Er füllt Clubs und Konzerthallen zuverlässig: Musiker und Rüpel Sergej Schnurow mit seiner Ska-Punk-Band Leningrad. Er ist das Aushängeschild des russischen Undergrounds. So sehr, dass Schnurow eigentlich schon wieder kein Underground ist: Weil er zu den beliebtesten Musikern in Russland zählt. Jedenfalls für die Menschen, bei denen er mit seinem exzessiven Schimpfwortgebrauch – in Russland ist so etwas ein absolutes Tabu – den Ton für ein Lebensgefühl trifft. Und das seit knapp 20 Jahren. Wie schafft er das, fragt sich Jan Schenkman in der Novaya Gazeta? Ein Porträt.
Angst, blöd rüberzukommen, kennt Schnurow nicht, das ist ihm schon lange scheißegal. Seit vielen Jahren sagt er immer dasselbe, verändert nur die Form, aber mit ihm zu reden, ist immer wieder interessant. Der Bandleader von Leningrad versteht es wie sonst niemand, die kompliziertesten Dinge auf das Wesentliche zu reduzieren. Jede Antwort ein Aphorismus, wie der Refrain: „Nüchtern bin ich ein Leningrader, betrunken ein Petersburger.“
– Wovor haben Sie am meisten Angst?
– Ich habe manchmal Anfälle absoluter Furchtlosigkeit. Das macht mir Angst.
Eine blitzschnelle Reaktion, aber man sieht sofort, wie müde er ist. 2017 feiert Leningrad Jubiläum – 20 Jahre. Nach wie vor macht es Schnurow Spaß, Lieder zu schreiben und zu spielen, das gelingt ihm immer noch gut. Aber was er echt nicht versteht: Wieso soll er für das gesamte Gefüge der Welt geradestehen und Fragen zum Thema „Wie gestalten wir Russland“ diskutieren? Warum wählt ihn das Männermagazin GQ mit beneidenswerter Regelmäßigkeit zum Mann des Jahres, und das ganze Land freut sich? Warum ändert sich so lange nichts?
Ganz einfach. Man kann gut und gerne sagen, Russland sei hoffnungslos in den 2000er Jahren stecken geblieben und könne sich nicht davon lösen – und der wichtigste Gestalter der 2000er ist nun mal Sergej Schnurow. Er hat die Tür nach den 1990-ern eigenhändig geschlossen und sich dabei als letzter unter unseren Rockstars eingereiht, obwohl er sich gar nicht als Rocker sieht. Von daher haben viele das Gefühl: Es hatte doch alles so gut begonnen – Grebenschtschikow, Zoi, Schewtschuk – und am Ende dann: Schnur. Haben wir etwa davon geträumt? Sind das nicht Anzeichen von Verfall?
Die Kritik trifft den Falschen. Jede Zeit hat ihre Lieder, und für die Zeit, in der wir leben, hat er ein sehr genaues und feines Gespür. Die 2000er Jahre haben, ganz ihrem Namen entsprechend, alle Werte annulliert und uns von der Pflicht befreit, klug, ehrlich und gut zu sein. Genau das hat auch Schnur getan, noch dazu auf geistig und künstlerisch hohem Niveau. Seine zentrale Botschaft: Ja, so missraten sind wir, aber drauf geschissen, entspannt euch, besaufen wir uns, und komme, was da wolle.
Einen anderen, der es schafft, unsere entzweigerissene, hasserfüllte Gesellschaft zu vereinen, haben wir schlichtweg nicht
Oh, wie euphorisch wir in den Clubs abgetanzt haben! Zu Ljudi ne letajut (dt. Menschen fliegen nicht) und Po kakoj-to gluposti nam wsem moshet powesti (dt. Aus Dummheit kann jeder mal Glück haben).Das war der nächste Schritt nach Mamonows Ja gadost, ja dran, sato ja umeju letat (dt. Ich bin widerlich und dreckig, aber dafür kann ich fliegen!). Nicht mal fliegen war also unbedingt nötig. Ja, so sind wir, na und? Wir können nichts, wir wollen nichts, Hauptsache der Ölrubel rollt, bei Auchan ist Ausverkauf, und ein Türkeiurlaub kostet sowieso nichts.
Er sang: Nikowo ne shalko, nikowo, ni tebja, ni menja, ni ewo (dt. Leid tut einem niemand, nicht du, nicht ich, nicht er). Und wenn einem niemand leid tut, kann man sich alles erlauben. Lügen und Betrügen, Diebstahl und Besäufnis, dumme Weiber und debiles Gerede über Handys und Kohle. Ja, so sind wir.
Klingt fürchterlich, aber man kann es auch anders sagen: Schnurow hat uns erlaubt, wir selbst zu sein und uns darüber keinen Kopf zu machen. Die PR-Agenten von Pelewin, falls sich noch jemand erinnert, haben Unruhe verkauft, Schnur hingegen wirkt trotz seiner Exzentrik tröstlich. „Du kannst damit leben, es als Teil von dir annehmen“, sagte er bei Posner, „und es damit auch ein klein wenig überwinden. Die Energie der russischen Selbstzerfleischung verwandeln wir in eschatologische Begeisterung.“
https://youtu.be/Lq7gJqXobcE?t=14m
Sergej Schnurow bei Wladimir Posner: „Du kannst damit leben, es als Teil von dir annehmen.“
Sein liebster Trick – die Latte so tief zu hängen, dass man gar nicht tief fallen kann. Er identifiziert sich weder mit Großmachtstreben noch mit Antitotalitarismus, weder mit Avantgardekunst noch mit den Klassikern der russischen Literatur, so etwas nervt ihn ernsthaft. Es widerspricht seinem inneren Grundprinzip, sich selbst als schwarzes Schaf zu lieben. Sein Credo: Was auch immer der Mensch aus sich gemacht hat, von seinen Höhlen bewohnenden Vorfahren hat er sich nicht weit entfernt. Egal ob im Beamtensessel, unter der Brücke, auf dem Bolotnaja-Platz oder auf der Baustelle – alle sind gleich und ebenbürtig, wie nackt in der Banja. Niemand ist besser.
Wegen seiner landesweiten Popularität, seiner Ausgelassenheit und seines zwielichtigen Anstrichs wird Schnur oft mit Jessenin und Wyssozki verglichen. Hört man allerdings genau hin, dann ist die Analogie eine andere, nämlich Dowlatow:
„Tolja“, sage ich zu Naiman. „Lass uns doch Lew Ryskin besuchen.“ – „Nein, will ich nicht. Der ist so sowjetisch.“ – „Wie, sowjetisch? Sie irren sich!“ – „Na, dann eben antisowjetisch. Ist doch egal.“
In diesem Sinne ist Schnurow natürlich eine Klammer. Einen anderen, der es schafft, unsere entzweigerissene, hasserfüllte Gesellschaft zu vereinen, haben wir schlichtweg nicht. Dass in seinem Lied37 nicht das Jahr ist, in dem die stalinistischen Repressionen ihren Höhepunkt fanden, sondern lediglich eine Schuhgröße, ist ja kein Zufall. Und es ist auch kein Zufall, dass im Clip zu V Pitere – pit (dt. Piter – das heißt Trinken) ein Verkehrspolizist zuerst in die Newa geworfen wird, und später säuft man dann gemütlich miteinander. Denn eine Uniform lässt sich ausziehen und zu 1937 kann man so oder so stehen, aber Frauen wollen Kleider und Männer wollen Wodka – das wird keine Ideologie der Welt jemals ändern.
Mir gegenüber hat er diesen Gedanken mal anders ausgeführt: Die Band Leningrad stehe für Party und Liebe. Selbst wenn man eins hinter die Löffel bekommt, am Schluss müssen sich alle umarmen. Seine Lieblingsplatte sind die Bremer Stadtmusikanten, und das erklärt einiges: „Wir bringen den Menschen Lachen und Freude.“
Man findet bei ihm massenhaft vulgäres Mat, auch Brutalität und Grobheiten, aber nie Bosheit und Aggressionen. Wissenschaftlich sind schwere Schlägereien bei Leningrad-Konzerten jedenfalls keine belegt. Und selbst wenn etwas passiert, liegen sich am Ende tatsächlich alle in den Armen. Es gibt keinen Grund, einander ernsthaft böse zu sein.
Nur wenige bemerken, dass diese Musik eigentlich sehr warmherzig ist. Die Lippen formen sich von selbst zu einem Lächeln, alle sind glücklich. Das Geheimnis ist einfach: „Ich verspüre keinen Hass auf mein Volk“, sagt Schnurow. „Ich lebe hier, ich bin genau so, und ich bin auch nicht von mir begeistert. Man braucht sich nur nicht über andere zu stellen, dann ist niemand sauer.“
Aber gerade das ist es, was sie sauer macht – die einen wie die anderen: Liberale genauso wie Patrioten. Dass der im Großen und Ganzen harmlose und apolitische Schnur auf einmal so viele aufregt, ist ein zuverlässiges Zeichen für tektonische Verschiebungen in der Gesellschaft.
Folgendes ist passiert: Als er jegliche moralische Ansprüche auf null herunterschraubte und den Leuten ihr wahres Wesen zurückgab, war Schnur sich sicher, dass dieses Ass nicht übertrumpft würde. Für die 2000er Jahre stimmte das auch. In den 2010er-Jahren zeigte sich aber, dass es auch unter null geht. Schnur hat sich nicht geändert, er hat im Grunde getan, was er immer getan hat: Freude verbreitet, den Skomoroch, den Possenreißer gespielt. Ich weiß noch gut, wie bei einer Feier in seinem Betrieb Männer im Smoking und Frauen im Abendkleid einträchtig das Drei-Buchstaben-Wort schrien, das die Aufsichtsbehörde Roskomnadsor verboten hat. Genau das gleiche taten die einfach gekleideten Besucher auf seinen Stadionkonzerten. Und alle waren happy.
Doch dann kam es irgendwie unbemerkt zu einem Aufwallen von Wut. Schnur ist allerdings bis dato überzeugt, dass sich der Shitstorm hauptsächlich auf das Internet beschränkt, während im echten Leben eigentlich alle ganz normal sind. Dass alle, wie Babel schrieb, nach wie vor nur daran denken, ein gutes Gläschen Wodka zu trinken, irgendwem eins auf die Schnauze zu geben, und an die eigenen Pferde – sonst nichts.
Nicht alle. Sonst hätte sein Song mit dem Refrain Ty wse Rossiju proslawljajesch, a lutsche b musor wynosil (dt. Dauernd lobst und preist du Russland, bring doch lieber Müll runter) nicht so viele negative Gefühle hervorgerufen. Ja, sogar die völlig harmlosen Louboutins, die ein Publikum der Bevölkerungszahl Finnlands begeisterten, kamen auf einmal irgendwem sexistisch vor. Die Liberalen motzen: Im Land herrscht Totalitarismus, und er singt von Titten. Nichts anderes als ein Handlanger des Regimes. Und so weiter … Man braucht ja nur Nachrichten zu lesen, um sich ein Bild vom Ausmaß des Unheils zu machen, von der Zerrüttung in den Köpfen.
Nun gut, Schnur hatte ernsthaft gedacht, es sei unmöglich, die Latte niedriger zu hängen als er, aber die Gesellschaft hat sich ordentlich ins Zeug gelegt und das fertiggebracht. Und es ist erstaunlich: der Einzige, der dem entgegensteht, ist er. Er behält seine Position bei, aufseiten der Normalität, und verteidigt diese Normalität nach Leibeskräften. Denn Punk sein bedeutet heute nicht, auf facebook über Russland zu schimpfen und Fotoausstellungen zu demolieren, sondern man selbst zu bleiben und sich nicht dem Irrsinn hinzugeben.
Dicke breitmaulige Katzen, graubetuchte Großmütter oder grienende rosa Schweine nebst verdutzt blickenden Bären – was Wassja Loshkin zeichnet, ist meist das Gegenteil von süß. Wie Kritiker darüber denken, so sagt er, ist ihm herzlich egal, und es bringt ihm eine Menge Geld ein. Seine Bilder werden seit Jahren zigfach im russischsprachigen Internet geteilt, weiterverwendet oder animiert. Eines der ihm ebenfalls zugeschriebenen Motive (ausnahmsweise keine Katze oder anderes Getier, sondern eine Karte, auf der quer über das in Rot getünchte Land geschrieben steht: „Großes wunderschönes Russland“) ist gar mal auf der Liste extremistischer Materialien gelandet.
Dabei scheint Loshkin alles andere als politisch zu sein, wie der Besuch des Kommersant-Dengi in seinem Atelier zeigt. Der Journalist, offenbar ein Fan, zeichnet das Porträt eines Mannes, der zumindest schwer zu greifen ist: ein äußerst ironischer Zeitgenosse, der sich selbst nicht allzu ernst nimmt und doch oft ernst genommen wird. Für seinen Geschmack vielleicht zu oft.
Wenn man Wassja Loshkin anschaut, denkt man eher an einen coolen Hipster als an einen Künstler: sorgfältig getrimmter Bart, trendige Brille. Aber im Atelier ist alles wie es sich gehört – ein kreativer Saustall. Von den Wänden blicken einen finstre Kerle mit Axt in der Hand oder menschenähnliche Hasen und Bären an. Mitten im Raum steht eine riesige Statue aus Plastik: ein Fettwanst mit Flügelchen. Und unter dem Tisch schaut Putin von einem Portrait verurteilend hervor. Loshkin ist fleißig, bald hat er eine Ausstellung in der Neuen Tretjakow-Galerie. Etwa 70 Bilder sollen es sein, aber im Atelier sind nur noch ein paar – es wird ordentlich gekauft: „Ich versuche, ein Bild pro Tag zu malen.“
Manchmal erwachsen die Ideen aus irgendwelchen Wortspielen: Einfach ein Wort ausgedacht, „Schworsche“, sich hingesetzt und ein schweineartigen Sportwagen gemalt. Manchmal ist es genau umgekehrt: Er zeichnet eine Komposition, malt sie aus und klatscht irgendein Wort drauf, fast wie früher die sowjetischen Plakatkünstler: „Arbeit“ – und fertig ist das Meisterwerk!
Gleich an der Tür erfreue ich ihn mit einer Nachricht: „Ich kenne das Geheimnis Ihres Erfolgs!“ Vor drei- bis vierhundert Jahren gab es doch diese Lubok-Bilder, da malten Künstler etwa die Hexe Baba Jaga hoch zu Ross auf einem Krokodil oder Mäuse, die einen gefesselten Kater aufs Schafott schleppen. Die These, er habe die freigewordene Nische des Lubok besetzt, gefällt ihm: „Ja, stimmt, das waren witzige Bilder mit lustigen Sprüchen, die auf dem Markt verkauft wurden: Hatte der Bauer seine Produkte an den Mann gebracht, wurde für das Geld ein Bild erstanden und das Haus damit geschmückt.“
Das Schlimmste für ihn: seine Bilder erklären zu müssen. Als er begann, in Galerien auszustellen, kam er plötzlich mit einer ganz neuen Kategorie von Fan in Kontakt: „Im Internet gibt’s keine Rentnerinnen, und hier kommen sie in Scharen, inspizieren, loben und dann martern sie einen mit Fragen: ‚Was wollen Sie damit ausdrücken? Woher nehmen Sie Ihre Inspiration?‘ Keinen Schimmer, was weiß ich denn woher.“
Als andere Kinder Kosmonaut werden wollten, träumte Wassja Loshkin davon, Schauspieler zu werden. Später in den 90ern, als die Klassenkameraden einen auf Gangster machten, spielte Wassja Punk-Rock: „In den Liedern ging es um Tod und Teufel – kein düsterer russischer Rock, sondern Klamauk mit leichtem Hang zum Wahnsinn. Und das ist irgendwann in Malerei übergegangen.“
Er nahm mehrere Anläufe zum Malen. 1996 fand er auf der Müllhalde eine Rolle Zeichenpapier und machte sich daran, krankes Zeug zu malen – Folter, Mord, ausgeweidete Leichen. Seine Bekannten beeindruckte das nicht. Also machte er einen Abschluss in Jura, um dann keinen einzigen Tag als Jurist zu arbeiten. Er saß ohne Geld da. Anfang der 2000er Jahre versuchte er sich dann in sujethafter Ölmalerei. Und schließlich „verwirklichte er sich in Katzen“. Er hatte ein Bild auf LiveJournal hochgeladen und jemand kaufte es für 3000 Rubel [100 Euro – dek]. Von da an pinselte er Kater wie am Fließband.
Der Preis hängt vom Schwierigkeitsgrad ab: Ein kleines Bild mit zwei Figuren kostet 40.000 Rubel [knapp 600 Euro – dek]; ist das Bild größer und sind mehr Figuren drauf, verdoppelt oder verdreifacht sich der Preis. Gekauft wird in ganz Russland: „Ins Ausland verkaufe ich nicht. Unsere ehemaligen Landsleute wollen zwar gern etwas kaufen, aber die haben da oft ziemlich wenig Geld. Außerdem muss man Bescheinigungen besorgen, dass es sich bei dem Bild nicht um ein Kulturgut handelt …“
Das ist eine ernste Sache: Kunsthistorikerinnen fortgeschrittenen Alters versammeln sich, begutachten das Bild, wiegen den Kopf: wertvolles Kulturgut oder nicht? Meistens fällt das Ergebnis unerfreulich für den Künstler aus. Aber Wassja braucht die Wertschätzung der Kritiker nicht:
„Von den Malern mag ich Schischkin. Wald, irgendwelche Flüsschen – einfach schön. Außerdem mag ich Sawrassow und Aiwasowski. Also alles, was in einer sowjetischen Kindheit in den Wohnungen hing. Meine Bilder sind genauso – in erster Linie was fürs Auge. Hier zum Beispiel: Bären telefonieren mit einem Clown, der oben auf einem Baum hockt. Die Bären lächeln, der Clown hat Angst. Natürlich hat das auch einen Sinn, aber darüber denke ich nicht nach. Mir ist wichtiger, das Auge zu erfreuen.“
Ziel seiner Kunst, so der Maler, sei, dass einer das Bild sieht und „Woah!“ sagt. Dass ihm die Sicherungen durchbrennen und er vor Lachen weinen muss. Er sagt, der beste Ort für seine Bilder seien Büros, zu schade, dass nicht alle Unternehmen das so sähen.
