es bleibt nur eine kleine Pipeline über die Türkei auf den Balkan, die aus politischen Gründen ebenfalls geschlossen werden kann. Nach China haben wir eine Rohrleitung, durch die vergangenes Jahr 10 Milliarden Kubikmeter Gas geflossen sind. Das ist die Sila Sibiri, die bis 2025 ihr Maximum erreichen und bis zu 38 Milliarden Kubikmeter liefern soll. Die Chinesen haben einer Mehrabnahme von 10 Milliarden Kubikmetern zugestimmt. Was mit den restlichen fast 20 Milliarden ist, ist unklar.
Das kommt dem Mord an Gazprom gleich. Kommt, wir wischen Europa mal eins aus und vernichten Gazprom als Gasexporteur
Ich habe den Eindruck, unser Präsident lebt in der Illusion, er könne heute oder morgen einen Traum verwirklichen, den er seit Jahren bei unterschiedlichen Anlässen erläutert hat. Nach dem Motto: Ich hab das alles durchkalkuliert. Er sagte, wir würden die Gasleitungen in den Westen mit denen im Osten verbinden und den Gasstrom von Asien Richtung Europa und von Europa Richtung Asien beliebig umschalten, je nachdem, was für uns vom Preis her gerade günstiger ist. Doch das funktioniert so nicht. Alle Rohre führen nach Europa, so viele Rohre, mehr als Europa benötigt. Es gibt aber keine Pipeline, die das Gazprom-Gas von der Jamal-Halbinsel, wo es neue Vorkommen und gute Fördermengen gibt, nach Asien transportieren kann.
Um diese Lagerstätten mit China zu verbinden, um eine Pipeline mit einer Kapazität von 100 Milliarden Kubikmetern im Jahr zu bauen, braucht es 10 bis 15 Jahre. Der Präsident denkt aber, wie es mir scheint, dass er das gleich morgen erledigen kann. Er hat Gazprom öffentlich angewiesen: ‚Ich habe Gazprom den Auftrag erteilt, umgehend die Infrastruktur für den Transport von Gas in die asiatische Richtung zu organisieren.‘ Wie soll das umgehend möglich sein? Wie lange wird ein solcher Bau dauern?
Ich habe den Eindruck, unser Präsident lebt in der Illusion, er könne heute oder morgen einen Traum verwirklichen, den er seit Jahren bei unterschiedlichen Anlässen erläutert hat
Zudem werden die Chinesen nicht so viel Gas abnehmen. Es hat so viele Gespräche mit den Chinesen gekostet, um sie von Sila Sibiri zu überzeugen und von den 10 Milliarden Kubikmetern aus den Förderstätten im Fernen Osten. Eine Erhöhung der Gasimporte aus Russland steht aber in keinem chinesischen Plan. In keiner Berechnung, in keinem staatlichen oder nichtstaatlichen chinesischen Plan gibt es diese Pipeline. Deshalb richtet seine Illusion großen Schaden an: Kommt, jetzt wischen wir Europa eins aus. Da geht dann allerdings auch Gazprom bei drauf …
W.G.: Wenn es keine Lieferungen mehr nach Europa gibt, dann bliebe letztlich nur China als Abnehmer von Pipeline-Gas, andere Möglichkeiten gibt es nicht. Eine weitere theoretische Variante ist die Umwandlung in Flüssigerdgas und die Verschiffung über den Arktischen Ozean. Dazu müsste man, ähnlich wie der Erdgasförderer Nowatek, eine große Menge an Flüssigerdgas-Fabriken wie Jamal LNG oder Arctic LNG 2 bauen. Und Absatzmärkte finden.
Eine Erhöhung der Gasimporte aus Russland steht in keinem chinesischen Plan
Allerdings ist es ein großes Problem, für solche Mengen an Flüssigerdgas Abnehmer zu finden. Zudem haben die bestehenden LNG -Terminals Probleme bei der Produktion. Das sind sehr große, komplexe und teure Anlagen, und das alles unter arktischen Bedingungen. Nach dem [sanktionsbedingten – dek] Weggang der wichtigsten Zulieferer und vieler Beteiligter gibt es bereits heute Probleme mit der Fertigstellung des von Nowatek begonnenen Arctic LNG 2. Eine klare Antwort auf die Frage, wie die nicht gelieferte Technologie ersetzt und wie der technische Betrieb laufen soll, gibt es nicht. Das gesamte Gas aus den Pipelines in Flüssigerdgas umzuwandeln, ist also sehr problematisch, und ich sehe keine Lösung dafür.
Deshalb denke ich, man setzt letztlich die Hoffnung darauf, dass die Europäer einknicken. Wenn sie mit ihrer spärlichen Ration dasitzen und der Winter nicht so mild wird wie der letzte – dann werden sie bestimmt um Lieferungen bitten. Ich denke, das ist das Kalkül.
Herr Gurewitsch, noch einmal: Putin geißelt Europa, gleichzeitig aber den russischen Staatshaushalt. Wie stark werden die Einnahmen im russischen Staatsbudget sinken, wenn neben Erdöl auch kein Erdgas mehr geliefert wird? Was wird stattdessen geliefert? Wir haben Phosphate, Düngemittel …
W.G.: Wir haben Landwirtschaft …
Ja, vielleicht Weizen. Wie stark reduzieren sich die Staatseinnahmen?
M.K.: Ich kann das nicht zusammenzählen. Sehen Sie, auch auf den Kohleexport in den Westen wird ein Embargo eingeführt. Zwar würde China Kohle kaufen, doch wie soll sie dorthin kommen – mit Zeppelinen? Wir haben die Transsib und die BAM, das war’s. Waggons, Transportkapazitäten auf dieser Strecke – nichts … Sie ist komplett ausgelastet, da kann man nichts erhöhen. Irgendjemand sagte, man könne Öl auf der Schiene nach China befördern. Wie soll das gehen? Dort fährt schon Kohle und was sonst noch alles. Es ist völlig dicht.
Wir haben die Transsib und die BAM, das war’s. Waggons oder Transportkapazitäten auf dieser Strecke – gibt es nicht … Sie ist komplett ausgelastet
W.G.: Das betrifft auch die Getreidewirtschaft. Häfen und Terminals – nicht unproblematisch.
M.K.: Richtig, auch die Häfen kommen nicht nach. Und selbst wenn man aus den Häfen im Fernen Osten zusätzlich Erdöl oder Erdölprodukte nach China liefern möchte – wie kommen die in den Hafen? Auch auf der Schiene. Denn die Pipeline, die bis zur Kosmino-Bucht führt, arbeitet am Anschlag, da kann man nicht noch mehr durchleiten.
Es ist einfach ein absolut apokalyptisches Szenario. Denken Sie, Russland ist tatsächlich bereit zu einem Lieferstopp, nur um Europa zu bestrafen?
M.K.: Ich denke das tatsächlich, bislang deutet alles darauf hin. Die Bestrebungen, Gazproms Marktstellung in Europa zu zerstören, gibt es ja nicht erst seit gestern oder vorgestern. Das hat alles viel früher begonnen. Die Ukraine war der größte Abnehmer für russisches Gas. Dieser Markt wurde schrittweise zerstört. Danach wurden weitere europäische Märkte für russisches Gas vernichtet. Und schließlich sind sie da angekommen, wo sie jetzt sind – bei der Berufung auf höhere Gewalt: ‚Wir werden euch überhaupt kein Gas mehr liefern.‘
Der Krieg muss in Rubel, nicht in Dollar finanziert werden. Und Rubel muss man sich bei den Bjudshetniki holen, um damit die Armee und die Rüstungsfabriken zu versorgen
Einen Moment, Herr Gurewitsch, aber auch der Krieg muss doch irgendwie finanziert werden. Laut Daten von Sergej Gurijew verdient die Russische Föderation eine Milliarde Dollar am Tag mit Erdöl, wovon sie die Hälfte für den Krieg ausgibt.
M.K.: Das ist komplizierter, wie sich gezeigt hat. Wenn wir nämlich in Russland für Öl, Gas, Kohle und Diamanten ausländische Währung bekommen, muss mit dieser Auslandswährung ja etwas geschehen. Unser Import ist aber dermaßen gesunken, dass er nicht mal unter dem Mikroskop zu sehen ist. Wir können also nichts mit den Devisen anfangen. Daher ist die einzige Hoffnung, dass wir noch genug Rubel haben. Der Krieg muss in Rubel, nicht in Dollar finanziert werden. Und Rubel muss man bei den Bjudshetniki abziehen, um damit die Armee und die Rüstungsfabriken zu versorgen.
