„Wer lebt glücklich in Russland?“

Wer lebt glücklich in Russland? (Komu na Rusi shit choroscho?), ein unvollendetes Poem von Nikolaj Nekrassow, beschreibt das Bauernleben in den Jahren nach der Abschaffung der Leibeigenschaft. Das Poem gehört in Russland seit Sowjetzeiten zum Schulkanon und gilt als eines der zentralen Werke der russischen klassischen Literatur.

Die Grundidee des Werkes entstand zur Zeit der Abschaffung der Leibeigenschaft (1861) und der Reformen Alexanders II. (1860–70er Jahre). Die Reformen, vom progressiven Adelsstand zunächst mit Begeisterung wahrgenommen, brachten sehr schnell Enttäuschung mit sich: Die Abschaffung der Leibeigenschaft hatte nicht geradewegs zur ersehnten Freitheit geführt, sondern zunächst einmal eine Zerstörung der jahrhundertealten Traditionen mit sich gebracht und das bestehende soziale System in eine chaotische Auflösungsbewegung versetzt.

Vor diesem Hintergrund stellte Nekrassow sich die Aufgabe, eine „Epopöe des modernen bäuerlichen Lebens“ zu erschaffen, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre aktuellen Veränderungen ihren Niederschlag finden sollten. Er arbeitete an Wer lebt glücklich in Russland? die letzten dreizehn Jahre seines Lebens. Vier von acht geplanten Teilen wurden in den Jahren 1863-1877 verfasst. Nachträglich wurden in der Literaturwissenschaft die Unfertigkeit des Werks und die damit verbundenen Unklarheiten der Komposition als wichtige strukturelle Besonderheiten des Poems wahrgenommen.

Im Poem wird eine Reise von sieben russischen Bauern (Mushiks) dargestellt, die sich auf eine Reise durch Russland begeben, um nach einem „glücklichen Menschen“ zu suchen. In einem märchenhaften Prolog treffen sich die Bauern, die allesamt aus verarmten Dörfern mit „sprechenden Namen“  wie Saplatowo (Russisch für „Flicken“) oder Ne-Uroshajka (Russisch für „Missernte“) stammen, auf einer Landstraße. Jeder von ihnen sieht das Glück auf die eine oder andere Weise mit sozialem Status und Wohlstand verbunden, und so nennen sie Gutsbesitzer, Beamte, Popen, Kaufleute, Minister und sogar den Zaren als mögliche „glückliche Menschen“. Als die Sieben auch nach Streit und Schlägerei keine Einigkeit darüber gefunden haben, wer denn nun wirklich in Russland glücklich sei, fällt die Entscheidung, nicht nach Hause zurückzukehren, bevor eine Antwort gefunden sei. Dass Wohlstand und Glück nicht gleichbedeutend sind, stellt sich auf ihrer Reise dann recht schnell heraus.

Literarisch gesehen verwendet Nekrassow zum einen Techniken des Realismus, indem er  die Lebensumstände in den russischen Provinzen wirklichkeitsgetreu darstellt. Zum anderen bedient er sich bei Formen der mündlichen Volkskunst und der Folklore, aus der er typische Motive wie die „Suche nach der Wahrheit” (choshdenie sa prawdoi), das Tischleindeckdich, sprechende Tiere, Zahlenmystik usw. übernimmt. Dazu flicht er Redensarten, Volksweisheiten und Rätselsprüche in den Text und lässt seine Figuren oft in bäuerlichen Dialekten sprechen. Auch der dreihebige Jambus als Rhythmus des Poems ist für russische Folklorestücke sehr typisch.

In den eigentlichen Erzähltext mischen sich dazu collagenhaft auch andere Elemente hinein, wie Fetzen zufällig von den Protagonisten aufgeschnappter Gespräche oder Fragmente der Geschicke weiterer Personen, von denen oft nicht einmal der Name bekannt ist. Auf diese Weise entsteht ein ausgesprochen breit angelegtes Panorama des russischen Volkslebens. Bei aller Vielfalt der Schilderungen sind sich diese Erzählungen dabei in einem Punkt sehr ähnlich, denn sie kommen ausnahmslos zu ein und demselben Schluss: In Russland lebt niemand glücklich, einen glücklichen Menschen gibt es hier nicht. Die Abschaffung der Leibeigenschaft, die thematisch stets den Hintergrund des Poems bildet, hat in einer tragischen Verkehrung ihres eigentlichen Zwecks zum Zerfall der „großen und ewigen Kette“ der sozialen Zusammenhänge geführt, ja selbst die Suche nach Glück wird zu einem einzigen Leidensweg.

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