Alle seine Figuren haben denselben Prototyp – als Vorlage dient immer er selbst: „Wenn ich irgendeine Fratze malen muss, dann ziehe ich sie und male sie ab. Mittlerweile schaue ich nicht mehr in den Spiegel. Die sind doch alle gleich bei mir und wandern von einem Bild aufs nächste. Ich kann ja gar nicht malen.“ In Zeiten, wo sich jeder, der eine Vase zeichnen kann, Künstler nennt, besticht Wassja mit Bescheidenheit: Kann ich nicht, weiß ich nicht, darüber denke ich nicht nach. „Ich kämpfe ständig gegen meinen Hochmut, damit ich von der Seite nicht wie ein Idiot aussehe.“
Mit seinem Leben ist er außergewöhnlich zufrieden, mit der Epoche eigentlich auch: „Ich habe noch nie so gut gelebt wie jetzt, auch finanziell gesehen.“ Nennt ihn jemand Kämpfer gegen das Regime, ist er sichtlich überrascht, macht aber keine Anstalten, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. „Kaum postest du etwas im Internet, geht’s auch schon los: Krim, Putin, Ukraine, Misulina – jeder schreibt, was ihn bewegt. Die Leute sind gerade verrückt nach Politik, das ist das Pop-Thema schlechthin. Wir können nicht über Neurochirurgie reden. Aber wie man Russland retten soll, das weiß jeder.“
Dass jeder in seinen Bildern etwas Eigenes sieht, hat einen großen Vorteil: Jeder kann etwas mit ihnen anfangen. Aber es hat auch Nachteile: Ständig werden ihm fremde Ideen angedichtet, manchmal sogar fremde Bilder. Seine Bilder haben sich längst in ein „Do it yourself“-Bastelset verwandelt: Man macht in Photoshop Collagen aus ihnen und alle glauben, Wassja Loshkin hätte das gemalt. Auch beim Bild „Großes wunderschönes Russland“, das auf der Liste extremistischer Materialien gelandet ist, herrscht Unklarheit über den Urheber. Man findet im Internet verschiedene Versionen. Das lässt ihn ruhig schlafen.
Auch ohne Politik findet er das Leben interessant genug. Er hat nicht einmal feste politische Überzeugungen: „Ästhetische habe ich: Ich bin orthodoxer Stalinist. Mir gefällt die Antithese ,Wir und die‘. Wir sind die Lichten, Guten, Wunderschönen, und die haben da Schwule, Lesben, Ausländer.”Bei dem Einwand, unter Stalin hätte er wohl kaum solche Bilder malen können, lacht er: „Ich hätte das gleiche gemalt! Ich bin doch Opportunist. Dann wären es eben Bourgeois, Faschisten und Kapitalisten mit solchen Gesichtern gewesen. Den Bourgeois male ich ja jetzt auch.“ Seine Bilder sind zeitlos, denn er malt nie zur Tagespolitik: „Merinow und andere Karikaturisten machen das, was hier und jetzt ist. Bei mir ist alles ewig. Mystik, ein Appell an den innersten Zustand der Seele. Hier zum Beispiel…“, Loshkin bleibt neben einem Bild stehen, es trägt die Aufschrift: Nur durch Glauben, Liebe, Arbeit und Medizin können wir die schlimme Krankheit Homosexualität besiegen. „Dieses Bild ist neulich bei Facebook aufgetaucht:
Zwischen dem Künstler und seinen Fans klafft ein tiefer Graben des Missverstehens: „Meine Bilder sind in Wirklichkeit gar nicht böse. Und die stopfen sie auf Teufel komm raus mit Politik voll – malen die ukrainische oder die DNR-Fahne rein und geben diese tollen Meisterwerke der Kunst als meine Arbeit aus. Es gab mal diese Talkshow NTWschniki, die haben eine fürchterliche Collage aus meinen Bildern zusammengeschnippelt, um das Studio zu dekorieren. Darin haben sich dann zwei Gruppen – sogenannte Russophobe und Patrioten – versammelt und angefangen zu streiten. Plötzlich zeigt Anton Krassowski auf diesen Schund aus Äxten und schreit: ‚Sogar Wassja Loshkin hasst Russland!‘ Mir blieb fast die Luft weg, als ich das sah: Ey, du mieses Schwein! Oder dieser Trickfilm, der gerade im Netz kursiert. Der Macher ist auf meine Webseite gegangen, hat 400 Figuren ausgeschnitten, das Ganze animiert und einen 40-minütigen Trickfilm unter dem Motto ‚Das finstere Russland‘ daraus gemacht. Stellen Sie sich mal vor, was für eine Arbeit das gewesen sein muss. Der Typ hat sie doch nicht alle. Ich hab mal reingeschaut – du meine Güte! Und überall steht ‚Wassja Loshkin‘ drunter.“
Der Künstler wird nicht müde zu betonen, dass sich seine Bilder an das Herz richten, nicht an den Verstand: „Die Bilder berühren eine Saite der Seele. Eine gute! Heutzutage sind die Menschen in Liberale und Patrioten gespalten. Sie hassen einander, und dann sehen sie mein Bild und allen gefällt es. Mag sein, dass sie durch mich keine Freunde werden, aber ich spinne einen dünnen Faden zwischen ihnen. Eine gottgefällige Tat.“
Höhenflüge in Traum und Wirklichkeit
Wassja Loshkin ist ein Pseudonym. Irgendwann hat sich Alexej Kudelin mal unter diesem Namen im Internetforum von Solnetschnogorsk registriert und ihn später zu LiveJournal mitgenommen. Mittlerweile hat er sich daran gewöhnt, dass man ihn damit anspricht: „Ein Kumpel von mir, der Petersburger Künstler Kopeikin nennt mich Wassja und ich ihn Kolja. Obwohl er eigentlich Oleg heißt und ich Alexej.“ Berühmt fühlt er sich seit etwa fünf Jahren: Sogar seine Mutter hat sich einen Facebook-Account zugelegt und liked die Kunst ihres Sohnes.
Vor drei Jahren ist er mit seiner Familie nach Jaroslawl gezogen. Hier gefällt es ihm sehr: alte Häuschen, ruhige Uferstraßen, alles ist langsamer und sicherer als im Großraum Moskau. Wenn politisierte Fans ihm etwas von Emigration ins ferne Ausland erzählen wollen, wird er fuchsig: „Wohin soll ich bitteschön? Mir haben schon die 300 Kilometer nach Jaroslawl gereicht! Alle hatten versucht, mich davon abzuhalten: Bist du verrückt geworden? Da gibt’s Junkies und ‘ne Farbenfabrik. Und überhaupt: Ich bin Russe und muss hier leben. Auch wenn es pathetisch klingt.“ Russland liebt er, weil es groß und schön ist und Seele hat. Die Natur mag er – die Wälder, Flüsse und Felder. Würde er irgendwo unter Palmen leben, würde er sofort anfangen zu trinken.
Zugegebenermaßen hat er auch hier mal gesoffen. Da gab es so eine Phase in seiner künstlerischen Laufbahn. „Ich hab gesoffen wie ein echter Alki, nicht wie so’n Amerikaner.“
Aber es gibt Dinge, die um einiges interessanter sind als der Suff: Er träumt davon, ein Panorama im Stil der Schlacht von Borodino zu machen, nur mit mystischem Sujet, dass zum Beispiel Engel und Dämonen miteinander kämpfen. Die Leute sollen da reingehen und völlig durchdrehen. Außerdem spielt er in der Band Ebonitowy kolotun [dt. Ebonit-Schlotterei]. Zu den Konzerten kommen rund 50 Leute. Kann ja nicht jeder ein Rockstar sein. Dafür mag sein Kind die Musik vom Papa immer mehr, will ständig, dass er sie beim Autofahren anschaltet. Ist das etwa nix?
Kurzum, nun lebt er das ruhige Leben eines rechtschaffenen Mannes und nicht einmal die Frage, was sein wird, falls seine Kater beginnen sollten, die Leute zu langweilen, kann ihn beunruhigen: „Ich denke mir ja selbst, dass die Kunden bald die Nase voll haben werden davon. Dann werde ich Schauspieler. Ich hatte letztens mein Debut im Gogol-Center in einem Stück mit dem Titel Achtung, F. Das sind mehrere Novellen über Frauen: Mutter und Tochter, Ehefrau und Geliebte, Arzt und Patientin, irgendwelche Leidensgeschichten. Und ich war die männliche Figur, die verbindet – Vater, Ehemann, Geliebter, und sogar ein Kater. Die Rolle war eher klein, aber ich hab gut gespielt und man wird mich wieder fragen. Ach, wär ich doch jünger, es ist ziemlich anstrengend, für die Proben zwischen Moskau und Jaroslawl zu pendeln.“
Außerdem hat Wassja noch ein UFO gesehen – ein riesiges Dreieck aus Licht, das direkt über den Dächern schwebte und dann – zisch! – davongerauscht ist in den Himmel: „Der Kosmos ist ja riesig, der passt gar nicht in unseren Kopf. Da kann es alles geben. Aber noch interessanter ist der Gedanke, dass da gar keiner ist, in diesem wahnsinnig großen Kosmos; dass wir die Einzigen sind und der Kosmos selbst uns erschaffen hat, um rauszufinden: Was bin ich denn nun?“
Er galt nicht nur als lebender Klassiker der russischen Literatur, sondern auch als echter Trendsetter: So wurde noch zu Lew Tolstois Lebzeiten sein Landgut Jasnaja Poljana zu einem Pilgerort. Denn Lew Nikolajewitsch liebte Erfindungen und Experimente und verwandelte sein Haus in ein Zentrum von Innovationen. Wie der nicht so alltägliche Alltag in Jasnaja Poljana aussah, erkundet Maria Bessmertnaja auf Kommersant-Weekend anhand von Erinnerungen der Gäste Tolstois.
Zum 188. Geburtstag des Schriftstellers am 9. September 2016 bringt dekoder ihren Text erstmals auf Deutsch, der zeigt: Tolstoi war ein echter Hipster. Und bei allem Augenzwinkern verrät Bessmertnajas ehrfürchtiger Ton außerdem: Ein Schriftsteller ist in Russland nicht einfach nur ein Schriftsteller. Sondern eigentlich heilig. Mindestens.
FITNESS
„Er streckte seine Hände aus und hob mich hoch in die Luft – als wäre ich ein kleiner Hund “
Cesare Lombroso,Mein Besuch bei Tolstoi, 1902
Am Tag meiner Ankunft spielte er zwei Stunden mit seiner Tochter Rasen-Tennis, danach bestieg er ein von ihm selbst aufgezäumtes und gesatteltes Pferd und lud mich ein, mit ihm baden zu gehen. Es bereitete ihm besondere Freude zu sehen, dass ich nach einer Viertelstunde nicht mehr in der Lage war, hinter ihm her zu schwimmen. Und als ich meine Bewunderung für seine Stärke und Ausdauer zum Ausdruck brachte und meine eigene Ohnmacht beklagte, streckte er seine Hände aus und hob mich ziemlich hoch in die Luft – mit einer Leichtigkeit, als wäre ich ein kleiner Hund.
Tolstoi hat seinerzeit sehr für Sport geworben. Er machte ausdauernde Spaziergänge zu Fuß, trieb Gymnastik, schwamm, ritt und lief und bewies am eigenen Beispiel, dass das Bild eines Intellektuellen, der nicht in der Lage ist, etwas Schwereres als ein Buch zu heben, der Vergangenheit angehören sollte.
SELFIE
„Lew Nikolajewitsch freute sich wie ein Kind, als er sich auf den Bildern erkannte “
Sofja Tolstaja, Tagebuch, 1910
Am Abend brachte Tschertkow die Fotos vorbei, die er in Mestscherskoje gemacht hat, wo ihn Lew Nikolajewitsch besucht hatte. Und Lew Nikolajewitsch freute sich wie ein Kind, als er sich selbst auf den ganzen Bildern erkannte.
Zu Beginn der 1860er Jahre wurde die Fotografie in Russland zur Massenmode und machte auch um Tolstoi keinen Bogen – der ja alle technischen Neuerungen verfolgte. Als größte Fotoamateurin der Familie galt zwar Sofja Andrejewna, aber auch Tolstoi hatte etliche Kameras. 1862 machte er sogar ein Selfie. Aber im Unterschied zu seinen Zeitgenossen, die die Fotografie lediglich als Spielerei betrachteten, ahnte und schätzte Tolstoi ihre großen Möglichkeiten. Und obwohl sein fotografisches Lieblingsgenre das Porträt war, sagte er gerade der Reportage-Fotografie eine große Zukunft voraus.
VEGGIEBURGER
„O ja! Ich war auch mal jung … und der Kaukasus war jung … und die Fasane waren jung …“
Leonid Pasternak, Wie der Roman „Auferstehung“ geschaffen wurde: Aus meinen Erinnerungen an Tolstoi, 1928
Eines Tages, als wir beide unten saßen, kam Tatjana Lwowna rein, um mich zu fragen, was sie für mich kochen sollte (Sofja Andrejewna war verreist, und Tatjana Lwowna kümmerte sich an ihrer Stelle um den Haushalt). Bei den Tolstois wurden immer zwei unterschiedliche Gerichte gekocht: einmal mit Fleisch und einmal ohne ̶ für Lew Nikolajewitsch und andere Vegetarier. Lew Nikolajewitsch, wie immer humorvoll, hat sofort damit angefangen, uns Ratschläge zu geben, was man für mich kochen sollte. Und am Ende sagte er lachend: „Na gut, Tanja, sag dem Koch, er soll für Leonid Ossipowitsch einen Fasan braten.“ (Dabei schaute er durchs Fenster in den Park.) Und dann, nach einer kurzen Denkpause, fügte er mit gedehnten Worten hinzu: „O ja! Ich war auch mal jung … und der Kaukasus war jung … und die Fasane waren jung …“
Laut dem Interview, das Lew Tolstoi 1908 der amerikanischen Zeitschrift Good Health gab, wurde er gegen 1883 Vegetarier. Dieser Entschluss war die logische Folge seiner Lehre davon, dass jegliche Gewalt unmoralisch sei. 1893 schrieb Tolstoi den Artikel Die erste Stufe. Ursprünglich wurde der als Vorwort zum Buch von H. Williams Ethik des Essens veröffentlicht, das eine wichtige Rolle dabei spielte, den Vegetarismus in Russland populär zu machen. Es wurde das erste Handbuch für Vegetarier in Russland. Unter Tolstois Einfluss verzichteten nicht nur seine engen Freunde auf Fleisch (Nikolaj Ge, Ilja Repin, Nikolaj Leskow), sondern auch weite Kreise der Moskauer Gesellschaft ̶ 1912, schon nach Tolstois Tod, wurde dort sogar der Verein Geistiges Erwachen gegründet, der den Ersten Allrussischen vegetarischen Kongress organisierte.
NORMCORE
„Wie schön wäre es, wenn der Lew Nikolajewitsch tatsächlich so wäre! “
Nikolaj Gussew, Zwei Jahre mit Tolstoi, 1907 bis 1909
Gestern bekamen wir die Jubiläumsausgabe der Ussurijskaja Molwa, in der ein Artikel über Lew Nikolajewitsch veröffentlicht wurde mit einem Foto, auf dem er in einer Poddjowka, der Pilgerkleidung, und mit einer Tasche über der Schulter, zu sehen war. Lew Nikolajewitsch betrachtete dieses Foto lange und sagte dann mit leiser, nachdenklicher, trauriger Stimme zu mir: „Wie schön wäre es, wenn der Lew Nikolajewitsch tatsächlich so wäre!“
Tolstois Verzicht auf Adelskleidung entsprach seiner Überzeugung, dass die Standesunterschiede überwunden werden müssen. Tolstoi kreierte zwar keine neue Mode, nahm aber den Demokratisierungs-Trend in Sachen Kleidung vorweg, um den im Laufe des gesamten 20. Jahrhunderts gekämpft werden sollte.
LOKALE MARKEN
„Heute hat Lewotschka eine Galosche genäht “
Sofja Tolstaja, Brief an Tatjana Kusminskaja, 1884
Heute hat Lewotschka eine Galosche genäht. Da kommt er zu mir, um sie mir zu zeigen, und sagt: „C’est délicieux!“ Die Galosche war aber sehr grob genäht und hatte einen hässlichen Schnitt.
Seine ersten Stiefel nähte Tolstoi 1884. Darüber schreibt Sergej Arbusow in seinen Memoiren, er diente bei den Tolstois als Lakai. Damals kam Tolstoi zu der Überzeugung, dass die Schriftstellerei eine sinnlose Beschäftigung sei, und wollte irgendeinen „echten“ Beruf lernen. Schließlich fand er in Jasnaja Poljana einen Schuster, der sich bereit erklärte, ihn auszubilden. Wegen dieses Hobbys wurde Tolstoi, der nicht nur für sich, sondern auch für Freunde und Familie Schuhe nähte, Inkonsequenz unterstellt – denn zu diesem Zeitpunkt war er bereits Vegetarier. Allerdings mochte auch Tolstoi selbst seine „Rindsleder-Stiefel“ nicht besonders gern und brach stattdessen zu mehrstündigen Spaziergängen immer wieder in Bastschuhen mit Galoschen auf.
BIKING
„Die Kunst des Radfahrens erlernte der Graf ohne große Mühe, und er fährt jetzt völlig sicher und frei “
Wassili Maklakow, Aus Erinnerungen, 1954
Als die Fahrräder in Mode kamen, schloss Tolstoi trotz seines hohen Alters das Radfahren ins Herz. Einmal fragte ich ihn in Jasnaja Poljana, warum er lieber das Fahrrad nahm anstatt zu reiten. Er erklärte mir damals, dass er ab und zu komplette mentale Erholung brauche. Und wenn er zu Fuß liefe oder reite, hindere ihn das nicht daran zu denken, sodass sein Gehirn sich nicht ausruhe. Wenn er aber mit dem Rad fahre, müsse er auf den Weg achten, sprich auf Steine, Radspuren und Löcher; und dabei höre er auf zu denken.