W.G.: Wenn der Rubel fällt, füllt sich automatisch der Staatshaushalt. Denn dann bringt sogar eine geringere Menge an exportiertem Gas und Öl konvertiert in Rubel mehr Einnahmen als jetzt.
Es gibt also zwei offensichtliche Schlussfolgerungen. Erstens, das russische Sozialsystem, das Gesundheitssystem und überhaupt die Bjudshetniki müssen auf spärliche Einkünfte vorbereitet sein, da nicht nur embargobedingt die Erdöleinnahmen fehlen werden, sondern auch Einnahmen aus dem Gasgeschäft. Zweitens können wir festhalten, dass Russland Europa den Gaskrieg erklärt hat.
M.K.: Außerdem darf nicht vergessen werden, dass nicht nur der Export von Erdgas und Erdöl, sondern auch der von Gold, Diamanten und Kohle den Bach runtergeht.
Wir müssen also den Gürtel enger schnallen.
W.G.: Ich würde es so formulieren: Wenn alles so kommt, wie wir es hier beschrieben haben, dann bedeutet das für uns tatsächlich einschneidende finanzielle Verluste und Verluste im Staatshaushalt. Wegen der aktuell anomal hohen Rohstoffpreise gibt es jetzt noch einen Puffer.
Das Technologieembargo ist auf lange Sicht, viel bedeutsamer. Da gibt es viel mehr Probleme
Ein viel größeres Problem [als das mit den Rohstoffexporten – dek] sehe ich im Bereich Technologie [die sanktionsbedingt nicht mehr importiert werden kann – dek]. Das ist auf lange Sicht, auch strategisch, viel bedeutsamer. Und da gibt es viel mehr Probleme.
Denn: Von den Erdöl- und Erdgasexporten nach China und Indien kann man natürlich leben, nicht im Wohlstand, aber es ist möglich. Wie wir aber mit dem technologischen Embargo überleben sollen, das wird uns in den nächsten Jahren sehr viel mehr beschäftigen.Weitere Themen
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Bystro #38: Proteste in Belarus 2020. Was ist vom Widerstand geblieben?
Am Abend der Präsidentschaftswahl, dem 9. August 2020, brach in ganz Belarus eine historische Protestwelle los, getragen von Personen ganz unterschiedlichen Alters und aus den verschiedensten Berufsgruppen. Die Machthaber um Alexander Lukaschenko versuchten die Proteste, die im ganzen Land stattfanden, mit Gewalt und Folter einzudämmen, was allerdings zunächst immer mehr Menschen auf die Straßen trieb. Im Lauf der Zeit gelang es den belarussischen Silowiki, mit scharfen Repressionen den Widerstand zu brechen. Journalisten, Medien, Aktivisten und einfache Bürger wurden außer Landes getrieben, rund 500 NGOs verboten. Die Festnahmen und Aburteilungen dauern bis heute an. Die Menschenrechtsorganisation Wjasna geht von rund 1300 politischen Gefangenen im Land aus.
Lebt der belarussische Protest überhaupt noch? Was passiert in der Opposition, die ebenfalls ins Exil musste? Welchen Einfluss hat die neue Diaspora? Glaubt Lukaschenko, dass er den Widerstand seiner Gegner gebrochen hat oder fürchtet er eine neue Protestwelle? In einem Bystro mit acht Fragen und Antworten erklärt der Politikanalyst Waleri Karbalewitsch die aktuelle Lage.
Dieser Artikel gehört zu unserer Reihe Platforma, in der russische, belarussische oder auch ukrainische Journalistinnen und Journalisten schreiben und Einblick in aktuelle Debatten und Entwicklungen zu osteuropäischen Themen liefern. Die Texte werden weitgehend von Journalistinnen und Journalisten geschrieben, die sich gezwungen sahen, aufgrund der Repressionen in ihren Ländern ins Exil zu gehen.
1. Kann man sagen, dass die Protestbewegung in Belarus tot ist?
Ich würde sagen, die Protestbewegung ist eher eingeschlafen als „tot“. Die Mehrheit der Bevölkerung steht der Regierung nach wie vor kritisch gegenüber. Aber das mündet nicht in aktives Handeln und Aktionen. In Belarus existieren keine legalen Mechanismen, mit deren Hilfe die Bevölkerung ihre Meinung äußern könnte. Heute herrscht in Belarus wieder ein totalitäres System. Und im Totalitarismus sind öffentliche Proteste ein seltenes Phänomen.
Zudem beobachten wir seit zwei Jahren eine politische Massenemigration aus Belarus. Mehr als 100.000 Menschen haben das Land verlassen. Das heißt, der Großteil der Leute, die 2020 auf die Straße gegangen sind, ist bereits emigriert. Im Übrigen werden Proteste dann massenhaft, wenn die Hoffnung besteht, das politische System ändern zu können. 2020 gab es diese Hoffnung, jetzt gibt es sie nicht.
2. Welche Rolle spielt die neue Diaspora in der Demokratiebewegung?
2020 ist die belarussische Diaspora erstmals als politischer Faktor in Erscheinung getreten. In den vergangenen zwei Jahren ist sie um ein Vielfaches angewachsen, es sind viele Aktivisten der Protestbewegung hinzugekommen. Sämtliche Zentren der belarussischen Opposition, allen voran das Büro von Swetlana Tichanowskaja, befinden sich im Exil. Man kann sagen, dass sich das oppositionell-gesellschaftliche Leben ins Ausland verlagert hat, weil in Belarus keine legale oppositionelle Tätigkeit möglich ist.
Im digitalen Zeitalter haben die Möglichkeiten der Diaspora, auf das politisch-gesellschaftliche Leben im Land einzuwirken, wesentlich zugenommen. Die belarussischen politischen Diskussionen finden heute auf Plattformen außerhalb des Landes statt. Das sind Medien, soziale Netzwerke, Think-Tank-Foren, Telegram-Kanäle und so weiter.
Auf der anderen Seite ist klar, dass der Einfluss der Diaspora auf das politisch-gesellschaftliche Leben innerhalb des Landes seine Grenzen hat. Jedwede Veränderungen können nur im Land selbst passieren. Der Einfluss von außen kann nur ein zusätzlicher Faktor sein.
3. Wie hat sich der Krieg auf die Protestbewegung ausgewirkt?
Am 27. Februar 2022, dem Tag des Referendums über die Verfassungsänderungen, und am 28. Februar gab es Proteste. Etwa 1000 Menschen wurden an diesen zwei Tagen festgenommen. In diesen ersten Tagen nach Kriegsbeginn war die Angst groß, dass die belarussischen Streitkräfte in den Krieg auf ukrainischem Boden eintreten würden. Aber das ist nicht passiert, und der öffentliche Protest ist verebbt.
Die Protestbewegung hat andere Formen angenommen:
1. Ein Teil der belarussischen Aktivisten ist in die Ukraine gegangen. Sie haben das Kalinouski-Regiment gegründet, das im Krieg für die Ukraine kämpft.
2. Ein anderer Teil (die sogenannten Partisanen) führt Sabotageakte auf dem Schienennetz durch, um die Fortbewegung der russischen Militärzüge durch Belarus zu verhindern.
3. Die Opposition hat den Telegram-Kanal Belaruski Hajun ins Leben gerufen, auf dem Informationen über die Bewegungen der russischen Militärtechnik und das Abfeuern von Raketen von belarussischem Staatsgebiet aus veröffentlicht werden.
Insgesamt kann man sagen, dass sowohl bei den Gegnern als auch den Anhängern Lukaschenkos eine Radikalisierung stattfindet. Die Befürworter des Regimes fordern drastischere Strafen für die Opponenten. Aber sie sind nur im Internet aktiv, in sozialen Netzwerken. Offline sind sie hilflos und verlassen sich ausschließlich auf die Regierung. Die zahlreichen Organisationen, die das Regime geschaffen hat (offizielle Gewerkschaften, die Jugendunion BRSM, die Belaja Rus, die Frauenunion, die Veteranenvereinigung und so weiter) waren auf dem Höhepunkt der Krise 2020 völlig paralysiert. Ihre staatliche Natur macht diese Strukturen unfähig zu Eigeninitiative. Selbst Lukaschenko sagte, dass sie zu nichts taugen.
4. Welche Erfolge hat das Team von Swetlana Tichanowskaja zu verzeichnen?
Swetlana Tichanowskaja bleibt die legitime Repräsentantin der belarussischen Demokratie, das Symbol für die Alternative. Ihre Haupterfolge erzielte sie auf internationaler Bühne. Faktisch ist Tichanowskajas Büro zum alternativen belarussischen Außenministerium geworden, und zwar einem viel wirkungsvolleren als das offizielle Außenministerium unter der Führung von Wladimir Makei.