Ein Fahrrad der englischen Marke Rover bekam Tolstoi 1895 – also, als diese Sportart sich in Russland gerade erst zu entwickeln begann – von der Moskauer Gesellschaft der Fahrradfahrer geschenkt. Auch hier war Tolstoi ein Trendsetter, denn er wurde mit 67 Jahren zum Gesicht einer neuen Sportmode.
In der Fahrrad-Zeitschrift Cycliste erschien ein Artikel, in dem es hieß, dass Tolstoi nicht nur selbst Fahrrad fuhr, sondern auch seinen Kindern das Radfahren beibrachte: „Wir haben ihn vergangene Woche dabei beobachtet, wie er, in sein traditionelles Hemd gekleidet, in der Reitbahn Fahrrad fuhr. Die Kunst des Radfahrens erlernte der Graf ohne große Mühe, und er fährt jetzt völlig sicher und frei. Auch die Kinder von Lew Nikolajewitsch sind Radfahrer.“
„Dürfte ich Sie bitten, mit dem Phonographen eine kurze Ansprache an die Völker der ganzen Welt zu machen? “
Thomas Edison, Brief an Lew Tolstoi, 1908
Gnädiger Herr! Dürfte ich Sie darum bitten, mit dem Phonographen eine oder zwei Aufnahmen auf Französisch oder Englisch zu machen, am besten eine kurze Ansprache an die Völker der ganzen Welt, in beiden Sprachen? Idealerweise sollte es eine kurze Ansprache an die Völker der Welt sein, in der Sie eine Idee zum Ausdruck bringen würden, die die Menschheit in moralischer und sozialer Hinsicht nach vorne bringt. Sie sind weltberühmt, und ich bin mir sicher, dass Ihre Worte dann von Millionen von Menschen mit begieriger Aufmerksamkeit gehört werden.
Die erste Aufnahme, auf der Tolstois Stimme zu hören ist, stammt von 1895. Sie wurde im Haus von Juli Blok gemacht – einem Pionier der russischen Tonaufnahme. In den Besitz eines eigenen Phonographen kam Tolstoi aber erst 13 Jahre später: Thomas Edison persönlich schickte ihm 1908 seine Erfindung. Zusammen mit dem Geschenk kam ein Brief, in dem er Tolstoi darum bat, spezielle Aufnahmen für nicht-russischsprachiges Publikum zu machen.
Pawel Birjukow erinnert sich daran, dass Tolstoi den Phonographen mit großer Aufregung erwartete, die für ihn untypisch war. Aber er freute sich schon auf den Nutzen, den ihm dieses Gerät bringen würde. Und tatsächlich wurde Tolstoi zum ersten russischen Schriftsteller, der den Phonographen für seine Arbeit verwendete: Er nahm belletristische Werke, Briefe, Publizistik und Märchen auf, die er dann in der Schule von Jasnaja Poljana den Kindern vorspielte.
KINDERERZIEHUNG
„In jeder Schule wimmelt es nur so von ‚ertrinkenden‘ Puschkins, Ostrogradskis und Lomonossows “
Lew Tolstoi, Brief an Alexandra Tolstaja, 1874
Wenn ich die Schule betrete und diese Schar zerlumpter, schmutziger, magerer Kinder sehe, mit ihren hellen Augen und oft engelhaften Gesichtern, überkommen mich Besorgnis und Entsetzen ̶ wie beim Anblick ertrinkender Menschen … Ich wünsche mir Bildung für das Volk, nur um diese ganzen „ertrinkenden“ Puschkins, Ostrogradskis und Lomonossows zu retten. Denn in jeder Schule wimmelt es nur so davon.
1859 wurde in Jasnaja Poljana eine Schule für Bauernkinder eröffnet. Auf dem Lehrplan standen: Lesen, Schreiben, Kalligrafie, Grammatik, heilige Geschichte, russische Geschichte, Mathematik, naturwissenschaftliche Diskussionen, Malen, technisches Zeichnen, Singen und Religion.
Das leitende pädagogische Prinzip bestand darin, dass auf die Schüler kein Druck ausgeübt wurde: Der Unterricht, der unter anderem von Tolstoi selbst gegeben wurde, wurde zeitlich frei eingeteilt, es bestand keine Pflicht, Hausaufgaben zu machen, und der Schwerpunkt wurde darauf gelegt, die Kinder zu eigenständigem Denken anzuregen.
VINYLOPHILIE
‚Also!‘, sagte Lew Nikolajewitsch laut. ‚Also!‘, wiederholte er begeistert. Sein rechtes Bein zuckte, seine Augen leuchteten. ‚Na, so was! Aber echt!‘ – sagte er angetan “
Alexej Sergejenko, Tanzmusik (Anekdoten über L.N. Tolstoi: Aus Erinnerungen, 1978)
Am 9. Dezember 1903 kamen mein Vater und ich nach Jasnaja Poljana und brachten, gemäß W. W. Stassows Bitte, ein Grammophon mit. Das war damals noch eine echte Kuriosität und Lew Nikolajewitsch hatte so etwas noch nie gehört. […] Am Abend versammelten sich alle Hausbewohner inklusive Lew Nikolajewitsch im Salon. Das Grammophon mit dem riesigen Trichter stellte man auf den Flügel. Mein Vater und ich zogen das Federwerk auf und legten Schallplatten auf. Es wurden Werke von Beethoven, Chopin und Tschaikowski gespielt sowie Opernarien und ein Geigentrio. Alle lauschten der Musik ernst und konzentriert und wunderten sich über die unglaubliche Erfindung, die in der Lage war, die in der Natur vorhandenen Laute wiederzugeben. Lew Nikolajewitsch sagte ab und zu mit Staunen: „Also …“ Dann ertönte das Tanzstück Die Pflasterstraße entlang. Der Chor sang keck: „Ein junges Mädel lief die Pflasterstraße entlang, lief kühles Quellenwasser holen …“ „Also!“, sagte Lew Nikolajewitsch laut. „Also!“, wiederholte er begeistert. Dann lächelte er und schüttelte den Kopf. Sein rechtes Bein zuckte, seine Augen leuchteten. „Na, so was! Aber echt!“ – sagte er angetan. Sein rechtes Bein zuckte wieder, sein linkes auch.
Sein Grammophon hat Tolstoi 1903 von seinem Schüler Alexej Sergejenko geschenkt bekommen. Tolstoi war ganz begeistert von dem Geschenk und erkannte später auch die großen aufklärerischen Möglichkeiten der neuen Technik. Tolstoi wurde zu einem enthusiastischen Nutzer des Phonographen. Seine einzige Kontroverse mit der Schallplattenindustrie entstand erst, als ihm klar wurde, dass die Aufnahmen seiner Stimme nur gegen Geld verbreitet wurden. Das hinderte die Firma Grammophon aber nicht daran, im Jahr 1910, gleich nach Tolstois Tod, Schallplatten mit seiner Stimme herauszugeben in einer für die damalige Zeit rekordverdächtigen Neuauflage von 100.000 Stück.
Spot an, die halbe Welt schaut zu: Die ukrainische Krim-Tatarin Jamala gewinnt den Eurovision Song Contest 2016 – nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit Russland und mit einen Lied, das die leidvolle Geschichte ihres Volkes unter Stalin besingt. „Zu politisch“, kritisierten manche, die den Song auch als eine Anspielung auf die Situation der Krim-Tataren heute verstehen.
Andrej Archangelski befindet auf Colta.ru: Ja, der ESC ist politisch. Und das ist gut so.
Derzeit begegnen Millionen russischer Fernsehzuschauer einmal jährlich dem realen Europa – wortlos, wie Stierlitz seiner Frau. Millionen russischer Fernsehzuschauer haben Gelegenheit – ohne ideologische Interpretation und in natürlicher Umgebung – eben jene Europäer anzuschauen. Die uns unsere Identität nehmen wollen und denen deswegen der Untergang droht. Europa wirkt dabei ziemlich einheitlich: einander ähnelnde Frauen in glitzernden Roben, beziehungsweise Männer in gestreiften Jacketts mit lustigen Fliegen.
Der will uns vernichten? Der mit der Streifenhose und dem lustigen Namen?
Die Bilder vom ESC müssten im Prinzip hart aufeinanderprallen mit dem, was der Fernsehzuschauer täglich von Europa zu sehen und hören bekommt. Im Prinzip müsste er sich fragen: Das also sind unsere Feinde? … Die sollen uns vernichten wollen? … Der da? Mit seinem Propeller und der Streifenhose und dem lustigen Namen? …
Doch die Moderatoren schlagen an diesem Tag tatsächlich einen anderen Ton an als sonst. Als ESC-Kommentator muss man, abgesehen von der grundlegenden Intonation, auch auf die Spielart achten – wie in einer Partitur: „wohlwollend, aber mit leichter Ironie“ oder „mit einem Anflug von Ärger“. All diese Nuancen wurden bereits in der sowjetische Sprecherschule erarbeitet, Vorbilder gibt es also genug. Doch eines ist klar – diese Sendung bleibt harmlos (krass wird’s erst morgen).
Es ist eine heikle Arbeit: Millionen von Zuschauern wissen zu lassen, dass die Eurovision in unserem Fernsehen „eine vorübergehende Erscheinung“ ist, „ein Spiel“, „ein Muss“ – und dabei mit der Stimme regelrecht zu zwinkern. Und all das nur, weil es der russischen Staatsmacht kurioserweise immens wichtig ist, den Wettbewerb derjenigen zu gewinnen, deren Lebensstil sie erklärtermaßen verachtet.
Worte, wie in Bronze gegossen
Der Sieg Jamalas war für alle überraschend (deswegen ist ein Wettbewerb ein Wettbewerb), für das russische Fernsehen aber ganz besonders. Bei der Jurywertung war ja mit riesigem Abstand Australien auf Platz 1 gelandet, beim Publikumsvoting Russland.
„Die Politik war am Ende stärker als die Musik“, so begann der Moderator bei Rossija 1 Boris Kortschewnikow seinen Kommentar zum Ergebnis. Bis zum nächsten Morgen waren diese Worte in Bronze gegossen, wie auch folgende fixe Formulierungen: „Die Völker Europas haben für den russischen Interpreten gestimmt“, und: „Die Abstimmung war politisch“. Für die Propaganda eine tadellose Formel.
Hier können uns Linguisten weiterhelfen: Das Wort „Politik“ gehört in Russland dem Staat. Er hält 99 % der Aktien an diesem Wort. Als psychologischen Abwehrmechanismus auf dieses unnatürliche Monopol entwickeln die Menschen seltsame Konzepte, an die sie irgendwann selbst glauben, wie etwa: „Kultur und Politik existieren unabhängig voneinander“, Kultur oder Sport „sollen nicht politisch sein“.
Wenn man das so sagt, kann man genauso gut sagen: „Kultur und Sport dürfen nicht den Menschen gehören“, denn Politik umfasst sowohl Sport als auch Kultur.
Bei einem Menschen oder einem Ereignis das Politische vom Nichtpolitischen zu trennen, ist äußerst schwierig. Und wozu auch? Wenn das Politische doch ursprünglich das „Menschliche“ bedeutet.
Natürlich ist der ESC politisch – das ist weder ein Geheimnis, noch ein Problem
Die schreckliche Wahrheit ist, dass der Eurovision Song Contest tatsächlich politisch ist – doch ist das weder ein Geheimnis, noch ein Problem. Und zwar genau deswegen, weil Politik eigentlich den Menschen gehört und niemand Angst vor ihr hat.
Der Wettbewerb ist schon allein dadurch politisch, dass jede Abstimmung von Millionen Menschen über eine beliebige Frage auch immer ein Plebiszit ist. Und wird auf einen Staat Einfluss haben. Allein durch seine Existenz glättet der Wettbewerb internationale Wogen, bringt Menschen auf andere Gedanken.
Wenn 26 Länder einander Herzchen und Likes schicken – klar ist das Politik. In ihrer neuen Bedeutung, wo im Zentrum der Mensch steht, und nicht der Staat. Dass einige Länder nie für bestimmte andere voten – auch das ist Politik. Wie im übrigen auch, dass manche Punkte als symbolische „Bitte um Verzeihung“ zu verstehen sind (Deutschland hat seine 12 Punkte Israel gegeben) – auch das wird keine musikalische Bedeutung haben.
Vielleicht geht das als „erster Schritt zur Versöhnung“ in die Geschichte ein
Dass die Ukraine und Russland einander im Publikumsvoting „wieder, als ob nichts gewesen wäre, wie damals“fast die höchste Punktzahl gaben (Russland der Ukraine 10 Punkte, die Ukraine Russland 12) – das zeigt, dass die Eurovision geschafft hat, was bisher niemandem gelungen ist.
Gott sei Dank gibt es diese Art von Politik. Beten sollte man für eine solche Politik, auf die Knie fallen vor ihr. Dass der russische Sänger der ukrainischen Sängerin zum Sieg gratulierte – wer weiß, vielleicht geht das als erster Schritt zur Versöhnung in die Geschichte ein, und insofern ist Sergej Lasarew durchaus ein Sieger, aber in einem anderen, wichtigeren Sinn – dem moralischen.
Der politische Konflikt zwischen Russland und der Ukraine wurde eins zu eins auf die Musik übertragen. Und dabei wohlgemerkt nicht geglättet, dafür ganz und gar ins Menschliche gedreht. Natürlich konkurrierten nicht die Sänger, sondern das Image des jeweiligen Landes. In diesem Wettkampf hat die Ukraine gesiegt. Weil (zumindest) in der heutigen Kultur ein Opferkult und kein Siegerkult vorherrscht, was Michail Jampolski sehr treffend beschreibt.
Heute gewinnt man nicht mit Panzern, sondern mit Liedern
Das ist für die russische Propaganda eine wertvolle Lektion – heute gewinnt man nicht mit Panzern, sondern mit Liedern. Mit dem Ergebnis, dass die Ukraine wieder weltweit im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Der nächste Songcontest ist ein Garant der Sicherheit für die Ukraine, denn jetzt werden alle teilnehmenden Länder, einschließlich Russland, daran interessiert sein, dass die Ukraine ein sicherer Ort ist.
Mit anderen Worten: Der Sieg der Ukraine bedeutet die Legitimität der Ukraine. Und diese Tatsache wird, um es mit dem sowjetischen Agitprop zu sagen, manch heißen Kopf herunterkühlen.
Schon jetzt gibt es rhetorische Figuren: Teilnehmen oder nicht teilnehmen, und wenn ja, mit wem (еine Variante wäre Schnur von der Petersburger Gruppe Leningrad). Das wird nun eine politische Entscheidung, und gefällt wird sie nicht im Fernsehen.
Wenn es heißt, nächstes Jahr braucht Russland einen Künstler „mit so einem Lied, wie Jamala“, der bitte auch von tragischen Vorfällen singt (gemeint sind etwa die tödlichen Ausschreitungen in Odessa 2014), dann vergisst man komplett die unterschiedlichen Auswahlverfahren in Russland und der Ukraine.
Russland will vorerst „weiter mitspielen“
Jamala gewann aufgrund einer landesweiten Abstimmung, sie hatte starke Konkurrenz und setzte sich mit nur wenig Vorsprung durch: Eben weil es riskant ist, mit so einem Lied an einem Wettbewerb für Unterhaltungsmusik teilzunehmen. Doch ein Künstler kann ein solches Risiko eingehen, ein Staat nicht.
In Russland wurde der diesjährige Kandidat von einem TV-Sender ausgewählt; das wird wahrscheinlich auch nächstes Jahr so sein – und die Bürokratie trifft keine riskanten oder extravaganten Entscheidungen. Am ehesten wird es ein Kompromiss werden, eine möglichst neutrale Variante. Für das „Teilnehmen“ hat sich bisher (gleich nach dem Finale, das ist wichtig) die erste stellvertretende Vorsitzende des Kulturausschusses der Staatsduma, Jelena Drapeko, ausgesprochen. Ein gutes Zeichen: Man will also vorerst „weiter mitspielen“ und nicht die Welt ignorieren.
Die Welt ignorieren funktioniert ohnehin nicht. Unmöglich. Das ist das wichtigste Ergebnis des Eurovision Song Contest – für Russland. Natürlich nur, wenn es fähig ist, das zu verstehen.
Je länger die Schlange, desto besser – jedenfalls, wenn es um eine Kunstausstellung geht. Die Länge der Warteschlange ist ihr Erfolgsthermometer. In Moskau hat es höchste Werte gezeigt: Täglich standen dort Menschenmassen vor der Tretjakow-Galerie an; die Serow-Ausstellung, die von Anfang Oktober bis Ende Januar lief, zog fast eine halbe Million Menschen an. Das ist zwar noch kein Weltrekord (die Ausstellung des MoMA in Berlin 2004 hatte beispielsweise 1,2 Mio. Besucher), aber doch eine Landesbestleistung.
Anlässlich des 150. Geburtstags des Künstlers wurden mehr als 100 Gemälde und 150 graphische Werke gezeigt, die überwiegende Mehrheit davon aus einer einzigen Gattung: dem Porträt. Gemalte Blicke zweier Zaren, zahlloser Fürsten, Fabrikanten und Künstler kreuzten sich mit den lebendigen der Besucher, der einfachen wie auch der prominenten: Eine Woche vor der offiziellen Schließung der Ausstellung war in Begleitung des Kulturministers auch Wladimir Putin zu Gast. Kaum wurde dies publik, wuchs die Schlange noch einmal gewaltig – das Ministerium für Katastrophenschutz musste eingeschaltet werden, um sie zu bändigen, die Russische Militärhistorische Gesellschaft und der Menschenrechtsrat beim Präsidenten.
Moskau ist sonst nicht dafür bekannt, dass seine Bevölkerung in derart fanatischer Weise kunstsinnig wäre. Was trieb die Menschen auf einmal zu Serow, dem Hausporträtisten eines längst verschwundenen Adels und des ihn nachahmenden russischen Großbürgertums? Die Suche nach nationaler Identität? Sahen die Besucher in den Serow-Bildern nicht die Porträtierten, sondern das vorrevolutionäre Russland, nostalgisch verklärt? Oder lag der Grund für den Besucheransturm gar nicht in den ausgestellten Bildern, sondern in der Schlange selbst? In der Schlange sind alle Menschen gleich, sie verkörperte in der sowjetischen Welt laut dem Riten- und Alltagsforscher Konstantin Bogdanow die Idee der Gerechtigkeit. Grund genug, um stundenlang in der Kälte vor einer Porträtsammlung auszuharren?