Dank des aktiven Einsatzes von Tichanoswkajas Team hält sich das Thema Belarus auf der internationalen Tagesordnung. Es nimmt teilweise Einfluss auf die Sanktionspolitik des Westens gegen das Lukaschenko-Regime. Außerdem repräsentiert das Tichanowskaja-Büro die Interessen der belarussischen Diaspora. Allerdings ist der Einfluss auf die innenpolitischen Prozesse in Belarus relativ gering.
Aber auch die Konkurrenz innerhalb der belarussischen Opposition nimmt zu. Tichanowskajas Opponenten machen sich die nachvollziehbare Unzufriedenheit der belarussischen Protestbewegung zunutze. Seit Beginn der Proteste sind zwei Jahre vergangen, es gibt keine Ergebnisse, die Repressionen nehmen zu, wir beobachten eine politische Massenemigration aus dem Land. Natürlich wird die Schuld bei ihr als Oppositionsführerin gesucht.
5. Hat das Lukaschenko-System immer noch Angst vor Protesten?
Ja. Bei diversen Anlässen wiederholt Lukaschenko, dass man sich nicht ausruhen dürfe, sondern die Repressionen fortsetzen müsse, weil der Feind sich verborgen habe und darauf lauere, dass die Regierung Schwäche zeigt. Das Regime hat keine Feedback-Mechanismen zur Gesellschaft. Deshalb wissen die Machthaber nicht, was wirklich in der Gesellschaft vor sich geht. Und weil sie die reale Situation nicht kennen, überzeichnen sie die Gefahr.
Hinzu kommen die außenpolitische Situation und die wirtschaftlichen Probleme durch die westlichen Sanktionen. Die einzige Antwort des Regimes auf diese Herausforderungen ist die Verstärkung der politischen Repressionen.
6. Was bedeutet die zunehmende Repression in einem Land, das schon länger als „letzte Diktatur Europas“ bekannt ist?
Man kann mehrere Beispiele anführen. So wurde ein Gesetz erlassen, das die Todesstrafe für den „Versuch eines Terroranschlags“ vorsieht. Der Begriff Terrorismus wird von den belarussischen Behörden äußerst weit gefasst, deshalb kann darunter jede oppositionelle Tätigkeit verstanden werden, zum Beispiel die Teilnahme an Protestaktionen. Auch Pawel Latuschko und Swetlana Tichanowskaja wurden nach „Terrorismus“-Paragrafen angeklagt. Im Moment steht die „Terrorgruppe“ von Nikolaj Awtuchowitsch vor Gericht. Dazu gehören ein Mann ohne Beine, eine Rentnerin und ein orthodoxer Priester. So sehen die „schrecklichen Terroristen“ aus.
Seit kurzem erlaubt es das Gesetz, Menschen, die die belarussische „Justiz“ nicht persönlich zu fassen kriegt, in ihrer Abwesenheit zu verurteilen. Zum Beispiel belarussische Freiwillige, die in der Ukraine kämpfen, oder die Schienenpartisanen. Die Menschenrechtsorganisation Wjasna hat nachgerechnet, dass die neue Gesetzsprechung Prozesse in Abwesenheit nach 43 Artikeln erlaubt. Darunter fallen: Verschwörung, Genozid, Staatsverrat, Söldnertum.
Offenbar stehen die Behörden im Zuge der politischen Repressionen vor einem Problem. Es gibt eine klare Anweisung von Lukaschenko, den Grad der Repressionen aufrechtzuerhalten. Doch jene Bürger, die an den Protesten teilgenommen hatten, wurden entweder bereits verurteilt oder sind emigriert. Wo soll man neue Menschen für die Festnahmen herbekommen?
Um das Problem zu lösen, gehen die Silowiki in verschiedene Richtungen vor. Einerseits verurteilen sie die, die schon bestraft wurden und auf „schwarzen Listen“ stehen, zum zweiten Mal. Andererseits weiten sie die Repressionen auf immer neue gesellschaftliche Sphären aus. So werden zum Beispiel Menschen verhaftet, weil sie in den sozialen Netzwerken Kommentare zum Krieg in der Ukraine veröffentlichen, die nicht der offiziellen Position entsprechen.
7. Wie genau haben sich die Repressionen in den letzten zwei Jahren verändert?
Im Eilverfahren wurden repressive Gesetze erlassen. Nicht nur oppositionelle Aktivitäten wurden kriminalisiert, sondern das Andersdenken an sich. Der Begriff „Extremismus“ wird quasi uneingeschränkt auf jede Form der gesellschaftlichen Aktivität angewendet. So gelten zum Beispiel die „Diskreditierung von Staatsorganen und der Republik Belarus“ oder das „Schüren von sozialem Unfrieden“ et cetera als Extremismus.
Angeklagte nach „politischen“ Artikeln werden mit bis zu 18 Jahren Freiheitsentzug bestraft. In Belarus wurde die Zivilgesellschaft praktisch verboten und öffentliche Organisationen liquidiert. Jeden Tag gibt es Nachrichten von neuen Verhaftungen, Durchsuchungen, Gerichtsurteilen. Laute Prozesse gegen politische Opponenten finden hinter verschlossenen Türen statt.
Man geht dazu über, Menschen für Dinge zu verurteilen, die schon lange zurückliegen. Am 22. Juni stand Nikolaj B. in Janow vor Gericht, weil er vor fünf Jahren einen Beitrag von Radio Svaboda geteilt hatte. Die Journalistin Katerina Andrejewa wurde zu acht Jahren Haft aufgrund von „Staatsverrat“ verurteilt – wegen eines alten Artikels, der damals nicht einmal als Ordnungswidrigkeit betrachtet wurde. Damit haben die Behörden auch jene Rechtsnorm außer Kraft gesetzt, wonach die Gesetzgebung nicht rückwirkend gilt.
8. Hat die Protestbewegung eine Chance, einen politischen Wandel in Belarus zu erreichen?
Das kann niemand mit Sicherheit sagen. Heute gibt es zwei Faktoren, die eine Gefahr für das herrschende Regime und eine Chance für die Protestbewegung darstellen: Einerseits würde ein möglicher Niedergang des Putin-Regimes in Russland infolge der Misserfolge im Krieg gegen die Ukraine dem Lukaschenko-Regime einen schweren Schlag versetzen. Auf dem Höhepunkt der Proteste 2020 war es die Unterstützung Putins, die Lukaschenkos Macht im kritischen Moment maßgeblich gesichert hat. Das hat wiederum zu einer fatalen Abhängigkeit des belarussischen Regimes vom Kreml geführt. Deshalb würde sich eine Krise des russischen Regimes unweigerlich auch auf Belarus niederschlagen.
Zweitens, die drastische Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in Belarus durch die westlichen Sanktionen: Bisher war Russland die wichtigste Hilfsquelle für die belarussische Wirtschaft. Nun befindet sich die Russische Föderation selbst in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage und kann Belarus nicht für alle Verluste entschädigen. Russland ist für Belarus inzwischen mehr zu einer Problemquelle als einer Quelle der Hilfe geworden. Die Unzufriedenheit der Menschen mit ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situation könnte infolgedessen sehr unerwartete Formen annehmen.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Text: Waleri Karbalewitsch
Übersetzerin: Jennie Seitz
Veröffentlicht am: 09. August 2022Weitere Themen
Bystro #23: Hat der Protest Belarus bereits verändert?
Yes Future No Future – erfahrungen nichtlinearer ansichten
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„Alles hier ist durchdrungen von Leichengeruch“
Wie viele russische Soldaten sind seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gefallen? Woher stammen sie? Und führt die große Zahl der Toten zu einem Umdenken in der russischen Gesellschaft gegenüber der offiziellen Darstellung einer „militärischen Spezialoperation“?
Was die Gefallenen angeht, so gibt es kaum offizielle Zahlen. Das russische Verteidigungsministerium hält sich weitgehend bedeckt. Nur zwei Mal wurden Angaben gemacht: Am 2. und am 25. März wurden 498 beziehungsweise 1351 Tote vermeldet. Es sind spärliche Zahlen, an denen schon mit Blick auf die Propaganda Zweifel mehr als berechtigt sind. Experten wie Sönke Neitzel gehen von einer vielfach höheren Zahl aus. Der Militärhistoriker hält beispielsweise US-Angaben von bis zu 15.000 für plausibel.
Die Redaktionen von Mediazona und BBC versuchen sich mit Recherchen über Soziale Netzwerke ein genaueres Bild zu machen, haben bis Ende Juli mehr als 5100 Tote aus den Reihen des russischen Militärs identifizieren können.
Dafür sind auch Berichte in Regionalmedien wichtig. Sie sind es, die vor Ort recherchieren, zu Beerdigungen gehen, bei Verwandten nachfragen und sich dabei von lokalen Behörden nicht einschüchtern lassen. Ein solches Medium ist Ljudi Baikala aus Irkutsk. Das Online-Magazin, seit April im russischen Internet blockiert, berichtet über den Krieg und die Beerdigungen in Russland – auch, nachdem Dutzende russische Journalisten wegen des neuen Zensurgesetzes ins Exil gegangen sind. Was ihnen hilft: Es gebe deutlich mehr Spenden, wie Chefredakteurin Olga Mutowina der The New Times sagte. Um ihr Magazin trotz Websperre weiter lesen zu können, hätten viele russische Leser VPN installiert.
Oftmals haben Angehörige der Toten erst von den Journalisten erfahren, dass ihre Söhne in der Ukraine eingesetzt wurden oder in Gefangenschaft geraten sind – und aus Angst dennoch jede Kommunikation mit den Medien verweigert, wie Ljudi Baikala-Redakteurin Jelena Trifonowa in einem Interview erzählt.
Für die folgende Reportage ist Trifonowa zu einer Trauerfeier in einer Turnhalle von Ulan-Ude gegangen, in den Sportkomplex Lukodrom, dort hat sie auch zur Frage recherchiert, „die in jeder Küche der Republik diskutiert wird“: Warum fallen in der Ukraine so viele Männer aus Burjatien?
Denn die verfügbaren Daten zeigen: Die meisten Soldaten kamen bisher aus den ärmsten Regionen Russlands, allen voran aus dem nordkaukasischen Dagestan und aus der Teilrepublik Burjatien (im Südosten Sibiriens). Armut und Perspektivlosigkeit führt sie oft zu einem Vertrag mit der Armee, die in diesen Regionen häufig der einzig stabile Arbeitgeber ist. Aus den beiden – sehr viel wohlhabenderen – Metropolen Moskau und Sankt Petersburg gab es dagegen bisher die wenigsten Toten.Trifonowas Reportage zeigt, wie Trauerfeiern für tote Soldaten in Russland ablaufen, wie offizielle Amtsträger im Angesicht der Gräuel, des Massakers von Butscha und all der zerbombten ukrainischen Städte wie Mariupol und Charkiw in jenem Lukodrom verkünden: „Sie sind nicht umsonst gestorben.“ Und dass viele Menschen selbst dann keine Zweifel bekommen, wenn sie, wie in Ulan-Ude, am Sarg mit dem eigenen Sohn oder Enkel stehen.
Das Lukodrom wurde vor einem Jahr fertig gebaut. Mit seinem gelben Dach und der Fassade aus weiß-blauen Platten sieht man es inmitten der windschiefen Holzbaracken mit Plumpsklos schon von Weitem. Es ist in Burjatien das wichtigste Zentrum für Bogenschießen – ein Nationalsport, der sehr beliebt ist. Hier trainiert der Nachwuchs, hier finden Wettkämpfe statt, zu denen Sportler aus der Umgebung und anderen Städten anreisen.
Seit Anfang März werden in der großen Halle des Lukodrom Trauerfeiern für die in der Ukraine gefallenen Soldaten abgehalten. Die Kindermannschaften haben in dieser Zeit nicht aufgehört zu trainieren. Sie tun das gleich nebenan, im angrenzenden Gebäudeteil. Von der Tür zu den Trainingsräumen ist die Tür, aus der die Särge herausgetragen werden, nur wenige Meter entfernt.
„Die Eltern sind nicht erfreut darüber, dass die Sportanlage als Trauerhalle umgenutzt wird“, sagt Tatjana, deren Sohn hier Bogenschießen lernt. „Kürzlich hat es dort, wo die Kinder trainieren, auch begonnen, nach Tod zu riechen. Alles hier war von Leichengeruch durchdrungen.“
Das Lukodrom steht direkt an einer Straße, die Verkehrspolizei hat die Zufahrt zum Gebäude abgesperrt. Am Eingang stehen noch keine Polizisten, aber zwei Tage später werden auch hier welche positioniert sein. Mitarbeiter der Stadtverwaltung, die für die Organisation der Zeremonie zuständig sind, begrüßen die Trauergäste. Sie fragen: „Von wem möchten Sie sich verabschieden?“
Die regionalen Medien haben berichtet, dass am Montag, den 28. März, im Lukodrom eine Trauerfeier für einen Soldaten anberaumt ist – für Naidal Zyrenow. Doch zur angesetzten Zeit stehen vier Särge in der Sporthalle.
An den Särgen sind weder Schilder noch Fotos. Wer in welchem Sarg liegt, erklären die Mitarbeiter der Stadtverwaltung.Im ersten liegt der 24-jährige Naidal Zyrenow, KWN-Mannschaftskapitän seiner Schule und Schüler des Jahres 2016. Er war Sanitäter. Naidals Hände sind auf der Brust seiner grauen Uniformjacke übereinander gelegt. Eine Hand ist bandagiert.
Im zweiten liegt der 35-jährige Bulat Odojew, der in der fünften Panzerbrigade gedient hat und eine schwangere Frau und eine Tochter hinterlässt. „Alle fragten ihn: Wozu? Aber er sagte immer: Soll ich denn meine Kameraden im Stich lassen?“, erzählt Olga, die Frau seines Cousins.
Im dritten liegt Shargal Daschijew, 38. Er hinterlässt ebenfalls eine schwangere Frau und zwei Töchter.
Im vierten liegt der 20-jährige Wladislaw Kokorin, der im Kinderheim aufwuchs und dann in eine Pflegefamilie kam.An jedem Sarg stehen Verwandte. Nur bei Wladislaw fast niemand.
Das penetrante Aroma des Rauchs mischt sich mit dem ekelerregenden Leichengeruch. Man kriegt in der Halle kaum noch Luft
Die Särge stehen in jenem Teil der Halle, wo sonst Kinder mit Pfeil und Bogen um die Wette schießen. Jetzt sitzen Trauergäste auf den Zuschauerbänken. Ein Teil von ihnen muss stehen, es gibt zu wenig Sitzplätze. Die große Halle der Sportanlage ist brechend voll, mindestens 600 Menschen sind gekommen.
An den Kopfenden der Särge stehen Soldaten stramm. Die Rücken gerade, die an Riemen hängenden Maschinengewehre an die Brust gedrückt. Mit ihren jungen Gesichtern wirken sie wie Oberschüler bei der Ehrenwache am Ewigen Feuer. Manche der Soldaten weinen. Die Tränen dürfen sie nicht abwischen, so laufen sie die Wangen herunter.
Zwischen den Särgen und den Menschen, die sich verabschieden wollen, steht ein Tisch. An dem sitzen vier buddhistische Lamas in ihrer bordeauxroten Tracht, Chubsahan genannt. Drei der Gefallenen waren Buddhisten, sie werden nach buddhistischem Ritual bestattet. Auch ein orthodoxer Priester ist anwesend, doch hält er für Wladislaw Kokorin keine Begräbnisfeier ab, sondern steht etwas abseits mit Beamten.Vor den Lamas steht ein mit rot-gelben Fransen verziertes Gefäß mit einer Pfauenfeder auf dem Tisch, und auf einem Stück roten Stoffs liegt ein offenes Buch. Daraus lesen die Lamas tibetische Trauergesänge. Und eine Sula steht auf dem Tisch, ein buddhistisches Lämpchen mit einer Flamme. Auf einem Kupfertellerchen glimmt Räucherwerk.
Das penetrante Aroma des Rauchs mischt sich mit dem ekelerregenden Leichengeruch. Die Toten müssen über weite Strecken transportiert werden, manchmal vergeht zwischen Tod und Beerdigung ein ganzer Monat oder sogar zwei. Man kriegt in der Halle kaum noch Luft.
Die Nacken der Lamas schaukeln im Takt ihrer Gesänge. Durch die kurzen Stoppel ihrer schwarzen und grauen Haare schimmern unzählige Narben auf ihrer Kopfhaut.