Wie dem auch sei: Die Serow-Schlange ist ein Phänomen. Sogar in das russische Internet hat sie sich in Form populärer Internet-Meme hineingeschlängelt. Für Takie Dela hatte sich Nina Nasarowa eingereiht und nicht nur gefroren.
Ein Notarztwagen. Mehrere Rettungsfahrzeuge. Ein orangefarbenes Riesenzelt mit Heizkanonen. Vorbeieilende Leute in Uniformen des Katastrophenministeriums. Auf beiden Seiten des Platzes stehen gleich mehrere Feldküchen: An der einen gibt es starken, süßen Schwarztee aus großen Kübeln, deren Inhalt für bis zu 600 Personen reicht, an der anderen Dosenrindfleisch und Schwarzbrot. In der Mitte stehen die Leute in zwei Reihen Schlange: die lange führt zur Kasse, die zweite, halb so lange, ist für die, die ihre Eintrittskarten rechtzeitig online gekauft haben.
Seit vergangener Woche erinnern die Nachrichten aus der Zweigstelle der Tretjakow-Galerie am Krymski Wal an Meldungen aus Krisengebieten.
Besucher der Serow-Ausstellung haben die Tür des Galeriegebäudes aufgebrochen. Der Rat für Menschenrechte setzte sich für eine einmonatige Verlängerung der Ausstellung ein. Eine Verlängerung ist allerdings nicht möglich, aus Gründen, die nicht in der Macht des Museums liegen.
Auch die Pressestelle der Galerie griff auf Formulierungen zurück, die eine Katastrophensituation beschreiben. Auf Facebook wandte sie sich an Besucherinnen und Besucher mit den Worten: „Ziehen Sie sich warm an, und bewahren Sie Ruhe.“
„Ich zog in die Ausstellung wie in eine Schlacht. Schon am Vorabend habe ich mich vorbereitet und alles rausgesucht, was ich anziehen will. Darüber habe ich den Pelzmantel probiert, um zu schauen, ob ich da so noch reinpasse“, erzählt Marina Afanasjewna vergnügt. Sie arbeitet als Ingenieurin in einem Moskauer Wissenschaftszentrum. Sogar an die anderen hat sie gedacht und als Reserve ein flauschiges Wolltuch und eine Flasche Cognac mitgebracht.
Der Cognac kam gerade recht: Am Samstag, den 23. Januar hatten die Leute vor ihr schon rund zwei Stunden auf die Öffnung des Museums gewartet – die ersten hatten sich schon gegen acht Uhr morgens eingefunden.
„Serow – sehr famous. Sogar in China“
Neben Marina Afanasjewna steht Wangding Chen, ein 19-jähriger Chinese, der an der Petersburger Kunstakademie studiert und sich auf Porträts und Landschaften spezialisiert. Er ist das erste Mal in Moskau und aus mangelnder Erfahrung ist er ohne Mütze und nur mit einem leichten Mantel hergekommen. Wangding Chen friert offensichtlich furchtbar, aber der Student will nicht aufgeben. „Serow – sehr famous“, erklärt er in gebrochenem Russisch, „sogar in China.“
Die Serow-Ausstellung ist die meistbesuchte Ausstellung in der Geschichte Russlands und der UdSSR. Bereits 440.000 Menschen haben sie besucht. Die Garderobe in der Tretjakow-Galerie fasst mit 1200 Plätzen weit weniger. Außerdem muss aus Sicherheitsgründen ein Teil des Foyers unbedingt freigehalten werden, damit die Schlangen zur Kasse, Garderobe, dem Café und den Toiletten nicht durcheinander geraten, wie Lara Bobkowa erklärt, die Leiterin der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit des Museums. Wenn endlich wieder eine Gruppe von Menschen durch die metallene Absperrung hindurch darf, ertönt ab und zu ein lautes „Hurra!“ – so sieht in Filmen die Erstürmung einer Festung aus.
Es ist nicht das erste Mal, dass am Krymski Wal eine Schlange steht. Wie sich eine andere Museumsmitarbeiterin erinnert, gab es bei der Ausstellung zu Isaak Lewitan sogar eine Schlägerei.
Jeder beschuldigt vor allem sich selbst
Nicht nur die Tretjakow-Galerie rühmt sich des Phänomens der langen Schlangen – auch das Staatliche Puschkin-Museum ist dafür bekannt, Besucheranstürme schlecht in den Griff zu bekommen. Die Leute in der Schlange erinnern sich noch, wie sie für Caravaggio anstanden („vier Stunden im Regen, und dann gab es da ganze neun Bilder“), für Picasso, Dalí, Turner, einem fällt sogar wieder ein, wie 2007 Modigliani nach Moskau kam. Man hört jedoch keinerlei Beschwerden über die Museen, jeder beschuldigt vor allem zuerst sich selbst: „wir Russen sind halt schlampig“, „ … machen immer alles auf den letzten Drücker …“
Schon gegen 11 Uhr ist das orangefarbene Zelt, in dem Heizkanonen heiße Luft spenden, proppenvoll. An einer der Feldküchen ist gerade die mit Dosenrindfleisch vermischte Buchweizengrütze fertig geworden. Verteilt wird sie von Mitgliedern der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft, die sich sonst eher mit der Errichtung von Denkmälern und der Organisation von Ausstellungen, Festivals und Jugendfreizeitlagern beschäftigt. Eines ihrer letzten Projekte im Rahmen der Woche der Importsubstitution in St. Petersburg war eine Diskussion über militärpatriotischen Tourismus.
Die Feldküche wurde auf persönliche Anweisung des Vorsitzenden der Gesellschaft, Kulturminister Wladimir Medinski, aufgestellt. Als Dank hat man den Freiwilligen an der Essensausgabe versprochen, sie abends nach Schließung des Museums in die Ausstellung zu lassen. Die Gesellschaft ist auch mit historischen Rekonstruktionen beschäftigt. Wahrscheinlich ist deshalb für die Buchweizengrütze mit Dosenfleisch ein Mann verantwortlich, der eine NKWD-Uniform aus dem Jahr 1941 trägt. Die Initiative hat ausschließlich einen wohltätigen Zweck, erklärt er gelassen: „Die Leute bekommen alles kostenlos. Wir haben das alles mit unseren Ressourcen organisiert. Die Ausgaben sind nicht hoch, nicht der Rede wert.“
Bald merkt die Schlange, dass es keine Toiletten gibt
Die Grütze erfreut sich großer Beliebtheit. „Wenn ich nach Hause komme, mach ich mir das auch. Ich kaufe Dosenfleisch. Da könnten noch gebratene Zwiebeln dazu“, sagt Marina Afanasjewna.
Innerhalb einer halben Stunde werden vor dem Museum 300 Kilogramm verdrückt. Wer zu spät kommt, kann sich noch mit Tee aufwärmen, der großzügig ausgeteilt wird, und bald merkt die Schlange, dass es keine Toilettenhäuschen gibt.
Die Mitarbeiter des Katastrophenministeriums zucken mit den Schultern und raten dazu, den Wachmann am Mitarbeitereingang um Einlass zu bitten. In der Schlange wird geflüstert, dass man alternativ auch kurz ins Café Cervetti gehen kann.
Wangding Chen lehnt die Buchweizengrütze mit Dosenfleisch rundweg ab und klagt, er sei ja selbst schuld: Er hat seinen Studentenausweis zu Hause vergessen, mit dem man ihn als Kunststudenten kostenlos und ohne Anstehen in der Schlange reingelassen hätte. Seine sechs gewissenhafteren chinesischen Studienkollegen schauen sich nun gerade die Ausstellung an.
„Wir sehen, dass er schon ganz blau wird“
„Wir haben ihm ja gleich gesagt: Pack dich warm ein, sonst erfrierst du“, erzählt Marina Afanasjewna besorgt. „Nein, sagt er, nur mein Handy kann erfrieren. Er steht und steht und wir sehen, dass er schon ganz blau wird. Ich habe ihm meine Wollhandschuhe gegeben und dann haben wir ihn dazu gebracht, sich wenigstens einen Schal um den Kopf zu binden. So haben wir ihn gerettet!“ Wangding Chen lächelt erschöpft: „Ich bin den Leuten in dieser Schlange sehr dankbar, dass ich erfahren durfte, wie freundlich die russischen Menschen sind.“
Für den Rummel um die Serow-Ausstellung gibt es inzwischen viele Erklärungen: das durchdachte kuratorische Konzept, das dem Mythos vom goldenen Zeitalter der russischen Geschichte zuarbeitet, die professionelle PR-Kampagne des Museums, Putins Ausstellungsbesuch und letztlich auch die Möglichkeit, seltene Werke sehen zu können.
„Serow liebe ich, aber Menschen nicht so“
Michail Lwowitsch, ein pensionierter Ingenieur, ist mit seinem Sohn aus Tula angereist. Um Serow sehen zu können, ist er um 7.20 Uhr in die Elektritschka nach Moskau gestiegen.
„Als wir wegen Korowin hergefahren sind, waren nur wenig Leute da“, spinnt er gelassen die Plauderei mit einer älteren Dame neben ihm fort. „Ich habe leider kein Maschinengewehr, hätte ich eins, wären hier auch nur wenig Leute. Serow liebe ich, aber Menschen nicht so.“ „Da gebe ich ihnen recht“, lacht die gebildete, ältere Dame laut auf.
Bitte anstellen! Besucher vor der Tretjakow-Galerie
Die Mehrheit der Leute in der Schlange erinnert sich nicht mehr an die seltenen Arbeiten Serows, sondern weiß einfach: „Ein Volkskünstler, den kannte ich schon als Kind.“
Ein „Volkskünstler“ ist er auch in einem anderen Sinn, der in der Schlange mehrmals genannt wird. Auf die Frage: „Was hat Sie dazu gebracht, bei solchen Temperaturen die Ausstellung zu besuchen?“ antwortet eine junge Frau kurz: „Ich liebe die Impressionisten.“
Der Minister verspricht seine Hilfe
In der Wahrnehmung der breiten Masse gilt Serow als Repräsentant des russischen Impressionismus, deren Vertreter inzwischen schon lange zu den wohl wichtigsten Volkskünstlern geworden sind.
Eine andere junge Frau, die endlich an der ersehnten Tür angelangt ist, sagt frohlockend zu ihrem Freund: „Das nächste Mal würde ich nur noch für Monet so lange in der Kälte warten!“
Um 16 Uhr gibt der Museumsdirektor eine Sondererklärung ab: „Nach kurzfristig einberufenen Versammlungen unseres Museums haben wir nun beschlossen, die Ausstellung zu verlängern.“
Sechs Bilder aus ausländischen Sammlungen müssten zurückgegeben werden, die anderen dürften noch eine Woche länger am Krymski Wal hängen. Diesen Kompromiss habe man gemeinsam mit dem Kulturministerium gefunden und der Minister persönlich habe Hilfe versprochen.
Die Schlange als Traum von der Zivilgesellschaft
Die Schlange zu Serow verkörpert plötzlich den Traum von der Zivilgesellschaft, ein Simulacrum für Reformen: Angefangen vom Volksaufruhr und der aufgebrochenen Tür, über die angespannte Suche nach einer Lösung, bis hin zur Einbeziehung staatlicher Organe – all das diente dazu, etwas zu verändern, was bis dahin scheinbar nicht zu ändern war.
Das Katastrophenministerium, das den Frierenden tapfer seine volle Unterstützung gewährte (im Zentrum von Moskau), das Kulturministerium, die gemeinnützigen Vereine, die zu Hilfe eilten, sogar die Presseabteilung des Museums, die sich als ein Vorbild an Flexibilität und Geduld erwies – sie alle arbeiteten so vorbildlich, dass man über der ganzen Hektik schnell vergessen kann: Eigentlich hat es gar keine echte Krisensituation gegeben.
Das Quentchen Freiraum am Krymski Wal wurde zum Eingang in den Kaninchenbau, durch den die ganze Schlange zu Serow verschwand. Sie kam am anderen Ende wieder raus und fand sich in einem anderen Land wieder.
„Er hat umsonst angestanden, schade“
„Er hat es nicht mehr ausgehalten und ist gegangen“, seufzt Marina Afanasjewna über Wangding Chen. „Nein, ich kann nicht mehr, hat er gesagt, kann mich nicht mehr auf den Beinen halten vor lauter Kälte. Dabei hatte er es fast geschafft.“
„Er hat umsonst angestanden, schade“, ruft jemand aus der Schlange.
„Na, zumindest hat er was, woran er sich erinnern wird.“
Dann schweigen alle einen Moment und schauen gespannt und erwartungsvoll durch die Glasscheiben in das geräumige Foyer der Galerie. In dem sieht es wie zum Spott gerade völlig leer aus. „Ach, der Serow“, sagt Michail Lwowitsch, „Hauptsache, da drinnen ist es warm.“
Zum Jahresende ein nachdenklicher Longread. Was haben Deutschland und Russland aus dem 20. Jahrhundert mitgenommen, mit all den Gräueln, die es beiden Ländern bereitet hat und die von ihnen ausgingen? Und wie prägt der Umgang mit diesem Erbe die russische Gegenwart und die Verhältnisse in Europa? Der Kulturhistoriker und Philologe Gasan Gusejnov, einer der originellsten Intellektuellen des heutigen Russland, betrachtet diese Fragen in ihrem sprachlichen Spiegel. In dem zieht wieder und wieder der Schriftzug von der „größten geopolitischen Katastrophe“ vorüber … Ein grundlegender Text, der den Geist einer Epoche einfängt und eine Fülle jener Themen berührt, die dekoder 2015 an den Start gehen ließen.
Wir veröffentlichen Gusejnovs Aufsatz in einer Version des Literaturjournals NLO, die in Abstimmung mit dem Autor neu überarbeitet wurde.
1.
Nicht umsonst hat Platon zum Nachdenken über Sokrates’ Ausspruch aufgefordert, die erste und wichtigste Eigenschaft des Philosophen sei die Furchtlosigkeit. Wenn du nicht in Kauf nimmst, dass das Ergebnis deines Denkens dir ein Trauma zufügt (sei es ein seelisches oder ein äußerlich sichtbares), dann lohnt es sich gar nicht erst, damit zu beginnen. Doch auch die Umkehrung gilt: Jahrzehntelang totgeschwiegene Traumata und der einer Gesellschaft dadurch zugefügte psychische Schaden lassen die Menschen panisch werden, und in der Panik ballen sie sich zu Horden zusammen und kehren sich selbst von dem Wissen ab, das noch gestern, ungeachtet von Leid und Kränkung, mehr oder weniger von allen geteilt wurde.
Wollte man lediglich die Kriegstraumata auflisten, die die seit Mitte des 20. Jahrhunderts geborenen oder aufgewachsenen postsowjetischen Generationen sich selbst zugefügt haben, so würde diese Liste in erster Linie die Langzeiterfahrung des Totschweigens und der Verdrängung erlebter nationaler Katastrophen verzeichnen.
Das erste Totschweigen betrifft die Ausmaße der Verluste im Zweiten Weltkrieg. Für jeden Krieg bezeichnende und unvermeidliche Phänomene wie Gefangenschaft und Plünderei, Korruption und sexuelle Gewalt, Verrat und Betrug wurden unter ideologischen und künstlerischen Mythen begraben. Die äußerst seltenen erfolgreichen Versuche, unter dem Joch der Zensur hervorzukriechen, wurden durch Repression und psychische Traumata zweiter Ordnung unterbunden.
Die durch die ebenso unangebrachte wie unqualifizierte Lenkung des Massenbewusstseins beim sowjetischen Menschen verursachten psychischen Traumata haben die Menschen so weit gebracht, dass sie aufgehört haben, das im Zuge der sogenannten Nachkriegskonflikte Erlebte als stark traumatische Erfahrung wahrzunehmen – das betrifft sowohl Konflikte außerhalb der Grenzen der UdSSR (der Krieg in Afrika und im Fernen Osten, die militärische Intervention in der DDR 1953, in Ungarn 1956, in der Tschechoslowakei 1968 und schließlich in Afghanistan 1979) als auch die im postsowjetischen Raum (der von 1991 bis 2009 andauernde Krieg im Kaukasus, die Kriege in Zentralasien, in Moldau und Transnistrien und seit 2014 in der Ukraine).
Das traditionelle russische Verständnis von Geschichte als etwas, das mit der Vergangenheit und mit Volksmassen zu tun hat, und nicht als etwas, das in der Gegenwart von einzelnen Individuen erlebt wird, hat zu einer traumatischen Spaltung im Bewusstsein des sowjetischen Menschen geführt – einer Spaltung zwischen dem unmittelbar alltäglichen Selbstverständnis des Menschen und einem mit diesem Selbstverständnis nicht in Zusammenhang gebrachten Gesamtweltbild.
Auf der persönlichen Ebene kann so jemand seinen Status, seine Ressourcen und Perspektiven zutreffend oder zumindest plausibel einschätzen und dabei selbst im Fall eines extrem geringen Selbstwertgefühls eine erstaunliche Gelassenheit bewahren. Geht es aber um den Platz seines Landes in der Welt, darum, wie die Führung des eigenen Staates beurteilt wird, geht es um die symbolische Bewertung seines Landes, dann kommt diesem Menschen das Maß abhanden, er wird zum Träger eines schimärischen geopolitischen Bewusstseins, dazu bereit, sich an die phantastischsten Verschwörungstheorien zu klammern.
Die kulturelle Dimension dieser Spaltung oder, genauer gesagt, dieses sich vielfach wiederholenden Traumas, lässt sich auf eine äußerst einfache Formel bringen: Die Menschen haben ihre Toten nicht beweinen dürfen, und letzten Endes, in unserem konkreten Fall mit dem beginnenden Zerfall des sowjetisch-russischen Imperiums, kam ihnen die für ein erträgliches Zusammenleben unabdingbare Empathie abhanden, also die Fähigkeit, mit anderen Menschen mitzufühlen.