Ohne ihre Gebete zu unterbrechen, stehen die Lamas auf und beginnen, rund um die Särge herumzugehen – das buddhistische Trauerritual geht dem Ende zu. Alle die möchten, treten noch einmal an die Verstorbenen heran und verabschieden sich. Auch sie umrunden den Sarg, berühren dabei eine Sekunde lang die Schuhe des Toten oder die Sargwand.
Weinen ist nicht zu hören. Buddhisten dürfen bei Bestattungen nicht weinen und sollen überhaupt nicht allzu sehr um ihre Verstorbenen trauern. Nach dem Tod muss die Seele ihren Weg über den Himmel nehmen und nach 49 Tagen in einem neuen Körper zur Welt kommen. Tränen versperren dem Toten den Weg und lassen ihn nicht ziehen.Was ihr für ein Glück habt! Eurer ist in einem Stück hier angekommen. Wir haben nur den Kopf und beide Hände
Am nächsten Tag werden Amgalan Tudupow und Eduard Shidjajew verabschiedet. Am übernächsten wieder zwei: der 23-jährige Bator Dondokow und Anton Chatchejew. „Die Eltern eines Gefallenen haben uns angesprochen und gesagt: ‚Was ihr für ein Glück habt! Eurer ist in einem Stück hier angekommen. Wir haben nur den Kopf und beide Hände‘“, erzählt eine Verwandte von Bator Dondokow.
Zusammen mit einem weiteren Soldaten, der in seinem Heimatdorf bestattet wird, sind es im Laufe einer Woche zehn Bestattungen.Nach der Zeremonie beginnt einer Trauerkundgebung.
„Sie sind nicht umsonst gestorben“, sagt der Vizepräsident der Republik, Bair Zyrenow, zuerst auf Russisch, dann auf Burjatisch. „Sie sind für Russlands Größe gestorben. Für das Ende des Blutvergießens in der Ukraine.“
„Sie sind gefallen, als sie die freie Zukunft unseres Landes verteidigten“, sagt der Bürgermeister von Ulan-Ude, Igor Schutenkow.
„Niemand hat Russland jemals besiegt. Und niemand wird es je besiegen!“, sagt Zyren Dorshijew, Vizesprecher des Burjatischen Volkschurals.
„Die Fallschirmspringer haben ihren letzten Sprung in den Himmel getan. Der Schmerz ist groß. In ewiger Erinnerung“, sagt der Statthalter des Kommandanten der 11. Luftsturmbrigade, Unterleutnant Witali Laskow. Denselben Satz mit dem letzten Sprung hatte er einen Monat zuvor bei der ersten Versammlung gesagt.Die Angehörigen aller vier Gefallenen lehnen es ab, mit den Journalisten zu sprechen. Die Polizisten bitten uns, die Sporthalle zu verlassen. Auf der Straße steht ihr Dienstwagen
In der Halle steht ein Dutzend Polizisten. Sie achten darauf, dass niemand fotografiert oder Videoaufnahmen macht.
Etwa 15 Minuten nach Beginn der Zeremonie tritt ein Polizist an die Journalisten heran.
„Wer sind Sie?“
„Presse.“
„Hier ist Fotografieren und Filmen verboten. Sie müssen sich eine Genehmigung des Organisators besorgen.“
Die Organisation der Trauerfeiern obliegt Larissa Stepanowa, der stellvertretenden Vorsteherin des Sowjetski-Bezirks von Ulan-Ude, zuständig für Soziales. Sie bespricht gerade lebhaft etwas mit dem Bürgermeister.
„Nein, hier ist Filmen verboten. Nein, kein Kommentar“, sagt sie zu unserer Frage, wie oft hier Bestattungen stattfänden. Vollkommen unerwartet schluchzt Frau Stepanowa auf, ihre Augen füllen sich mit Tränen. „Wissen Sie, wie viele dieser Trauerfeiern ich schon organisiert habe … Und mein Sohn ist auch dort … in der Ukraine.“Der Bürgermeister von Ulan-Ude, Igor Schutenkow, und der Vizesprecher des Volkschurals, Zyren Dorshijew, lehnen einen Kommentar ab.
Die Angehörigen aller vier Gefallenen lehnen es ab, mit den Journalisten zu sprechen.Die Polizisten bitten uns, die Sporthalle zu verlassen. Auf der Straße steht ihr Dienstwagen, dort nehmen sie unsere personenbezogenen Daten auf.
„Wenn Sie noch mal filmen, nehmen wir Sie mit auf die Wache.“
Aus der windschiefen Holzbaracke neben dem Lukodrom torkelt ein Mann in einer schmutzigen Jacke heraus, er riecht nach Schnaps.
„Wissen Sie zufällig, wie oft im Lukodrom Bestattungen stattfinden?“, frage ich ihn.
„Hey, mich braucht ihr nicht zu filmen!“ Er winkt mit den Armen, als wollte er mich verscheuchen. „Spione wie euch erkenn ich von Weitem. War selbst beim Geheimdienst.“‚Wir bekommen zu hören: Schreibt doch einfach nicht darüber‘, erzählt eine Journalistin einer Zeitung, die unter Kontrolle der Regierung von Burjatien steht
Am 26. April umfasst die Liste, die Ljudi Baikala führt, 102 gefallene Soldaten aus Burjatien. Sie alle haben in der Republik gedient oder sind dort geboren. Ihren Tod haben entweder Verwandte oder regionale Behörden gemeldet, oder es waren Journalisten von Ljudi Baikala bei ihrer Bestattung anwesend.
Die Republik steht bei der Anzahl der Verluste an zweiter Stelle. Mehr gefallene Soldaten verzeichnet nur Dagestan. Mediazona (in der Russischen Föderation als ausländischer Agent gesperrt) zufolge waren es zu dem Zeitpunkt, als es in Dagestan 125 waren, in Burjatien 85. Bewohner Moskaus oder Sankt Petersburgs, wo fast zwölf Prozent der Bevölkerung Russlands leben, scheinen in der Statistik der Gefallenen fast keine auf. [Die Zahlen sind aus dem Erscheinungszeitraum des Textes bei Ljudi Bajkala vom April 2022; aktuelle Zahlen, soweit bekannt, stehen in der Heranführung zu diesem Text – dek]
Seit März werden die Namen der Gefallenen in Burjatien nur in Bezirkszeitungen oder Sozialen Netzwerken veröffentlicht.
Auf der Website der Regionalverwaltung findet man keine Informationen zur Zahl der Verluste. Der Militärkommissar der Oblast Irkutsk, Jewgeni Fushenko, sagte, er wolle die Zahl der Verluste nicht angeben, sie sei nicht wirklich „nennenswert“. Der Militärkommissar der Region Krasnojarsk, Andrej Lyssenko, antwortete, es sei „unanständig und ungehörig, nach der Statistik zu fragen“. Niemandem seien in Burjatien öffentlich Fragen zum Ausmaß der Verluste gestellt worden.
„Wir bekommen zu hören: Schreibt doch einfach nicht darüber“, erzählt eine Journalistin einer Zeitung, die unter Kontrolle der Regierung von Burjatien steht. Sie möchte nicht namentlich genannt werden. „Selbst wenn wir darüber schreiben, führt das nur zu Tränen und Skandalen.“Das Militär hat alle gewarnt – keine Fotos bei der Beerdigung, niemandem irgendetwas erzählen und keine Anrufe von unbekannten Nummern annehmen
Eine andere Journalistin hat versucht, die Verwandten eines gefallenen Soldaten zu kontaktieren. Diese haben beim Militär um Erlaubnis zu dem Gespräch angefragt. Am selben Abend teilte ihr der Chefredakteur ihrer Zeitung mit, er habe einen behördlichen Anruf erhalten mit der Anweisung, nicht mit Angehörigen zu sprechen. „Bei diesem Thema herrscht ein ungeschriebenes Verbot“, fügt unsere Gesprächspartnerin hinzu.
Shambo Chozajew, Arzt in einer Klinik für traditionelle östliche Medizin in Ulan-Ude, beerdigt am 28. März seinen Neffen Sorigto Chozajew. Er erklärt uns: Das Militär hat alle gewarnt – keine Fotos bei der Beerdigung, niemandem irgendetwas erzählen und keine Anrufe von unbekannten Nummern annehmen. „Ukrainische Hacker stehlen Informationen und machen daraus Fakes, das haben uns die vom Militär gesagt.“
Wie die „ukrainischen Hacker“ die „Daten“ verwenden sollen, weiß Chozajew nicht genau. Vor ein paar Tagen hat seine Frau auf Viber eine Nachricht von einer unbekannten Nummer mit einer Beileidsbekundung zum Tod ihres Neffen erhalten. Shambo und seiner Frau gefiel das nicht. Oft gehen bei Verwandten Beschimpfungen von ukrainischen Nummern ein. So etwas schreiben ukrainische User auch unter fast jeden Post in Sozialen Netzwerken, in dem es um den Tod russischer Soldaten geht.Als Soldaten die Särge aus den schwarzen Kleinbussen ziehen und auf ihre Schultern heben, beginnt ein Blasorchester zu spielen
Am 19. April hat das Verteidigungsministerium auf den Weg gebracht, den Zugang zu Daten der Verwandten von gefallenen Soldaten zu beschränken. In einem Video über die Rückkehr von Truppen aus der Ukraine sind die Gesichter sowohl der Soldaten als auch ihrer Verwandten verpixelt.
Naidal Zyrenow, Bulat Odojew, Wladislaw Kokorin und Shargal Daschijew werden aus dem Lukodrom hinaus auf den Südfriedhof gefahren, an den Stadtrand von Ulan-Ude. Der Trauerzug ist einen Kilometer lang. In dem Augenblick, als Soldaten die Särge aus den schwarzen Kleinbussen mit der Aufschrift „Bestattungsdienst“ ziehen und auf ihre Schultern heben, beginnt ein Blasorchester zu spielen.
Gefallene Soldaten werden entweder hier auf dem Südfriedhof beerdigt oder in ihren Heimatstädten beziehungsweise -dörfern. Das entscheiden ihre Verwandten. Am Rand des Südfriedhofs hat das Verteidigungsministerium seinen eigenen Bereich. Seit Ende Februar sind 27 Gräber dazugekommen. Noch einmal 15 sind ausgehoben, und die Totengräber arbeiten an weiteren.
„Wir sollen bis morgen zwei Reihen fertigstellen, es wird wieder ein Flugzeug mit Gefallenen erwartet“, erklärt Dimitri, der hier Gräber aushebt. Es fehlen noch sechs Gräber, bis die beiden Reihen voll sind. „Man kann nicht sagen, dass viel mehr als sonst beerdigt werden“, fügt Dimitri hinzu. „So zwei oder drei Soldaten pro Tag. Während der Pandemie waren es 15 am Tag. Da hatten wir wirklich zu tun.“Damals wurde sein erstes Kind geboren, Amgalan brauchte Geld. ‚Ein Jahr hielt er noch durch, dann ging er zur Armee.‘
Die Frage, warum so viele Burjaten umkommen, wird in jeder Küche der Region diskutiert. Manchmal dringt der Unmut nach außen.
„Was glauben Sie, warum so viele Soldaten aus Burjatien fallen?“, sagt Jekaterina, die Schwester des gefallenen Michail Garmajew. „Es gibt überhaupt keine Arbeit, daher werden die Jungs Vertragssoldaten.“ Dasselbe sagen andere Angehörige. Michail Garmajew interessierte sich als Jugendlicher fürs Theater und zeichnete. Nach dem Wehrdienst fing er zusammen mit seinem Bruder bei einer Firma an, die Alarmanlagen installierte. Er verdiente 10.000 bis 20.000 Rubel. Nach etwa zwei Jahren kündigte er und wurde Vertragssoldat.
Der Bruder, Alexander, arbeitet immer noch bei dieser Firma. Jetzt bezieht er „ein normales Gehalt, 30.000 bis 35.000&ldquo. Er arbeitet in Schichten und ist fast nie zu Hause.Amgalan Tudupow hat an der Burjatischen Staatlichen Universität Sport studiert. Er unterrichtete Sport an einer Schule. „Alles hat er mit den Kindern gemacht, Skifahren, Basketball. Er hatte seine Arbeit gern“, sagt seine Mutter Zyrema Tudupowa. Aber sein Gehalt lag bei 7000 Rubel. Damals wurde sein erstes Kind geboren, Amgalan brauchte Geld. „Ein Jahr hielt er noch durch, dann ging er zur Armee.“ Dort bekam er sofort 40.000 bis 50.000 Rubel. „Er war so froh und so glücklich“, erinnert sich Zyrema. „,Mama, sie nehmen mich!‘ Früher haben sie nicht alle genommen, jetzt schon.“
Der Dienst gefiel Amgalan, obwohl er sagte, dass „die Arbeit schwer“ sei. Er kam immer spät nach Hause. Ganz früh am Morgen, gegen drei oder vier, stand er auf und fuhr wieder los. „Ich sagte zu ihm: ‚Vielleicht lässt du es doch lieber?‘“, erzählt Zyrema. „Aber er meinte: ‚Und wie soll ich dann die Kinder durchfüttern?‘“
Die Soldaten, die in die Ukraine mussten, sagen anonym, dass sie mindestens 250.000 Rubel im Monat bekommen.2020 stand Burjatien bezüglich Lebensqualität von den 85 Föderationssubjekten auf dem 81. Platz. Die angrenzende Oblast Irkutsk landete auf Platz 55. Laut offizieller Statistik der Republik hatten 20 Prozent der Einwohner im Jahr 2020 ein Einkommen unterhalb des Existenzminimums. 2013 waren das 17,5 Prozent gewesen. 2019 schnitt Ulan-Ude bei einem Vergleich der Lebensqualität in 78 Städten mit über 250.000 Einwohnern am schlechtesten ab.
Öffentlich zugänglichen Informationen zufolge verfügt die Republik über 15 Militäreinheiten. Die Zahl der Vertragssoldaten ist nicht bekannt. 2015 wurde von einer Verdoppelung berichtet. Damals war geplant, die Zahl im östlichen Militärbezirk um 26.000 Soldaten aufzustocken. 2020 schlossen weitere 1300 Soldaten einen Vertrag ab, 2021 noch einmal 600.
Ich sagte: ‚Neffe, die lassen dich nicht hängen. Du bist gefallen, aber sie haben dich gefunden und hierher gebracht‘
Am 28. März, dem Tag, an dem auf dem Südfriedhof die vier jungen Männer begraben werden, findet im Dorf Alla die Trauerfeier für den 22-jährigen Sorigto Chozajew statt. Seine Familie ist 2014 nach Ulan-Ude gezogen, hat jedoch beschlossen, Sorigto in seinem Heimatdorf zu bestatten. „Dort sind schöne Berge, sauberes Wasser. Dort ist die Nabelschnur, über die er mit der Erde verbunden ist“, sagt der Onkel des Verstorbenen, Shambo Chozajew.
Sorigto war das älteste von drei Kindern. Er hat in einer technischen Berufsschule programmieren gelernt, ging zur Armee und wurde Vertragssoldat. Bei der 11. Sturmbrigade saß er an den Geschützen und hat in Syrien gekämpft. Er hinterlässt seine Eltern, seinen Bruder und seine kleine Schwester, die in die zweite Klasse geht.
Am 25. Februar ist er gefallen, begraben wurde er am 28. März. „Wir wurden als erste zur Identifizierung geholt“, sagt Shambo Chozajew. „Fünf aus der Stadt und zehn vom Dorf lagen im Leichenschauhaus. Unserer war am stärksten verbrannt. Man musste ein genetisches Gutachten machen, darum wurde er so lange nicht bestattet.“
Als auf dem Friedhof den Verwandten das Wort gegeben wurde, hat Shambo sich beim Militär bedankt: „Ich sagte: ‚Neffe, die lassen dich nicht hängen. Du bist gefallen, aber sie haben dich gefunden und hierher gebracht. Zwölf Stunden Flug bis Ulan-Ude. 450 Kilometer bis Alla, eine ganze Nacht im Bus. ‚Wir lassen die Unseren nicht im Stich‘ – das sind keine leeren Worte‘“, so erzählt uns Shambo von seiner Abschiedsrede.Shambo sagt, es seien jetzt viele aus Alla in der Ukraine, aus manchen Familien sogar zwei Söhne auf einmal. Bei der Trauerfeier für Sorigto haben viele geweint – sie mussten an die eigenen Söhne denken.
„Wenn man sagt‚ gegen den ‚[von Roskomnadsor verbotenes Wort]‘, dann ist das schlecht, das ist eine Verneinung“, fügt Shambo hinzu. „Man muss sagen ‚für den Frieden‘. Wir sind alle für den Frieden. Ich rechtfertige keinen [von Roskomnadsor verbotenes Wort], aber es ist dieselbe Situation wie 1941, derselbe Faschismus. Ich habe nicht alle Informationen, aber das weiß ich.“
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Im Griff der Macht
Der belarussische Fußball ist mit seinen Vereinen, Verbänden und Sportfunktionären tief in das politische System des autoritären Staates verstrickt. Ein System, das in den vergangenen zwei Jahren wiederholt sowohl Fans als auch die Sportler selbst repressiert hat.