Ein Beleg für diese Behauptung ist die hohe Wirksamkeit plumper Propaganda, der selbst die vergleichsweise gebildeten Schichten der Bevölkerung nicht imstande sind, zu widerstehen. Als wären es die eingefrorenen und wieder aufgetauten Melodien aus einem Rabelais-Roman oder die Geschichten von Baron Münchhausen, brechen auf den heutigen Russen ideologische Klischees von anderthalb Jahrhunderten herein, die man schon seinen Vorfahren aufgetischt hat, angefangen vom Krimkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts bis hin zu Stalins zehn Schlägen gegen das verendende Dritte Reich.
Dieses ganze kakophone Getöse vermag allerdings nicht die zentrale, aufgestaute Kränkung zu dämpfen, die aus dem Begreifen der Tatsache resultiert, dass die Mehrheit der Nachbarn im Großen Europa sowie in einem beträchtlichen Teil Eurasiens die Ereignissen in der heutigen Russischen Föderation als den fortgesetzten Zerfall des Imperiums sieht und ganz und gar nicht als das Werden eines neuen freien und starken Staates.
Man kann noch beliebig oft und beliebig laut erklären, das ist uns alles total egal. In Wirklichkeit liegt genau darin der Kern des Traumas – und es ist ganz und gar nichts total egal. Der Groll auf die anderen, seien sie real oder eingebildet, ist nichts weiter als eine Emotion, die das eigentliche psychische Geschwür verdeckt: die nicht vollzogene Beweinung der Toten.
Es gab eine Zeit, in der man das noch hätte tun können. Doch der Reueton der Perestroika wurde als Schwächlichkeit verworfen. Viele waren der Ansicht, der wirtschaftliche Aufschwung würde sie ganz von allein der Notwendigkeit entledigen, sich mit den Traumata der Vergangenheit auseinanderzusetzen, die den Menschen von ihren eigenen Leuten zugefügt worden waren.
Doch diese Annahme erwies sich als Illusion, denn traumatische Erfahrung lagert sich in der Sprache ab. Werden die Schlüsselwörter nicht reflektierter Epochen in das Spiel einer neuen Zeit eingeworfen, befördern sie darum unvermeidlich, wie ein unglücklich geworfener Angelhaken einen alten Schuh, das ganze für immer auf dem Grund der Geschichte begraben geglaubte Material wieder an die Oberfläche.
Wer von den Bandera-Faschisten der 1940er und der Kiewer Junta der 2010er Jahre anfängt, der muss damit rechnen, dass man ihn an den Holodomor der 1930er und den Emser Erlass der 1870er Jahre erinnert.
Die Aktualisierung früherer Kränkungen verstärkt den Schmerz und verlagert das Trauma auf eine neue Ebene, nämlich in die Zukunft, denn der nächste Schritt besteht in der Rache an all denen, die vermeintlich verantwortlich sind für deine Kränkung. Und weil du das selbst ja nicht sein kannst, sind alle anderen schuld. Die Besonderheit der gegenwärtigen Rachepraxis liegt darin, dass ephemere Verwünschungen und Beleidigungen besonders lange haltbar sind.
2.
1967 erschien in Deutschland Die Unfähigkeit zu trauern von Alexander und Margarete Mitscherlich1, eines der wichtigsten Bücher zum kollektiven Trauma der Deutschen und dessen Heilung, das die westdeutsche Gesellschaft vermutlich nicht weniger beeinflusst hat, als die Studentenrevolution von 1968. Dieses und weitere von den Eheleuten Mitscherlich sowie von Alexander Mitscherlich allein verfasste Bücher besaßen die erforderliche Sprengkraft, um die Mauer des Schweigens einzureißen, die die kaum erst ins aktive Leben eingetretene erste Nachkriegsgeneration und ihre stumm gewordenen Eltern trennte. Paradoxerweise wurde die Verständigung der Generationen um den Preis eines lautstarken und für viele endgültigen Bruchs mit der Vergangenheit erreicht. Dieser Bruch verhalf den Deutschen zu einer gemeinsamen politischen Sprache, und diese Sprache wurde zur Sprache der westdeutschen Zivilgesellschaft, in der der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede 1985 den 8. Mai 1945 zum ersten Mal als Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bezeichnete und damit die Bedeutung dieses Tages für sein Land definierte. Bis zu dieser heute allgemein gültigen deutschen Formel mussten 40 Jahre vergehen.
Die „Befreiung“, von der Weizsäcker sprach, und die „Trauer“, von deren Notwendigkeit die Mitscherlichs gesprochen hatten, wurden zu Schlüsselbegriffen eines langen historischen Weges. Man kann die Befreiung nicht verstehen, solange nicht die ganze Trauer ausgedrückt ist. Aber trauern muss man lernen.
Die erste Aufbauphase des bundesrepublikanischen Staates (1945–1955) wurde mit dem Schlüsselwort Wunder belegt. Nach der totalen Zerschlagung Deutschlands waren nach Ansicht der Menschen zwei Wunder geschehen. Das erste war natürlich das unter der Führung des von 1949 bis 1963 amtierenden Bundeswirtschaftsministers Ludwig Erhard erreichte Wirtschaftswunder. Das zweite ist in die deutschen Geschichtsbücher und Lexika eingegangen als das Wunder von Bern: Gemeint ist der Sieg der [bundes]deutschen Nationalmannschaft über Ungarn bei der Fußballweltmeisterschaft am 4. Juli 1954; die bundesweite Begeisterung über diesen Sieg war die erste Äußerung von Enthusiasmus der Westdeutschen nach der jahrelangen Nachkriegsdepression.
Warum hat die Gesellschaft, nachdem sie vom emotionalen und materiellen Aufschwung gekostet hat, dann doch vom Wunder als politischem Ideologem Abstand genommen? Weil hinter dem Rücken dieses Wunders weiterhin die auch durch dieses Wunder keineswegs zu erklärende Wirklichkeit der nicht weit zurückliegenden Vergangenheit stand – nicht einfach die Besonderheit im Verhältnis der europäischen Nachbarn zu Deutschland, sondern die Realität dessen, was tatsächlich geschehen war. Denn genau das war es, was die Menschen mit der Zeit immer mehr beschäftigte.
Das Ideologem des Wunders erwies sich als psychologische Falle, geistreich verspottet in der bekannten Filmkomödie Das Spukschloss im Spessart. Die Sowjetunion befand sich zu dieser Zeit auf dem Höhepunkt der Entstalinisierung, die Entfernung von Stalins Mumie aus dem Mausoleum stand bevor, und der Film über die im Wirtschaftswunder-Deutschland ausgegrabenen Skelette trug, wie es schöner nicht hätte sein können, zu einer Art westlicher Ausleuchtung dieses (nach 1953 und 1956) dritten Versuchs bei, sich von Stalin und dem Stalinismus zu verabschieden. Offiziell galt das „Spukschloss“ in der UdSSR als gegen den „Revanchismus in der BRD“ gerichtete Komödie, doch den Silberpreis des Moskauer Filmfestivals von 1961 bekam der Film nicht allein hierfür.
Unterdessen setzte die sowjetische Propaganda alles daran, das westdeutsche Entnazifizierungsprogramm vor der Gesellschaft zu verheimlichen. Aus der Vielzahl der politischen Debatten in Deutschland wählte man lediglich das aus, was für die sowjetische Propaganda relevante Gegenstände betraf (unter anderem den Revanchismus). Keine Beachtung fand in der sowjetischen Zeit auch das Schlüsselthema der Mitscherlichs – das Trauma, das sich der Täter selbst zufügt, aber auch die Mitglieder von verbrecherischen Organisationen, und nicht nur die allein. Die meisten Deutschen hätten sich nämlich, so Mitscherlich, so weitgehend mit dem Regime abgefunden, dass sie auch nach dem Krieg, in der Adenauer-Ära, „politisch erstarrt“ gewesen seien. Die Generation, die sich mit Hitler und den Nazis, also den Kriegsverlierern, identifiziert hatte, versperrte sich instinktiv dem Konzept der Befreiung, das erst dann annehmbar wurde, als die westdeutsche Gesellschaft sich grundlegende demokratische Werte zu eigen gemacht und entsprechende Normen etabliert hatte.
An dieser Stelle wird nun die Rolle der Schlüsselbegriffe, anhand derer nicht nur der politische Diskurs rekonstruiert, sondern auch die Überwindung des Traumas durch Narration beschrieben wird, besonders wichtig. Zwischen den kritischen Debatten der Intellektuellen und einer breiten Einbeziehung der „erstarrten“ Bevölkerungsmehrheit in das politische Leben über die Artikulation eines unmittelbaren Zusammenhangs, etwa zwischen dem Wirtschaftswunder und der politischen Freiheit vom Nationalsozialismus, vergeht einige Zeit.
3.
Betrachtet man die historische Bahn, auf die die Russische Föderation derzeit geraten ist, wird jedoch klar, dass kein Vergleich die Situation in unserem Land auch nur annähernd vollständig beschreiben kann. Einige generelle Fixpunkte lassen sich dennoch herausstellen. Es geht ja um die Reaktion der Träger einer Sprache auf die gesellschaftlichen Traumata, die manchem vielleicht doch vergleichbar erscheinen mit denen, die die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Den gewohnten Disziplinkategorien folgend, sollen im Folgenden kurz und knapp einige Realien der russischen Politiksprache beschrieben werden, die jemand einmal treffend als „Schlüsselwörter des historischen Augenblicks“2 bezeichnet hat. Die im Grenzgebiet zwischen Literatur, Sozialpsychologie und Politik verhandelten Schlüsselbegriffe entfalten sich zu Phrasen der besonderen Art. Daran, wie das gesellschaftliche Umfeld sie entfaltet, lässt sich erkennen, wie sich das Verhältnis der Sprachträger zu ihrem kollektiven historischen Trauma entwickelt.
Dabei klingt nur ein einziges Trauma, gewissermaßen die Spitze des Eisbergs, deutlich hervor, eben jenes, das aus der Statusveränderung des Landes und somit der Veränderung der Situation jedes einzelnen Bewohners resultiert. Auf der Ebene der politischen Rhetorik ist dieses Trauma durch drei selten öffentlich angefochtene Phrasen markiert, nämlich: den Zerfall der UdSSR als die „größte geopolitische Katastrophe“, das „Chaos der 1990er“ oder die „wilden Neunziger“ (die Jelzin-Zeit) und die „Erhebung von den Knien“ (die gegenwärtige Phase). Die allgemein angenommene Übersetzung dieser emotional gefärbten Ideologeme besagt in etwa Folgendes: Das goldene Zeitalter, das sich zusammensetzt aus einem Mosaik von Ereignissen der russischen Geschichte seit 1612 (oder bei Bedarf auch seit den Zeiten Alexander Newskis) bis zum Ende der 1980er Jahre, wurde quasi hinweggefegt durch die „geopolitische Katastrophe“ der Perestroika und die Auflösung (sprich: den Zerfall) der UdSSR, wonach eine Zeit der Wirren anbrach. Wenn, so will man uns glauben machen, diesen Wirren nicht just an der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert durch das neue Regime Einhalt geboten worden wäre, hätten jene Kräfte, die es angeblich geschafft haben, die Sowjetunion zu zerstören, längst auch die Russische Föderation zerstört – das letzte Bollwerk des zerfallenen sowjetisch-russischen Imperiums.
Offenbar ist das der grundlegende Legitimierungsmythos des Regimes, der mit den Mitteln der Propaganda verbreitet wurde und für einen großen Teil der aktiven Bevölkerung der Russischen Föderation allgemeine Gültigkeit erlangt hat. Wenn man die Mitscherlich-Konzeption anwendet, fällt einem das zentrale Drama des Augenblicks auf: Die Kette aus Russland-Mythen verfälscht den Inhalt des Traumas, das die ehemaligen Bürger der UdSSR erlitten haben. Das tatsächliche Trauma (Jahrzehnte der Unfreiheit, die physische Vernichtung ganzer Bevölkerungsschichten, die komplette Deportation ganzer Völker, ohne Gerichtsverfahren verhängte, gesetzeswidrige Repressalien gegen die Menschen unter beliebigem Vorwand) wurde ersetzt durch das frische emotionale Trauma des Zerfalls einer Staatsmaschine. Man muss bloß hinzufügen: eben jener Staatsmaschine, die für das ursprüngliche Trauma verantwortlich ist.
Das echte Trauma, das der Mehrheit in der UdSSR und im Russischen Reich über das 20. Jahrhundert zugefügt worden ist, wurde einfach so durch die Schlüsselphrase der „größten geopolitischen Katastrophe“ ausgetauscht. Der Beginn einer schmerzhaften Diskussion über das Trauma, eines öffentlichen Diskurses über die den Systemzusammenbruch begründenden Mechanismen, die das Trauma ausgelöst hatten – all das wurde erfolgreich gestoppt, vor allem mit ziemlich primitiven Propagandatricks, die an die Gefühle der Bürger appellierten.
Durch die Mitscherlich-Brille betrachtet wird deutlich, wie Russlands heutige politische Elite – jene soziale Schicht, die bei der Überwindung ihres Narzissmus und beim Erlernen der Fähigkeit zu trauern am meisten Hilfe benötigt hätte – sich die Ratlosigkeit der gerade erst zum politischen Leben erwachten Bevölkerung zunutze machte und die Rolle des gesellschaftlichen Psychotherapeuten an sich riss. Die Mitscherlichs wussten nichts von Öl- und Gaspreisen im beginnenden 21. Jahrhundert, aber sie beschrieben die Steigerung des ökonomischen Wohlstands als den wichtigsten „Verdränger“ von Reflexion. Ihrer Meinung nach war es gerade das Wirtschaftswunder, das die unausweichliche Abrechnung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit um zehn Jahre verzögerte.
Die Jahre der Entstehung eines Trauma-Narrativs und der sie begleitenden Diskussionen zu dem Thema fielen mit dem wirtschaftlichen Durcheinander und den schwierigen administrativ-territorialen, teilweise zu lokalen Kriegen führenden Konflikten der ausklingenden 1980er und 1990er Jahre zusammen. Dieser Umstand ermöglichte es Ende der 1990er Jahre dem aktiven Teil der postsowjetischen Gesellschaft, die Initiative zu ergreifen – den zahlreichen Mitarbeitern der früheren Straf- und Ideologie-Organe, die selbst zutiefst traumatisiert waren von der Unfähigkeit, die eigenen Opfer zu betrauern.
Dieser Kreis hatte sich für eine gewisse Zeit sogar die Kontrolle über wichtige Machtzentren zurückgeholt, angefangen von den hauptsächlichen Rohstoffquellen bis hin zu den wichtigsten Medien. Doch die einzige Ideologie, zu der die neue Generation der Kreml-Chefs sich als fähig erwies, erschöpfte sich in der Konservierung des Traumas.
Kontrolliert durch fremde Armeen, hatten die Deutschen es leichter, sich auf ihr Trauma zu konzentrieren, sich darüber auszutauschen und allmählich aus der Sackgasse herauszufinden, in die sie sich unter der Führung der Nationalsozialisten verirrt hatten. Die Notwendigkeit, den Staat von Grund auf neu zu errichten, war den Menschen sowohl im Westen wie im Osten Deutschlands bewusst. Dass die eigenen Tschekisten Kontrolle bekamen über die Situation, in die sie selbst und ihre ehemaligen Chefs Russland geführt hatten, konnte nur mithilfe der entsprechenden ideologischen Klischees aufrechterhalten werden. Die aus diesen Klischees erwachsende geopolitische Schimäre zieht diejenigen in ihren Bann, die in der Sprache leben.
Am Tag der Einheit des Volkes, am 4. November 2008, hörte ich gemeinsam mit Millionen Passagieren in der Moskauer Metro die schmissigen Reden über die Befreiung der Hauptstadt von den „polnischen Besatzern“ im Jahre 1612, las an den Wänden und Türen der Waggons den höhnischen Spruch: „Die Behutsamen behütet die Bank“, wurde eingeladen, den neuen Agitationsstreifen Der Admiral im Kino zu bewundern (während man am Abend desselben Tages im TV dazu eingeladen wurde, sich zum wiederholten Male den Film 1612 anzuschauen) und verstand, dass man den Passagieren auf diese Weise nahelegte, sich so weit wie möglich weg von der politischen Moderne und dem sowjetischen 20. Jahrhundert in eine galvanisierte Vergangenheit der einen oder anderen Zeit der Wirren zu versetzen. Gleichzeitig geschieht eine bewusst-unbewusste Außerbetriebsetzung des einzigen Erkenntnisinstruments, über das die Menschen verfügen – ihrer Sprache. Doch auch wenn die Frage, wie bewusst oder unbewusst die Operationen an der Sprache in den letzten zehn Jahren durchgeführt wurden, eine interessante und wichtige ist, ist das ein eigenes Thema.
Das Hauptproblem bleibt die Verstärkung des sozio-historischen Traumas bei den Patienten infolge der massenhaften Verbreitung von falschen Informationen bezüglich ihrer Leiden. Warum wurde die offizielle Rhetorik der ersten postsowjetischen Jahre zur doppelten Befreiung Russlands von der Ideologie des Kommunismus und von der Praxis des Kolonialimperialismus an der Jahrtausendwende so entschieden eingestampft?
Wie die genannten deutschen Wissenschaftler in ihren sozialpsychologischen Arbeiten zeigen konnten, ist das Prozedere der kollektiven Traumatherapie vernunftbasiert. Der emotionale Faktor wird selbstverständlich berücksichtigt, ist aber nicht der wichtigste. Es geht um die Suche nach einem allgemeingültigen Ausweg aus einer unerfreulichen Situation. Die Rationalisierung der Gefühle muss gekoppelt sein an Beherrschtheit innerhalb des politischen Diskurses. Dort, wo die Zensur auf der inhaltlichen Ebene aufgehoben ist, ist sie auf der Ebene ihrer stilistischen Gestaltung unabdingbar. Der Stil ist in der Lage, jede Kommunikation, nicht einmal nur in traumatherapeutischen Kontexten, zu blockieren und außer Kraft zu setzen.