Im Gegensatz zu den russischen Fußballvereinen, die von der UEFA wegen des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine suspendiert wurden, können die belarussischen Vereine an den Qualifikationsrunden der europäischen Wettbewerbe teilnehmen. Übrig geblieben ist allerdings nur noch der aktuelle belarussische Meister Schachzjor Salihorsk, der in der dritten Qualifikationsrunde der Conference League am heutigen Donnerstag ein Heimspiel gegen den rumänischen Verein CFR Cluj bestreitet. Allerdings hat der europäische Fußballverband den Belarussen untersagt, ihre Heimspiele in Belarus auszutragen, also findet das Spiel im türkischen Adazpan statt. In der Gruppenphase könnte Salihorsk auf den 1. FC Köln treffen. Die Klubführung des Fußball-Bundesligisten hatte kürzlich in einem Brief an UEFA-Präsident Aleksander Čeferin den Ausschluss aller belarussischen Teams gefordert, weil die belarussischen Machthaber den russischen Angriffskrieg unterstützten.
Der Sportjournalist Jegor Chawanski analysiert in diesem Beitrag die politische Verstrickung, dazu den aktuellen Zustand des belarussischen Fußballs und seine sportlichen Missstände, die zu einer historischen Krise geführt haben.
Dieser Artikel gehört zu unserer Reihe Platforma, in der russische, belarussische oder auch ukrainische Journalistinnen und Journalisten schreiben und Einblick in aktuelle Debatten und Entwicklungen zu osteuropäischen Themen liefern. Die Texte werden weitgehend von Journalistinnen und Journalisten geschrieben, die sich gezwungen sahen, aufgrund der Repressionen in ihren Ländern ins Exil zu gehen.
„Man könnte denken, dass ich die Nationalmannschaft Brasiliens trainiere.“ So lautete die Reaktion von Georgi Kondratjew, dem Cheftrainer der belarussischen Fußballnationalmannschaft, auf die Kritik nach einer weiteren Pleite seines Teams. Vor zehn Jahren noch hatte Kondratjew die belarussische U-21 zum dritten Platz bei der Europameisterschaft geführt und das Ticket zu den Olympischen Spielen geholt. Jetzt ist er ein passives Element in einem System, das die Nationalmannschaft in Europa zu einem Außenseiter werden ließ, und durch das der belarussische Fußball jetzt geächtet ist. Wie ist es dazu gekommen?
Eine Pyramide der Loyalität
Seit 28 Jahren schon ist es Alexander Lukaschenko, der in Belarus praktisch jeden ernennt, vom Premierminister bis zu den Landräten. In dieser Nomenklatur-Pyramide ist für Illoyalität kein Platz: Die Bürokraten sind nicht den Bürgern gegenüber verantwortlich, sondern dem, der sie auf ihren Posten gesetzt hat.
Auch im Sport werden die wichtigsten Posten nicht ohne Absegnung von ganz oben besetzt. Von 1997 bis 2021 war Lukaschenko höchstpersönlich Präsident des Nationalen Olympischen Komitees, bis er mit Sanktionen belegt wurde und den Posten abgab – an seinen ältesten Sohn Viktor. Im Sessel des Sportministers sitzt ein ehemaliger Sicherheitsbeamter Lukaschenkos, und die formal unabhängigen Sportverbände werden von Funktionären geleitet. Nahezu alles im belarussischen Sport wird vom Staat finanziert. Viele Einzelsportler gehören den Sicherheitsbehörden an und dienen offiziell in der Armee, in der Miliz oder im KGB.
Der Fußball ist in dieser Pyramide keine Ausnahme: Der belarussische Fußballverband ABFF ist noch nie von Sportlern geleitet worden. Sein aktueller Vorsitzender, Oberst Wladimir Basanow, war zuvor Militärkommissar und Abgeordneter des belarussischen Parlaments. Basanow hatte versprochen, dass die Nationalmannschaften unter seiner Führung in die Endrunden der großen internationalen Turniere einziehen und die Klubs regelmäßig die Gruppenphase der Europapokale erreichen würden. Diese Vorgabe wurde bald korrigiert: Die Nationalmannschaft solle sich erst 2028 für die EM qualifizieren. Unterdessen macht der belarussische Fußball, der ohnehin keine Höhenflüge erlebt, unter Basanows Führung auch noch durch ständige Pleiten und Skandale von sich Reden.
Sonderweg während der Corona-Pandemie
Die Startbedingungen für die neue Führung des ABFF waren 2019 nicht schlecht. Das Image des belarussischen Fußballs hatte sich gebessert, die Spiele wurden jetzt live übertragen, die Nationalmannschaft erhielt mit den „Weißen Flügeln“ ein Markenzeichen und schöne neue Trikots mit nationalem Ornament. Auch sportlich gab es Anlass zur Freude: Die Nationalmannschaft erreichte die Playoff-Spiele der Nations League und hatte eine realistische Chance, sich erstmals für die EM zu qualifizieren. Und der einstige Dauermeister BATE Baryssau erreichte in der Saison 2018/19 das Playoff der Europaliga. Von Wladimir Basanow wurde erwartet, dass er diese Lage nicht verspielt, und tatsächlich besuchte er anfangs viele Spiele und demonstrierte sein Engagement als Verbandschef.
Das alles änderte sich im März 2020. Die Führung des ABFF ließ während der Corona-Pandemie die belarussische Meisterschaft beginnen, und so wurde Belarus zum einzigen Land in Europa, in dem noch Fußballspiele stattfanden. Auf staatlicher Ebene wurden die Gefahren durch das Coronavirus geleugnet, und so war es die Aufgabe des Funktionärs Basanow, eines zu zeigen: Der belarussische Weg bei der Bekämpfung des Virus ist derart effektiv, dass das gewohnte Leben weitergehen kann. Also mussten die Fußballer Fußball spielen und die Fans ins Stadion kommen.
Die Fans der meisten belarussischen Klubs erklärten allerdings einen Boykott der Spiele und die Besucherzahlen brachen um 70 Prozent ein. Dieser „Sonderweg“ hatte allerdings auch etwas Positives: In Russland, der Ukraine, in Israel und anderen Ländern wurden die Übertragungsrechte für Spiele der höchsten belarussischen Spielklasse, der Wyscheischaja Liha, gekauft (um wenigstens irgendwas zu zeigen). Medien schrieben weltweit über den belarussischen Fußball, und es bildeten sich internationale Fanklubs. Als der Sport in die europäischen Stadien zurückkehrte, erlosch das Interesse an der Wyscheischaja Liha jedoch wieder.
Spieler von Krumkatschy Minsk in Trikots mit der Aufschrift „My supraz gwaltu“ (dt. „Wir sind gegen Gewalt“). Alexander Iwulin, ein Spieler des Teams und zugleich Blogger, wurde wegen Beteiligung an der Protestaktion zu zwei Jahren Strafkolonie verurteilt. / Foto © nashaniva.com
Die Wahlen 2020, die Proteste und der Fußball
Im August 2020, wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl, tauchte in Social-Media-Kanälen des ABFF ein Werbeclip für Alexander Lukaschenko auf, und Basanow wurde bei Veranstaltungen zur Unterstützung des Regimes aktiv. Politik war nun gefährlicher als das Coronavirus: Aus Angst, dass die Fans die Stadien zu Protesten nutzen könnten, fanden die Spiele ohne Zuschauer statt oder wurden verlegt.
Nach der Wahl und der brutalen Unterdrückung der Proteste blieben die Fans den Stadien endgültig fern, während Hunderte belarussische Fußballer, Trainer und Schiedsrichter sich gegen die Gewalt aussprachen. „Ich weigere mich, die Interessen der Nationalmannschaft zu vertreten, solange das Regime Lukaschenko herrscht“, schrieb der junge Stürmer Ilja Schkurin auf Instagram. Seitdem spielt er nicht mehr für die Nationalmannschaft und ist nicht mehr nach Belarus zurückgekehrt.
Basanow hatte anfangs versprochen, dass Spieler oder Vereine nicht für ihre Haltung bestraft würden. Als die Proteste jedoch immer weiter unterdrückt wurden, erreichten die Repressionen auch den Fußball. In die Nationalmannschaft wurden keine Spieler mehr berufen, die sich gegen die Gewalt geäußert hatten. Um der ideologischen Reinheit Willen opferte der Verbandschef sogar die Chance, sich für die EM zu qualifizieren.
Die Säuberungen erfassten auch die Sportpresse, und Klubs wurde empfohlen, keine Verträge mit unliebsamen Spielern und Trainern abzuschließen. Die Verträge werden letztendlich im Sportministerium bestätigt, und viele Profis, die eine „falsche“ Meinung haben, erhalten dort eine Absage. Dem Fußballclub Krumkatschy Minsk, der sich offen gegen die Gewalt ausgesprochen hatte, wurde erst der Weg in die Wyscheischaja Liha verwehrt, dann folgte der erzwungene Abstieg in die dritte Liga.
Im Herbst 2020 kam Wladimir Basanow auf die Sanktionslisten von Litauen, Lettland und Estland. Die Belarusian Sport Solidarity Foundation (BSSF) hatte die UEFA mehrfach auf Fälle von Diskriminierung im belarussischen Fußball hingewiesen, was allerdings ergebnislos blieb. Dabei wird die Tätigkeit Basanows, der sich superloyal gibt, sogar vom Regime und der Propaganda nicht sonderlich hoch geschätzt. Sportminister Sergej Kowaltschuk bezeichnete das Niveau des belarussischen Fußballs als „Saustall und Sumpf“ und auch Lukaschenko hat den Fußball kritisiert.
„Herzensangelegenheit auf Pause gestellt“. Die Lage der Fans
Die Fußballfans in Belarus waren früher keine relevante politische Kraft. Die Ereignisse in der Ukraine 2014 haben jedoch alles verändert. Die Fans, von denen ein Teil früher mit russischen imperialen Vorstellungen sympathisierte, interessierten sich nun für die nationale Kultur und pflegten verstärkt das Belarussische. Sowohl beim Euromaidan wie auch im Donbass-Krieg spielten ukrainische Ultras eine wichtige Rolle. Das inspirierte die belarussischen „Kollegen“ und alarmierte die Sicherheitsbehörden im Nachbarland.
Bereits bei der Präsidentschaftswahl 2015 hatte es immer mehr Meldungen über Festnahmen junger Menschen gegeben, bei denen eine Zugehörigkeit zur Ultra-Kultur hervorgehoben wurde. Mit diesen „Säuberungen“ war die Hauptverwaltung für den Kampf gegen organisierte Kriminalität und Korruption (GUBOPiK) des Innenministeriums befasst. Gegen Ultras wurden Strafverfahren angestrengt, die zum Teil absurd waren: Vitali, Pseudonym „Puma“, ein bekannter Fan von Dynamo Minsk, wurde 2017 zu zwei Jahren und vier Monaten verurteilt, weil er im Internet eine Kondomwerbung geteilt hatte – das Gericht hatte hierin Pornographie ausgemacht.
2020 hat sich die GUBOPiK endgültig in eine politische Polizei verwandelt und stand bei der Unterdrückung der friedlichen Proteste gegen die gefälschte Wahl an vorderster Front. Die Sicherheitsbeamten bliesen zur Jagd auf Ultras, Anarchisten und Anhänger anderer Subkulturen, auf alle, die ihrer Ansicht nach dem Regime Lukaschenko gegenüber nicht loyal waren. Am 22. August 2020 wurde in Minsk Nikita Kriwzow, ein Fan des FK Maladsetschna, erhängt aufgefunden. Am Tag der Präsidentschaftswahl war er vor einer Kette von Milizionären mit der weiß-rot-weißen Protestflagge gesehen worden. Die Ermittlungen kamen zu dem Schluss, dass Kriwzow Selbstmord begangen habe, doch glaubt das kaum jemand.
Nach Einschätzung von Menschenrechtlern gab es in Belarus mit Stand vom 10. Juli 1236 politische Gefangene. Unter ihnen sind Dutzende Ultras, wobei in Mosyr, Soligorsk, Molodetschno, Minsk und Orscha besonders viele verhaftet wurden. Muss da noch erwähnt werden, warum die Fans den Stadien fernblieben? „Ohne aktive Unterstützung ist es nur ein Spiel mit einem Ball. Wir haben unsere Herzensangelegenheit auf Pause gestellt. Für einen echten Fan, für jemanden, der mit der Mentalität eines Ultras lebt, ist das sehr hart“, lautet die Analyse eines Ultras.
Auch gewöhnliche Anhänger haben es nicht leicht. Die Kontrollen der Miliz beim Einlass sind überaus streng; sie wurden nach der Wahl weiter verschärft. Die Klubs arbeiten schlecht und auch die Qualität des Fußballs kann einen kaum ins Stadion locken. 2012 kamen durchschnittlich 2014 Zuschauer ins Stadion, 2021 waren es nur noch 1422.
Wie steht es um die belarussische Meisterliga und die Nationalmannschaft?
In der aktuellen belarussischen Wyscheischaja Liha spielen 16 Teams. Viel zu viele. Jahr für Jahr haben viele Teams mitten in der Saison finanzielle Schwierigkeiten, weswegen einige dann die Saison nicht zu Ende spielen können. Die jüngsten Ereignisse haben zusätzlich Wirkung gezeigt. Wegen der Sanktionen, von denen die Besitzer der Klubs direkt betroffen sind, können diese sich keine hochklassigen Legionäre mehr leisten; es wurde eine Obergrenze für die Gehälter eingeführt und ein bestimmtes Kontingent an jungen Spielern, das auf dem Platz stehen muss.
Die 13-jährige Vorherrschaft von BATE Baryssau wurde zunächst von Dynamo Brest durchbrochen, das von Alexander Saizew finanziert wird. Saizew, ein Lukaschenko nahestehender Unternehmer, holte Diego Maradona nach Brest und machte ihn zum Vorstandsvorsitzenden des Klubs. Er geriet jedoch auf die Sanktionsliste und musste sich sowie sein Kapital aus dem belarussischen Fußball zurückziehen und seine Ambitionen aufgeben. Dynamo Brest gehört seit 2021 wieder dem belarussischen Staat, der Verein Ruch Brest wurde liquidiert.
Die letzten zwei Meistertitel errang der FK Schachzjor Salihorsk. Doch auch dieser Verein, der von dem sanktionierten Konzern Belaruskali finanziert wird, hat es nicht leicht. All das schlug sich in den Ergebnissen der Vereine nieder: In den letzten drei Saisons konnte sich keines der Teams in einem europäischen Wettbewerb für die Gruppenphase qualifizieren, 2021 war sogar spätestens in der zweiten Qualifikationsrunde Schluss. Hinzu kam, dass die Klubs und die Nationalmannschaft nach der erzwungenen Landung der Ryanair-Maschine im Mai 2021 und dem Beginn des Krieges in der Ukraine ihre internationalen Spiele nicht mehr in Belarus austragen dürfen.
Die Krise der Nationalmannschaft ist sogar noch heftiger. Trainer, die etwas auf sich halten, weigern sich, ein angeschlagenes Team zu übernehmen. Und die Führungsspieler weigern sich, zurückzukommen. Die Folge sind Negativrekorde wie das historische 0:8 gegen Belgien oder lange Serien von Niederlagen bei offiziellen Spielen, die Belarus in die unterste Etage des europäischen Fußballs abrutschen ließen. Im neuesten Ranking der UEFA belegt Belarus sogar den letzten Platz.
Die Stagnation im Fußball ist ein Spiegelbild der Lage im Land
Der belarussische Fußball steckt eindeutig in einer Krise. Doch den Verantwortlichen ist sehr bewusst, dass ihre Karriere nicht von Ergebnissen abhängt, sondern von ihrer Loyalität gegenüber dem Regime. Sie bleiben trotz aller Pleiten, die den belarussischen Fußball auf das Niveau der 1990er Jahre zurückwarfen, auf ihren Posten. Damals konnten junge ambitionierte Manager und Trainer die Karre aus dem postsowjetischen Loch ziehen; heute jedoch ist es gefährlich, Initiative zu zeigen. Der Fußball in Belarus schmort im eigenen Saft: Belarussische Spieler streben keine Karriere im Ausland an und Legionäre aus dem Ausland haben kein Verlangen nach einer toxischen Liga mit leeren Stadien. Das Niveau sinkt generell. Es wachsen keine neuen Stars heran – trotz der Pflichtkontingente von jungen Spielern in der Startaufstellung.
Die Stagnation im Fußball ist ein Spiegelbild der Lage im Land. Der belarussische Fußball wird sich nur dann aus dieser Lage befreien können, wenn sich auch das Land ändert – ein Umbruch im Sport wird erst mit einem politischen Wandel möglich.
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