Damit der Akt der politischen Kommunikation selbst nicht zu einer Quelle neuer kollektiver Traumata wird, befindet sich eine freie Gesellschaft in einem ständigen Diskurs über politische Korrektheit. Durch allgemeingültige und akzeptable, maximal leidenschaftslose Schlüsselbegriffe wird der Prozess der Konsenssuche rationalisiert und entemotionalisiert. Im Gegensatz dazu wird hier bei uns, alten sowjetisch-russischen Klischees folgend, einer politkorrekten Heuchelei die Wahrheit des freimütigen Sprechakts entgegengestellt. Sei es die apolitische Zügellosigkeit eines Wladimir Shirinowski oder die öffentlichen Entgleisungen populärer TV-Moderatoren. Das Fernsehen präsentiert Alexander Gordon, Wladimir Solowjow, Lolita und ihresgleichen als Meister der maximal freimütigen Verkündung von Binsenweisheiten.
In den Sprechakten dieser öffentlichen Autoritäten mit ihrer äußersten rhetorischen Schärfe (sprich: Unbändigkeit) wird ein Bouquet abstrakter Drohgebärden bei gleichzeitigem Verschweigen eines konkreten Sinngehalts versprüht. Die inakzeptable Grobheit der Äußerung substituiert nämlich ihren Sinngehalt, mit anderen Worten: Sie ist bereits der ganze Sinngehalt der Äußerung, und nicht zufällig wurde die diffuse Drohung, jemanden „im Klo abzumurksen“ zur faktischen Devise der ersten Amtszeit von Wladimir Putin.3 Diese Drohung war an mutmaßliche Terroristen gerichtet, aber in den aktuellen Sprachgebrauch fand sie in einer erweiterten Bedeutung Eingang – als Universalformel für den Umgang mit Widersachern.
Der Zuschauer oder Zuhörer, der die Drohreden von Politikern oder Medienleuten geduldig ertragen muss, überlässt ihnen Stück für Stück sein ganzes politisches Subjekt-Sein. Die minimale passive Reaktion auf solche TV-Sendungen könnte in einer gebildeten Gesellschaft ein Zuschauer-Boykott sein. Der minimale Ausdruck einer auf Vernunft gründenden Aktivität in einem Rechtsstaat wäre die Diskussion über die Verantwortung von Moderatoren und Redakteuren des TV-Senders für das emotionale Stimulieren von sozialem Zwist. Dort aber, wo weder das eine noch das andere geschieht, kommt es zum „politischen Stillstand“, wie er in anderer Spielart von den Mitscherlichs für die deutsche Gesellschaft zu Adenauers Zeiten diagnostiziert wurde. Um seine Mitbürger dazu zu bewegen, sich als selbständig politisch Handelnde zu begreifen, wird Kanzler Konrad Adenauer 1966 vor der Klagemauer in Jerusalem auf die Knie gehen, genau wie Kanzler Willy Brandt 1970 und Boris Jelzin 1993 in Warschau vor dem Denkmal-Kreuz für die Erschossenen von Katyn.
4.
Im Unterschied zu den Deutschen nach der unmissverständlichen Zerschlagung des Nationalsozialismus, ging die Bevölkerung der Russischen Föderation während der Auflösung der UdSSR über den Zerfall des Russischen Reichs und der dahinter stehenden politischen Strategie einfach hinweg. Die spontane, heilsame und vernunftbasierte Rhetorik vom Ende der UdSSR als Befreiung vom Totalitarismus empfanden nur diejenigen als Kapitulation im globalen Kalten Krieg, die diesen Krieg tatsächlich verloren hatten – Geheimdienstleute sowie Partei- und Staatsapparat. Für die allgemeine Bevölkerung aber war es ein Signal für den Zerfall des Russischen Reiches, der zu Beginn der 1920er Jahre in die Gründung der Sowjetunion umgelenkt worden war. Doch dann traf es sich so, dass sich die Bürger der Russischen Föderation durch die Verwendung der Bezeichnung Russland dem Verständnis verschlossen, ja, sich sogar selbst das Nachdenken über eine offensichtliche Tatsache verboten: dass einige andere ehemalige Republiken der UdSSR ebenfalls ein „anderes Russland“4 sind. Eben deswegen ist auch die formal korrekte Eigenbezeichnung der heutigen Russischen Föderation in gewisser Hinsicht ein Substitut für den geschichtlichen und politischen Sinn hinter dem Begriff, ein Substitut, das einer kollektiven Reflexion bedarf. Durch die historische Verbindung des Russischen Reichs beispielsweise zur heutigen Ukraine mit ihrer sich von Russland unterscheidenden, selbst gewählten Ausrichtung des gesellschaftlich-historischen Weges, wird das zweisprachige Land zu einer maximalen Quelle des Ärgers für alle Politiker, die nostalgische Gefühle für die UdSSR hegen. Die bloße Tatsache der Existenz eines anderen Russland, eines Kiewer Russland, in dem weder das Merkmal Sprache noch das Merkmal Kultur eine eindeutige Unterscheidung in sogenannte ethnische Russen und ethnische Ukrainer zulässt, ruft in der unmittelbaren Nähe zum Russland Moskaus bei der gesamten Führungsschicht der Russischen Föderation einen ausgeprägten politischen Minderwertigkeitskomplex hervor.
Auf sprachlicher Ebene äußert sich dieser Komplex, der genereller Natur und nicht auf die unmittelbar mit der Ukraine zusammenhängende Situation beschränkt ist, schon in den Namen der Organisationen, die für sich die volle Macht in der Russischen Föderation beanspruchen: Einiges Russland, Gerechtes Russland – all diese Bezeichnungen sind ja nichts als unfreiwillige Enthüllungen, die den Mangel an globaler politischer Legitimität zeigen. „Russland“ und „russisch“ ersetzen oder bedeuten hier „UdSSR“ und „sowjetisch“. Und genau deshalb erscheint alles, was früher sowjetisch war, heute jedoch juristisch gesehen nicht russisch ist, in der Phantasie der Elite des Moskauer Russland als Irrtum oder heimtückische Bedrohung, als Objekt rechtmäßigen Misstrauens oder offener Feindschaft.
Einmal freiwillig in die Rolle der retrospektiven Beschützerin der UdSSR geschlüpft, verbreitet die politische und Medienelite der heutigen Russischen Föderation ihre Sprache des Hasses sowohl auf ehemalige Teile des Imperiums („das georgische Regime“, wie der russische Außenminister despektierlich zu sagen pflegte) als auch auf den großen Widersacher: den Sieger des Kalten Krieges. Die Vertreter der Straforgane, die bis heute nicht, nicht einmal nach ihren eigenen Gesetzen, für die Niederlage der UdSSR in jenem Krieg zur Verantwortung gezogen wurden, konservieren die Gesellschaft im Zustand des Traumas – als wollten sie sich nachträglich dafür rächen, dass der wiederholte Zerfall des Russischen Reiches 1991 vergleichsweise friedlich ausfiel.
Wenn die Position der Russischen Föderation gegenüber den USA formuliert wird, beruft sich die herrschende Klasse der heutigen Russischen Föderation ständig in der Art auf die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen, als wäre sie der Rechtsnachfolger der UdSSR, der dazu verdammt ist, die historische Mission der Verliererseite weiterzuführen. Betrachtet man einmal die USA und die UdSSR provisorisch als zwei Dritte Roms, ein republikanisches und ein imperiales, so zeigt sich, dass der Niedergang unseres, des imperialen, Teils die Bevölkerung des größten Fragments der ehemaligen UdSSR, also die Menschen der Russischen Föderation, an eine Weggabelung gebracht hat. Auf der einen Seite Freiheit und Bündnissuche mit den USA, auf der anderen Revanche-Versuche eines autoritären Zentralstaates.
Diejenigen, die der Bevölkerung der Russischen Föderation Revanche, antiamerikanische und NATO-feindliche Rhetorik nahegelegt haben, handeln offenbar instinktiv. Die Ironie der politischen Geschichte Russlands offenbarte sich in einem zentralen Schimpfwort für die Amerikaner und Amerika: Pindossy und Pindossija. In vorrevolutionären Zeiten waren Pindossy eine abfällige Bezeichnung für die Griechen (angeblich nach dem Namen des Berges Pind), wobei die Etymologie dieses ethnischen Schmähausdrucks nicht ganz klar ist. Womöglich haben sich die Amerikaner diesen Spitznamen nach dem Krieg um die jugoslawische Erbfolge im Zuge der Überschneidungen der Friedenseinsätze der Russischen Föderation und der USA auf dem Balkan eingehandelt.5 Doch woher auch immer die Bezeichnung kommt, zwingt uns der Gebrauch eines verallgemeinernden Schimpfwortes zu einem genaueren Blick auf den psychologischen Kontext dieser xenophoben Rhetorik.
Warum findet unsere Gesellschaft auch 20 Jahre nach der Auflösung der UdSSR keine klare, deutliche, politische Formulierung für die Quelle des eigenen Traumas? Die Bevölkerung der Russischen Föderation versteht, dass der reale Status eines neuen, jungen, demokratischen, russischen Staates nicht mit dem Phantom einer Supermacht Russland vereinbar ist, aber sie will nicht verstehen, warum das so ist. Alexander Mitscherlich sagt, dass ein Trauma nur mithilfe von gewissenhaft angeeignetem Wissen überwunden werden kann, darunter auch solchem, dessen sich das eigene Bewusstsein schämt. Dabei müssten die intellektuellen und moralischen Einstellungen selbst radikal überwunden werden, die zu Hitler geführt hätten, „da das, was geschah, nur geschehen konnte, weil dieses Bewusstsein korrumpiert war“6, schreibt Mitscherlich. Genau vor diesem Wissen fürchten sich die der UdSSR nachtrauernden russischen Politiker wie vor dem Feuer.
Natürlich kann man das als eine äußerst strittige Frage bezeichnen. Schließlich wurde auch die Diskussion um die Buße, die während der Perestroika in Gang gekommen war, gewaltsam beendet, und zwar aus Angst, das Land könnte unter all denjenigen verteilt werden, die irgendwann einmal vom Russischen Reich gekränkt wurden. Oder dass es unter dem Deckmantel von Kontributionszahlungen an all die Letten, Tschurken, Chatschen und Schlitzaugen ausverkauft wird, und an die ganzen Pindossija- und NATO-Huren entlang der neuen russischen Grenzen. Und hier betreten wir ein höchst schwieriges linguistisch-politisches Feld: Je durchsichtiger seine Logik, umso nebulöser die politischen Folgen.
1.Mitscherlich M. / Mitscherlich A. (1967): Die Unfähigkeit zu trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens, Stuttgart
2.Šmeleva, T. V. (1993): Ključevye slova tekuščego momenta, in: Collegium: Meždunarodnyj naučno-chudožestvennyj žurnal, Nr. 1, S. 33-41
3.Camus, R. (2006): “We’ll whack them, even in the outhouse”: on a phrase by V.V. Putin, in: Gusejnov, Gasan (Hrsg.): Language and Social Change: New Tendencies in the Russian Language, kultura, Nr. 10, S. 3-8
4.siehe auch: Gusejnov, G. (1992): Istoričeskij smysl političeskogo kosnojasyčija: Ukraina i russkoje obščestvo, in: Znamja, Nr. 9, S. 191; Guseinov, G. (1993): The Russian-Ukrainian Conflict: Tradition and Prospects, in: Anthropology and Archaeology of Eurasi:. Sociolinguistics, Semiotics, and Society, Vol. 32 (1), Washington, S. 53-65
5.Offenbar ist der Begriff pindos in dieser modernen Bedeutung erstmals am 7. November 1999 im Fernsehen in einer Reportage aus dem Kosowo aufgetaucht. Ein Soldat sagte in einem Interview, dass man dort mit diesem Wort die amerikanischen Friedenstruppen bezeichnete – NLO
6.Mitscherlich M. / Mitscherlich A. (1967): Die Unfähigkeit zu trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens, Stuttgart. S. 82
Die brennende Tür der Lubjanka – nichts als Provokation … Der Journalist Oleg Kaschin widerspricht dem vehement. Nicht der Tabubruch macht Aktionisten wie Pjotr Pawlenski zu Künstlern, sondern ihr bewusstes Interagieren mit der Angst – derselben, die den Nicht-Künstler vor jeglichem Handeln zurückschrecken lässt. Die Furchtlosigkeit, sagt Kaschin, ist Pawlenskis Koautor.
Das Russland der 10er Jahre – das sind Woina, Pussy Riot und Pawlenski. Einen vierten Namen gibt es nicht, aber auch drei sind schon viel. Drei Mal so viel wie einer und unendliche Male so viel wie null.
Die Erklärungsversuche der Kunsthistoriker, hey Leute, das ist Aktionskunst, eine Tradition, die zum Dadaismus und zu Jackson Pollock hinaufreicht – das alles lenkt nur vom Wesentlichen ab. Wie man in der Wikipedia oft lesen kann: „Dieser Artikel beschreibt ein aktuelles Ereignis.“ Wenn das Ereignis nicht mehr aktuell ist, wird jemand einen Fachbegriff erfinden, so etwas wie Russischer Aktionismus der 2010er Jahre, nur kürzer (vielleicht Woinismus?), jemand wird eine Doktorarbeit schreiben, der nächste ein Buch, der dritte wird die heute einmaligen Aktionen bis ins Abgeschmackte kopieren, und erst dann wird man sagen können, was das eigentlich genau war und worin der Wert liegt – vorerst gibt es hier einfach ein paar Anmerkungen eines Zeitgenossen.
Im spätputinistischen Russland mag vielleicht keine Hochkultur entstehen, aber zumindest bietet es als Raum und Zeit ideale Bedingungen für einen kulturellen Durchbruch. Wir erleben eine Übergangsphase zwischen Autoritarismus und Totalitarismus (der freilich nicht unbedingt kommen muss), in der sich offenbart, dass die normalen sozialen Verhältnisse bereits dabei sind, den vom Staat aufgezwungenen Platz zu machen, aber noch gibt es weder Massenverhaftungen noch totale Zensur. Minütlich verändert sich die Lage zum offensichtlich Schlechteren, das kollektive Bewusstsein und mit ihm die einstige Kunst kommen nicht mehr hinterher und werden somit minütlich altmodischer und archaischer, so wie jener Bürger, der dort drüben erbost in dem Kragen Nase und Kinn versteckt.* Die gesellschaftliche Unfreiheit hat noch nicht den Grad erreicht, dass sie jede nicht sanktionierte Aussage verunmöglichen würde. Im Russland des Jahres 1991 (das freiste unserer Generation bekannte Land) wäre ein Pawlenski gleichermaßen undenkbar wie im heutigen Turkmenistan oder Nordkorea (offenkundig die unfreisten Länder überhaupt).
Die spannende Periode der russischen Geschichte, die wir gerade miterleben, könnte vermutlich großes Kino, große Literatur oder Musik hervorbringen, doch die größten Chancen auf einen Durchbruch hatte von Anfang an das, was wir zeitgenössische Kunst nennen, denn eine niedrigere Erwartungshaltung bedeutet immer auch ein Mehr an Möglichkeiten: Einer, von dem man nichts erwartet, ist immer im Vorteil gegenüber den Favoriten. Das postsowjetische Russland fand von Anfang an einen Konsens in Bezug auf moderne Kunst – Schwindelei bis hin zum Betrug sah man darin, nach dem Motto: „Mal hängt eine Installation rum, mal gibts eine Performance.“ Jemand stellt was Seltsames in der Gelman-Galerie aus, ein geldschwerer Depp kommt vorbei, bekommt erklärt, das sei genial, und kauft es – das ist die ganze Kunst. Schock, Provokation und was man sonst für Begriffe im Zusammenhang mit zeitgenössischen Künstlern verwenden mag – jedenfalls ist schon im Voraus klar, was man von so jemandem zu erwarten hat. Was kann da schon Interessantes kommen? Lieber schnell vorbeilaufen.
Doch an Woina, Pussy Riot und jetzt auch Pawlenski kommt man nicht einfach so vorbei und das sicher nicht, weil hinter der brennenden Tür ein imaginierter FSB-Wachmann hätte versteckt sein können (auf den Klageruf dieses Wachmanns, er hätte verbrennen können, baute die Hauptargumentationslinie der Pawlenski-Kritiker in den sozialen Netzwerken – fast wörtlich wie in dem Märchen von der dummen Else, die bittere Tränen vergoss, als sie sich vorstellte, wie sie einmal heiraten würde, einen Sohn gebären, wie dieser dann heranwachsen, in den Keller steigen und sich dabei das Genick brechen würde). Der Erfolg dieser Künstler besteht in der richtigen Synthese aus einem gesellschaftlich emotionsgeladenen Thema und der Art seiner Darbietung, aber als entscheidenden Faktor (und falls das ein alter Hut ist, sollen die Kunsthistoriker hier intervenieren) betrachte ich eine dritte Komponente ihrer Aktionen. Herkömmliche Vertreter der zeitgenössischen Kunst brechen Tabus, sie brechen mit Moralvorstellungen und einigem mehr, aber unsere Aktionskünstler dringen in einen Bereich ein, der weder durch Moral noch durch kollektiv empfundene Grenzen des Akzeptablen geschützt ist, sondern durch Angst. Die Angst – sie ist die dritte Komponente, ohne die die neue russische Kunst schlicht nicht existieren würde.
Der herkömmliche Künstler weiß, dass er mit dem Raum, seiner Umgebung, den Passanten, mit was auch immer interagieren muss. Pawlenski aber (genau wie Woina und genau wie Pussy Riot) interagiert darüber hinaus mit der Angst der russischen Bevölkerung vor den Sicherheitsorganen, vor der Kirche, vor der Regierung, vor dem Bullen. Schon längst hat der Spießbürger gelernt, über das Schwarze Quadrat zu sagen, das sei ja keine Kunst, das würde er auch noch hinbekommen; aber das, was Pawlenski gemacht hat – kriegst du das hin? Nein, kriegst du nicht, weil du Angst hast. Angst vor dem Gaischnik auf der Lubjanka, Angst vor dem Gefängnis, Angst vor einem Prozess. Pawlenski hat keine Angst, die Furchtlosigkeit ist sein Koautor. Woher sonst kommen die ewigen, seit den Zeiten von Woina unablässigen Gerüchte und gegenseitigen Beschuldigungen innerhalb der Szene, man würde für die Sicherheitsorgane, die Polizei oder den Kreml arbeiten? Warum sonst sollte er keine Angst haben? Es fällt uns leichter, Furchtlosigkeit auf Verschwörungstheorien zu schieben. Der Gedanke an echte Furchtlosigkeit ist schier unerträglich.
Unter Kritikern ist es mittlerweile ein Allgemeinplatz zu sagen, Pawlenski würde keinen solchen Erfolg haben, wenn der Staat sich anders verhielte. Sicher, aber man sollte auch bedenken, dass die Gerichts-Rituale, in denen seine Aktion ihre Fortsetzung finden, nur ein kleiner Teil jenes Verhaltens staatlicherseits sind, das Pawlenski zu Pawlenski macht. Die staatliche Sphäre, mit der er in seinen Aktionen interagiert, ist riesig und hat mit ihm selbst kaum Berührungspunkte, aber die von ihm in Brand gesteckte Tür brennt überall: In Kaliningrad, wo das Gerichtsverfahren gegen Aktivisten, die über einer Geheimdienst-Garage die deutsche Flagge gehisst hatten, mehr als anderthalb Jahre andauerte; in Wladiwostok, wo der Prozess gegen die Partisanen von Primorsk noch immer läuft; und im gesamten Gebiet zwischen Kaliningrad und Wladiwostok, wo es genau die gleichen Gerichte, genau die gleiche Polizei und überhaupt genau das gleiche von allem gibt. Die zweiflügelige massive Eingangstür zu 63.050 Rubel und 19 Kopeken [905,27 EUR], die lichtreflektierende Polizeiweste, der doppelköpfige Blechadler auf dem staubig-roten Samtstoff und davor eine Frau mit Robe, die etwas herunterleiert, das dein Schicksal für die nächsten Jahre bestimmt – so sieht Russland wohl heute aus. Und was den Künstler von uns, von den Bürgern unterscheidet ist Folgendes: Er macht aus diesem Russland mit seinen eigenen Händen etwas, das selbst die konsequentesten Regimekritiker in angstbeladene Hysterie versetzt, etwas, das zum Streiten zwingt, zum Nachdenken, zum Verrücktwerden. Es gibt die Meinung, dieses Russland tauge ohnehin zu nichts anderem – dann wäre Pawlenski überhaupt der Einzige, der es schafft, diesem Land etwas abzuringen.
*aus dem Gedicht Zwölf von Alexander Blok, Übers. Alfred Edgar Thoss: Der Bürger dort drüben versteckt erbost / in dem Kragen Nase und Kinn; bei Paul Celan: Drüben der Burschui, Nas’ im Mäntlein
Der freie Spielraum auf Russlands Theaterbühnen ist in den Nach-Perestroika-Jahren zu einem sozial-poetischen Spiegel für zivilgesellschaftliche Entwicklungen geworden. Die Bolotnaja-Bewegung hat im Bereich des Theaters Energie freigesetzt, so die Theaterkritikerin Jelena Kowalskaja. Körperliche Berührungen geben Anstöße zu sozialem und menschenfreundlichem Miteinander – geht das auch im Großen?
„Lena, suchst du mal die Musik für das Trio raus?“
Lena drückt auf eine Taste der Anlage, und plötzlich erklingt in dem Zimmer mit Aussicht auf einen Plattenbauwohnblock der sanfte, beseelte Gesang von Bono. Drei junge Frauen verschmelzen zur Musik in ein Knäuel, ihre Körper werden eins. Sie gleiten, türmen sich übereinander, geben einander Bewegungsimpulse, fangen die Partnerin mit ihren Körpern auf, wenn die das Gleichgewicht verliert.
Das Trio besteht aus einer stützenden Basis und einem fragilen Element. Die Basis – das sind Lena und Wika, Natalja Popowas Mitarbeiterinnen. Und Miriam nimmt Tanzstunden in Natalja Popowas Studio. Sie hat eine schwer auszusprechende psychiatrische Diagnose. In ihrer Improvisation agiert sie mit den beiden anderen zusammen, aber geschehen tut das alles hier um ihretwillen.
In einer Ecke des Zimmers sitzt Natalja Popowa, die Gründerin und Leiterin des Studios Krug [dt. Kreis], auf einem Stuhl. Neben ihr, auf den Matten entlang der Wand, verfolgen Katja, Klawa, Sascha, Ljoscha, Anton und die anderen Schüler und Mitarbeiter des Studios die Improvisation.
Körperbewusstsein ist der erste Schritt. Und dann entsteht allmählich eine Komposition
„Die jungen Leute müssen das Gewicht ihres Gegenübers spüren, seine Bewegungen vorausahnen, sie steuern“, erklärt mir Popowa leise. „So entwickeln sie ein Körperbewusstsein. Das ist der erste Schritt. Und dann entsteht allmählich eine Komposition. Das Gefühl für die Komposition ist ein soziales Gefühl. Durch die Übungen lernen sie, sich in eine Gemeinschaft zu integrieren, Menschen anhand ihrer Körperreaktionen zu verstehen. Diese Fähigkeit kompensiert ihre intellektuellen Schwächen, sie fangen an, sozial adäquat zu reagieren. Oft zeigen sie dann sogar ihren Angehörigen, wie man richtig kommuniziert. Sie sagen zum Beispiel: ‚Du verstehst mich nicht, so muss man das machen.‘ Das kommt alles durch ihre Erfahrungen mit der Improvisation.“
Heute sind die älteren Tänzer des Studios hier versammelt. Jeder hat seine eigene Diagnose, jeder war bereits in Therapie. Alle sind jenseits der Zwanzig. Am meisten Erfahrung hat Sascha, der bereits seit elf Jahren tanzt. Ein sympathischer junger Mann, der lächelt, als hätte er ein Geheimnis. Fast alle hier habe ich schon in dem Stück Slash gesehen, als es im Meyerhold-Zentrum aufgeführt wurde.
Außer den Studioschülern sind auch ein paar Jüngere anwesend. Sie leiden an psychischen Problemen, ohne eine Behinderung zu haben: Serjosha kann sich nicht konzentrieren, Lena ist derart schüchtern, dass sie im Leben schlecht zurechtkommt.
Die Mitarbeiter des Krug sind ehrenamtlich tätig. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt an anderer Stelle, verbringen aber bis zu zwanzig Stunden die Woche im Studio. Viele von ihnen – so wie Lena – waren früher selbst Schüler im Krug.
Auf eine Übung folgt die nächste. Insgesamt wirkt das Ganze wie ein Abend mit zeitgenössischem Tanz – ziemlich professionell und ausgefeilt.
„Ist Ihnen klar, welch Grazie hier geweckt wird?“ Nataljas Augen leuchten. „Sehen Sie? Das sind denkende Bewegungen! Sie denken, während sie sich bewegen. Fühlen und Denken im selben Moment; sie erforschen ihre Körper, die Beziehung zum Partner, neue Bilder entstehen. […]“
Das Ganze findet im Kinder-Kreativ-Zentrum im Moskauer Bezirk Strogino statt, in einem leuchtend blau gestrichenen umzäunten zweistöckigen Gebäude. Die Mütter schlendern durch den Hof, während sie auf ihre Kinder warten. Am Eingang ein Wächterhäuschen und ein Drehkreuz. Ein Junge mit zerebraler Kinderlähmung hat sich mit seiner roten Jacke im Drehkreuz verfangen und lacht. Die Mutter ruft ihn sanft: „Sascha, wart mal, ich will dir noch die Schnürsenkel zubinden!“
***
Natalja Popowa, die Gründerin und Leiterin des Krug, ist eine herausragende Persönlichkeit. Ihre Organisation heißt in voller Länge Regionale gemeinnützige Gesellschaft künstlerisch-sozialer Rehabilitation für Kinder und Jugendliche mit Entwicklungsstörungen sowie ihre Familien. In Natalja Popowa fließen die Bewegungen des inklusiven und besonderen Theaters des Landes zusammen. Sie und ihre Kollegen organisieren Proteater, das wichtigste Festival für das besondere Theater in Russland.
Die besten inklusiven Theater Europas werden dazu nach Moskau eingeladen. Sie bringen theoretisch und praktisch Arbeitende zusammen, organisieren wissenschaftlich-praktische Konferenzen, publizieren Literatur, veranstalten Workshops, Sommerschulen und vieles mehr. Dabei leitet Popowa seit einem Vierteljahrhundert tagtäglich Kurse für Kinder und junge Erwachsene mit gesundheitlichen Einschränkungen.
Hier, im Innersten ihres Kreises, ist auch das unter Theaterleuten wohlbekannte Krug II entstanden: das Andrej-Afonin-Theaterstudio, das mit dem wichtigsten Theaterpreis des Landes, der Solotaja Maska, ausgezeichnet wurde. Erhalten hat das Theater diesen Preis für das Stück Entfernte Nähe, das Afonin in Zusammenarbeit mit seinem Kollegen Gerd Hartmann, dem Leiter des Berliner Thikwa-Theaters, inszeniert hat.
Ich erinnere mich noch, wie ich das Stück vor zwei Jahren […] im Zentrum für Dramaturgie und Regie an der Begowaja-Straße sah. Ihrer Form nach war die Inszenierung modern, und zugleich war sie erfüllt von echter Menschlichkeit. Es gab darin etwas, wonach man sonst bei hellichtem Tag mit Fackel auf der Bühne vergeblich sucht, das, wovon Stanislawski, Artaud und Grotowski geträumt haben: den eigentlichen Menschen, den Menschen an sich.
Dann entdeckte ich, dass Entfernte Nähe nur die Spitze des Eisbergs war. Es stellte sich heraus, dass im Land Hunderte von inklusiven Theatern aktiv sind. Die einen arbeiten, wie das Krug, mit geistig eingeschränkten Menschen. Andere, so wie der Petersburger Zirkus Upsala, mit Straßenkindern. Die nächsten wiederum nehmen sich Menschen mit Bewegungseinschränkungen an – so das Shest [Geste] in Nishni Nowgorod. Tausende von weiteren inklusiven Theatern arbeiten in ganz Europa.
Das war im Jahr 2014. Die darstellende Kunst erlebte einen Aufschwung. Zwei Jahrzehnte nach der Perestroika waren die Grenzen des Theaters sehr weit über den Sozialistischen Realismus hinaus erweitert worden. Im Zuge der Bolotnaja-Proteste begann sich das Theater nicht bloß als Kunstform, sondern auch als öffentliches Forum, zivilgesellschaftliches Institut und soziales Instrument zu begreifen. Schon seit einem guten Jahrzehnt riefen das zeitgenössische Drama und junge Regisseure den Wohlsituierten die Existenz derjenigen in Erinnerung, die weniger Glück hatten. Das inklusive Theater ging noch weiter: Es zeigte die Probleme nicht nur, es packte sie auch an.
In jenem Jahr leitete ich den Expertenrat der Goldenen Maske, und dabei stellte sich heraus, dass die Experten, bei allen unterschiedlichen Vorlieben in Sachen Ästhetik, sich in einem Punkt einig waren: bei der Begeisterung für soziales Theater. So kam es, dass 2014 in der Kategorie „Experiment“ das soziale Theater in allen seinen möglichen Formen vorgestellt wurde. In Entfernte Nähe tanzten besondere Darsteller im Duett mit Laiendarstellern ohne Behinderung, sie trugen Monologe vor und kochten gemeinsam Suppe, die im Finale unter den Zuschauern verteilt wurde. Auf dem Programm standen außerdem das Meyerhold-Zentrum mit dem Bildungsprojekt Alice und der Staat, das Liquid Theatre mit einem nonverbalen Stück über Alkoholabhängigkeit und das Stück Akyn Opera des Teatr.doc, in dem vier Tadshiken von ihren Abenteuern in Moskau erzählen und auf traditionellen Instrumenten spielen. Nicht unbedingt außergewöhnlich, aber erkenntnisfördernd: Diese Menschen in orangefarbenen Westen, die einige der Zuschauer, wenn man mal ehrlich ist, nicht einmal für Menschen halten, sind in Wirklichkeit Nachfahren einer großen Kultur, die um ein Vielfaches älter ist als unsere.
Etwas ganz Bestimmtes hob Akyn Opera und Entfernte Nähe von den anderen sozialen Theaterstücken ab: die ungekünstelten, echten Menschen auf der Bühne. Und genau die wurden zu den Siegern gekürt: Das Teatr.doc erhielt den Jurypreis für Akyn Opera, und Afonin konnte die Goldene Maske in der Kategorie „Experiment“ mit nach Hause nehmen – die Theaterwelt hatte das besondere Theater als Teil der großen Kultur anerkannt. […]
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Das besondere Theater als solches gab es schon in der UdSSR, es war aber nie dem Kulturamt unterstellt, so wie dies z. B. beim Gehörlosen-Theater der Fall war. In den 1960er Jahren wurde dank der Förderung des Komponisten Solowjow-Sedoj, dessen Tochter gehörlos war, das Mimik- und Gestik-Theater in Moskau gegründet. Die Darsteller des russland- und weltweit ersten professionellen Gehörlosen-Theaters lernten an der Schtschukin-Schauspielschule bei Boris Sachawa. Finanziert wurde das Theater aus dem Budget des Allrussischen Gehörlosenverbands und hatte in den ersten zehn Jahren einen dermaßen durchschlagenden Erfolg, dass es nahezu unmöglich war, an Karten zu kommen.
In den 90er Jahren, nachdem der Gehörlosenverband eine ganze Reihe von Privilegien erhalten und kriminelle Züge angenommen hatte, verkam das Theater zu einer Art Diebesnest. Die Legende von einer Liebschaft zwischen der Schauspielerin Swetlana Wakulenko und dem Banditen Lewoni Dshikija, die später als Vorlage für den Kinofilm Land der Gehörlosen diente, machte die Runde. Es heißt, er hätte sieben Mal um ihre Hand angehalten und sie sieben Mal abgelehnt. Und als sie endlich einwilligen wollte, erfuhr sie, dass er bei einer Schießerei ums Leben gekommen war.
Das Mimik- und Gestik-Theater existiert auch heute noch, aber es ist unwiederbringlich im Verfall begriffen. Dafür hat das Sachawa-Studio an der Schtschukin-Schauspielschule die Staatliche Spezialisierte Kunstakademie in Moskau hervorgebracht. Und die Akademie hat wiederum zwei bedeutende Theater hervorgebracht: das Sinematograf und das Nedoslow. Beide werden finanziell von der Akademie getragen. Mit dem Theater Piano von Wladimir Tschikischew an der Internatsschule für gehörlose Kinder gibt es in Nishni Nowgorod ein weiteres erstklassiges Gehörlosen-Theater.
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Der Aufschwung des sozialen Theaters in Russland kam mit den Bolotnaja-Protesten, als das zivilgesellschaftliche Selbstbewusstsein erwachte und einzelne Künstler erkannten, dass sie der Gesellschaft gegenüber eine Verpflichtung hatten. Denn Fakt ist: Vier Prozent der russischen Bevölkerung gehen regelmäßig ins Theater, finanziert wird es aber zu hundert Prozent durch den Steuerzahler. Was bekommen diejenigen zurück, die nicht die Möglichkeit haben, ins Theater zu gehen, oder die es einfach nicht gerne tun? Was kann Theater für diese Menschen leisten? Das junge Theater fand in ganz unterschiedlichen sozialen Projekten Antworten auf diese Frage. Den Anfang machten die freien Theater: Hier brachte Jelena Gremina, die Gründerin und Leiterin des Teatr.doc, den Stein ins Rollen. Sie rief das Projekt Theater plus Gesellschaft ins Leben und berichtete darüber im Jahr 2011 bei einem Treffen des damaligen Präsidenten Medwedew mit Kunstschaffenden. Im Kern ging es um staatliche Unterstützung für nicht-staatliche Theater im Gegenzug für verschiedene soziale Aufgaben. Medwedew reichte das Projekt ans Kulturministerium weiter und die Idee nahm Gestalt an. Neun Theater in ganz Russland arbeiteten drei Jahre lang mit Menschen, die auf die eine oder andere Weise vom kulturellen Leben ausgeschlossen sind. In Komsomolsk-am-Amur nahm sich Tatjana Frolowa alter Menschen mit Alzheimer an, im Zentrum für zeitgenössische Choreografie Dialog Dance in Kostroma unterrichteten professionelle Tänzer modernen Tanz für gehörlose Kinder und deren Eltern; das Liquid Theatre führte in einer Beratungsstelle einen Therapiekurs für Drogen- und Alkoholabhängige durch, das Rostower Theater 18+ brachte Intensivtätern szenisches Schreiben bei, das Teatr.doc selbst ging in eine Strafkolonie für Jugendliche etc. Nach den freien Theatern begannen bald auch die staatlichen, sich sozialen Projekten zu widmen. So ist ganz ohne staatliche Einflussnahme in Russland ein Theatermodell entstanden, bei dem das Künstlerische und das Soziale sich nicht widersprechen, sondern ergänzen. […]
„Womit wir uns hier beschäftigen?“, sagt Natalja leise, während die Tänzer bei der nächsten Übung sind. „Nicht so sehr mit den Grundlagen der Schauspielkunst. Eher mit dem, was Grotowski als Präexpressivität bezeichnete. Wir erarbeiten ein ästhetisches, außeralltägliches Verhalten, lernen, das eigene Verhalten zu kontrollieren. Auf diese Weise bekommen die Schüler einen Zugang zu kultiviertem Sein, und zwar über die Sprache der Symbole, darüber, dass sie das primäre Symbol zu verstehen lernen – ihren Körper. Normalerweise geschieht das in der Kindheit, noch bevor man schreiben, malen etc. lernt. Unsere jungen Leute haben in der Kindheit keine Methode an die Hand bekommen, die ihnen beim Verstehen der Welt geholfen hätte. Man erklärt dir etwas, obwohl du nicht siehst, nicht hörst, nicht verstehst. Und hier eröffnet sich dir plötzlich ein Instrument, die Fähigkeit, die Welt auf anderem Wege als dem des Verstandes zu begreifen.“
„Ich möchte noch einmal herumgewirbelt werden!“, bittet Klawa zum x-ten Mal. „Ok, aber nicht kreischen.“ „Ich versuch’s!“ „Klawa übt Hebefiguren“, erklärt mir Natalja beiläufig. Alexej hebt Klawa behutsam auf seine Schulter und dreht sich langsam im Kreis. „A-a-a-a!“, ruft Klawa. „Sie kreischt schon wieder!“, rufen die anderen. „So wird eine Nummer geboren“, lacht Natalja. „Aus Fehlern, Problemen, Zufällen. Jedes mal wenn ich zuschaue, denke ich: Wie schön sie doch alle sind. So organisch. Dieses Organische muss bewahrt und gefördert werden – dann entsteht das besondere Theater und besondere Symbole. Dann wird es auch für die große Kultur interessant. Das ist doch wie ein Naturschutzgebiet, in dem alles gerade erst entsteht. Ein Naturschutzgebiet der Kultur.“
Viel ist über „Leviathan“ von Andrej Swjaginzew gerätselt worden: Ist es ein politischer Film? Ein metaphysischer? Ein religiöser? In diesem Text nimmt der Regisseur sein eigenes Werk unter die Lupe, und es zeigt sich: Ihm selbst geht es vor allem um die Ethik, um den Wert des einzelnen Menschen. Es sei ein urtypisches russisches Elend, sagt er, die Persönlichkeit des Einzelnen zu verachten, und nichts sei schädlicher für eine Zivilisation. „Leviathan“ ist für ihn vor allem ein Hymnus an die eigentliche Heimat des Menschen – die Menschlichkeit.
Der folgende Text stammt aus dem Februar dieses Jahres, als Leviathan gerade in Russland in die Kinos kam. Ich habe ihn damals nicht veröffentlicht, weil ich den Zuschauern die Gelegenheit geben wollte, sich eine eigene Meinung über das Gesehene zu bilden. Jetzt aber, nachträglich, nachdem öffentlich wie privat so viel gesagt wurde, habe ich mich gefragt, wie ich selbst als Zuschauer den Film gesehen hätte. Bekanntlich kann man jedes Werk unterschiedlich interpretieren, und da es in einem Kunstwerk viele Sinnströme gibt, ist es oft schwer, sie alle in einer einzigen Aussage zu fassen. Hier möchte ich deshalb nur auf ein Thema des Films eingehen – auf eines der Hauptthemen.
Wenn man mit der Arbeit an einem Film beginnt, sucht man unwillkürlich nach Parallelen und Verbindungen des eigenen Stoffes zu den ewigen Motiven. So war es auch hier: Als mir die Idee kam, die Geschichte der Konfrontation eines Einzelnen mit dem herzlosen Moloch des Systems zu erzählen, musste ich sofort an Heinrich von Kleists Novelle Michael Kohlhaas denken, die in ihrer Spannung der wahren Geschichte des Pechvogels Marvin John Heemeyer – einem Schweißer aus Colorado – sehr ähnelt. Heemeyers Revolte war die erste Inspiration für meinen Leviathan. Später kamen die Anspielungen auf das Buch Hiob hinzu.
Alle Sujets wiederholen sich im Laufe der Zeit. Wir hatten nicht die Absicht, Kleists Novelle oder die Parabel von Hiob zu illustrieren oder die Geschichte des amerikanischen Schweißers faktentreu nachzuerzählen. Wozu auch? Die erste Geschichte kann man in den Bibliotheken, die zweite in der Bibel und die dritte auf YouTube finden. Sie alle bildeten lediglich den Nährboden, eine Art metaphysischen Lehm, aus dem ein völlig neues, eigenständiges Werk modelliert wurde, dessen hauptsächliches Material jahrelang beobachtete Eigentümlichkeiten und Liebreize des russischen Lebens waren. Und sein Titel wurde Leviathan.
Der Dorfpriester Wassili verweist den Zuschauer am Ende des zweiten Drittels des Films auf den Schluss des Buches Hiob, wo dem Gerechten der Herrgott erscheint. An dieser Stelle des Alten Testaments erwähnt Gott Leviathan – das schreckliche Seeungeheuer, das unverwundbar und, wie alles andere unter der Sonne auch, von Ihm, dem Herrgott, erschaffen ist. Doch allein die Parallele zu den Bildern des Alten Testaments hätte nicht ausgereicht für die Entscheidung, unserem Film einen solch ernsten Titel zu geben. Ein Seenungeheuer, ein Wal hat noch nichts gemein mit der vom Menschen selbst erschaffenen Maschine der Gewalt. Die Verwendung des Namens Leviathan in einem solchen Kontext ist aber nicht mein Verdienst. Lange vor uns hat die Geschichte selbst die Parabel von Hiob unter die Lupe genommen und den Sinn der Zitate verdeutlicht: Ich meine das Traktat von Thomas Hobbes, einem englischen Philosophen des 17. Jahrhunderts, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens.
Der große Wal, das schreckliche Ungeheuer – das ist der Staat, ein Idol, das vom Menschen zu seiner eigenen Sicherheit geschaffen wurde, zur Rettung vor sich selbst. Der Staat ist laut Hobbes der ideale Ausweg aus dem Zustand vom „Krieg aller gegen alle“, in dem „der Mensch dem Menschen ein Wolf ist“. Um dieser Sackgasse zu entkommen, hat die Menschheit den Staat erfunden – eine politische Ordnung, die auf dem Gesellschaftsvertrag basiert. Der Souverän stellt seinen Untertanen verschiedene Machtinstitutionen zur Verfügung, die dem einfachen Bürger Sicherheit garantieren sollen. Polizei, Gericht, gesetzgebende Versammlungen, mit anderen Worten: An die Stelle vom „Krieg aller gegen alle“ tritt ein administrativ-bürokratisches System, das die Beziehungen der Menschen untereinander regelt. Eine Lösung des Problems? Ja. Aber um diese Sicherheit zu erlangen, muss der Mensch dem Souverän seine Freiheit abtreten.
Als ich Hobbes’ Ideen kennenlernte, fiel mir sofort die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis auf. Besonders in unserem Fall ist doch klar, dass der Untertan, der seine Freiheiten dem Staat abtritt, davon ausgeht, dass sich der Staat als Gegenleistung dazu verpflichtet, ihn zu verteidigen. Das sind aber nur vermeintliche Verpflichtungen und es ist nur eine Illusion von Sicherheit. Denn laut Hobbes schuldet der Souverän niemandem etwas. Tatsächlich befindet sich der Mensch also in einem System heuchlerischer Sklaverei, wo der „Krieg aller gegen alle“ noch schrecklichere Formen annimmt, weil er sich hinter dieser Heuchelei versteckt. Indem der Mensch seine Freiheit abtritt, unterschreibt er faktisch einen Vertrag mit dem Teufel. Für mich bedeutet Hobbes’ Leviathan genau das, und zwar nicht auf dem Papier, sondern im Leben. Schrecklich ist weiterhin, dass Hobbes, dieser tiefgründige Analytiker der Struktur des Lebens, auch die Kirche als eine Form der Macht über die Menschen und als Stütze Leviathans sieht. In seinem Weltbild hätte Hobbes ihr aber lieber eine dem Souverän untergeordnete Rolle gegeben. Das wäre auch im Interesse der Kirche selbst. Es ist also kein Zufall, dass die Kirche dem Menschen vorschlägt, sich als Sklave sowohl Gottes als auch des Souveräns zu sehen und sich immer daran zu erinnern, welch bescheidenen Platz er in der Welt einnimmt und wie wenig individuelle Verantwortung er trägt.
Hier stellt sich für den Menschen die fundamentale Glaubensfrage: Wer bin ich wirklich – ein Sklave Gottes oder Sein Sohn? Die Antwort scheint mir auf der Hand zu liegen: Ein Sklave verkauft seine Freiheit für einen Teller Suppe aus Angst vor seinem Schicksal, Angst um seine Zukunft und um das Wohl seiner Kinder … Kurzum, egal womit er diese freiwillige Sklaverei rechtfertigt, wenn er sein Schicksal anderen anvertraut, muss ihm doch bewusst sein, dass er im Tausch für etwas Vermeintliches seine größte Gabe, sein wahres Eigentum – den freien Willen – aufgegeben hat.
Und dann, als Antwort auf diesen Handel, kam der furchtlose und opferbereite Menschensohn in die Welt und bot den Menschen die Befreiung an. Man hat ihn gekreuzigt, sich dann nach und nach Seinen Sieg angeeignet und aus dessen Überresten neue Fesseln geschaffen. Aber diese Stimme lebt und spricht durch Jahrhunderte zu uns. „Ihr seid meine Brüder“, sagt Er uns durch seine Apostel. Und wenn er tatsächlich der Sohn Gottes ist und wir Seine Brüder sind, dann sind auch wir zwangsläufig Söhne Gottes.
Ich finde es schade, dass die Politik und die zeitweilige Veränderung des geistigen Klimas in unserem Lande viele Zuschauer daran hindern, diesen einfachen Gedanken zu hören: Mit meinem Film trete ich für die Einmaligkeit des menschlichen Lebens als einzigen wahren Wert und einzige Wahrheit ein. Keine großen Worte – ob Vaterland, Gott oder Gesetz – geben uns das Recht, das Leben eines anderen Menschen zu vernichten. Die Respektlosigkeit dem Menschen und dem Eigenwert seiner Persönlichkeit gegenüber ist ein urtypisches russisches Elend, das bereits seit vielen Jahrhunderten andauert und unser Leben noch lange beeinträchtigen wird. Wahrscheinlich so lange, bis wir begreifen, dass diese sklavische Eigenschaft – die Persönlichkeit des anderen zu verachten – schädlich für jede Zivilisation ist. Es ist wohl das Schicksal des Menschen, jeden Tag neu wählen zu müssen, in wessen Königreich wir gehören und wessen Söhne wir sind – die Gottes oder die Leviathans. Und Heimat, das sind nicht nur Hügel, Birken und Bächlein. Die Heimat eines Menschen ist das, wonach sich seine Seele am meisten sehnt. Die Heimat, das ist der Gewaltige Ozean, der große und weite Kreis des Weltalls und der kleine Kreis des nahen Umfelds – deine Familie und deine Freunde, die dir geistig nah sind. Das alles zusammen – und nicht irgendwelche Parolen und Präsidenten, Parlamente und Waffen, Priester und Propagandisten machen das Gut eines Menschen aus. Das Licht des heimischen Herdes, das Licht des Geistes und der Erkenntnis und schließlich Gottes selbst – das alles zusammen ist unser wahres Vaterland.
Und egal, ob wir in der am weitesten entwickelten oder archaischsten Gesellschaft leben, wir werden alle früher oder später vor diese Wahl gestellt, als Sklaven oder als freie Menschen zu handeln. Und egal ob wir gläubig oder atheistisch sind: Wir werden uns dieser Prüfung nicht entziehen können. Und sollten wir naiv glauben, dass die eine oder andere Staatsordnung uns von dieser Wahl befreien würde, so irren wir uns gewaltig. Im Leben des Bürgers eines jeden Landes kommt früher oder später die Stunde, wo er mit diesen Fragen konfrontiert wird: Zu wem gehörst du? Wer bist du? Und gerade weil ich dem Zuschauer all diese beängstigenden Fragen noch stellen kann und weil es hierzulande noch möglich ist, einen tragischen Helden oder einen „Gottessohn“ zu finden, ist mein Vaterland für mich noch nicht verloren.
Mitte September füllte sich das russische Internet auf einmal mit seltsamen Fotos: viele von ihnen schwarz-weiß oder in nicht ganz lebensechten Farben, mit schiefen Bildausschnitten, und ungewohnten – mindestens – Frisuren bei den Dargestellten. Das Kulturportal Colta.ru hatte zu einem Flashmob aufgerufen: Die User sollten Fotos aus den 1990ern ins Netz legen – und zwar alles, was sie finden konnten und für zeigenswert hielten – und Hunderte, vermutlich Tausende, kamen diesem Aufruf nach.
Die 1990er Jahre haben bis heute eine besondere Stellung in Russland, es ist ein unübersichtliches Jahrzehnt. Vielen ist es als Zeit der Armut, der Entbehrungen und des Leidens in Erinnerung geblieben, für andere ist es eine Epoche des Aufbruchs, der Hoffnung und der Freiheit gewesen. Von daher war der Foto-Flashmob zu diesem Thema mehr als nur ein nostalgischer Zeitvertreib: Er hat eine Welle von Diskussionen ausgelöst, die oft politischen Charakter hatten. Andrej Archangelski von Colta.ru versucht im Rückblick, die Bilder zu deuten und zu erfassen, an welche Schichten von Erinnerung und Aktualität die Aktion gerührt hat.
Nicht alle Flashmobs in sozialen Netzwerken sind so dynamisch: Die von Colta ins Leben gerufene Facebook-Aktion Erinnern wir uns an die 1990er erlebte einen solchen Zuspruch, dass sie tatsächlich „politisch kalkuliert“ wirkte, und Patrioten witterten in den Aufnahmen eine versteckte Bedrohung. Das war soweit eine verständliche Reaktion. Aber ein Flashmob richtet sich gegen niemanden, es geht dabei in der Regel allein um die Form, es gibt kein Ziel, außer dem, dass alle ungefähr zur gleichen Zeit annähernd das Gleiche tun. „Ein auf den ersten Blick harmloser Flashmob“ – dieser Satz staatstreuer Kolumnisten könnte aus dem Wortschatz sowjetischer Zeitungen stammen: Gerade die Harmlosigkeit, die Ziellosigkeit, ist die größte Gefahr für eine totalitär angelegte Psyche. Ziellosigkeit schreckt machthungrige Menschen mehr als offen gezeigte Feindseligkeit, denn die Verschwendung von Minuten und Stunden des eigenen Lebens – der gemeinschaftliche Potlatch – bedeutet, dass man über sich selbst verfügt, bedeutet Freiheit. Ziellosigkeit ist im Grunde auch ein Merkmal der 1990er. Die allgemeine, allzu verschwenderische Geste, das Teilen dieser herrlich zweckfreien Dinge geradezu mit Opfermut.
Die Fotos der 1990er Jahre fixieren vor allem die veränderte gesellschaftliche Haltung. Ein typisches Intellektuellenfoto aus den 1970ern oder 1980ern: Man sitzt Seite an Seite, legt die Arme umeinander, alle blicken in die Kamera, zwischen drei und zwanzig Personen, meist am gedeckten Tisch. Hier sind – das ist mit Parfjonows halbironischer Intonation auszusprechen – „vor allem die Augen wichtig, der Blick – weil man noch nicht alles laut sagen darf.“ Wichtig ist, dass man die Gemeinschaftlichkeit zur Schau stellt. Wichtig ist nicht zuletzt auch, dass man sich an die Traditionen hält: Ein Gruppenfoto von Intellektuellen aus Kratowo unterscheidet sich hinsichtlich der Bildkomposition nicht immer von der fotografischen Dokumentation eines Treffens des Politbüros mit einer kommunistischen Bruderpartei.
Neben dieser Tradition gibt es eine weitere, nicht weniger starke (wenn auch nicht neue). Die Menschen, die in den 1970ern und frühen 1980ern geboren wurden, erinnern sich gut an ihre Kinderfotos. Es war üblich, mit Kindern zwischen ein und sieben Jahren etwa einmal jährlich das Fotoatelier aufzusuchen. Ein abscheuliches Ritual, ein abscheulicher Initiationsritus, wie wir als fleißige Pelewin-Leser heute verstehen. Ein sowjetisches Auge hat euch zum ersten Mal festgehalten, ihr seid sichtbar geworden, auf dem Filmstreifen erschienen. Ihr wart so angezogen, „wie es sich gehörte“, euer Blick war so, „wie er zu sein hatte“ – genau das war das Ziel, ihr wurdet zu einem Teil der Norm. Wenn die Leute später, als Erwachsene, fremde Fotoalben durchblätterten, konnten sie es kaum fassen, dass Millionen von Kinderfotografien voneinander nicht unterscheidbar waren, egal ob sie in Tscherepowez, Batumi oder in Kaliningrad entstanden waren. Die Aufnahmen wurden nicht gemacht, um Individualität festzuhalten, sondern um alle völlig gleich aussehen zu lassen. Besonders die gefalteten Kinderhändchen, mit dem Plüschbär, der schieläugigen Puppe, und der für immer fest in der Erinnerung eingeprägte Ruf „Nicht bewegen jetzt!”, sind ein grelles Kindheitstrauma.
All diese Aufnahmen erzogen einen dazu, nicht für sich selbst zu leben, sondern für die Gesellschaft, die Eltern, für die Buchführung, für die anderen. Das Foto aus den 1990ern ist vor allem für einen selbst. Oder im Grunde genommen für überhaupt niemanden und nichts. Die Fotos aus den 1990ern, die jetzt ins Netz gestellt werden, kämpften unbewusst gegen die beiden Traditionen an: das freundschaftlich-gesittete Foto bei Tisch und das gnadenlose Kinderfoto aus dem Atelier. Auf den Fotos der 1990er ist der Mensch oft im Moment größter Abweichung von der Norm festgehalten. Es waren Akte symbolischer Rache für die sowjetische Entwürdigung und den Anruf „Stillgesessen!“
Der Gesichtsausdruck der 1990er ist nicht Lächeln, sondern eine gewisse Verwunderung: Schaut wozu ich fähig bin, das da bin ich. Faktisch bedeutete es eine Selbst-Entdeckung, Offenheit, Hoffnung. Und auch Freiheit. Die Freiheit verstand sich noch nicht als solche: Es war nur Verwirrung darüber, dass nun alles möglich war. Im Grunde genommen findet man genau solche Fotos auch bei den Leuten, die heute auf einem Posten in der Präsidialverwaltung oder bei einem staatlichen Fernsehsender sitzen. Die gleichen benebelten Gesichter mit der ersten Flasche ausländischen Wodkas vor sich oder der erste Irokesenschnitt als Schatten an der Wand. Aber natürlich posten sie diese Bilder nicht. Nach der Tradition, die sich in Russland entwickelt hat, wird Freiheit als Verirrung, als Jugendsünde aufgefasst, eine vorübergehende formale und nicht etwa inhaltliche Erscheinung. Premierminister Dimitri Medwedew hörte in seiner Jugend bekanntlich gern Deep Purple, doch diese ästhetische Erfahrung wurde nicht zur einer Werteerfahrung. Es ist eine Eigenheit des sowjetischen, selbst des hochgebildeten Menschen, die Dinge zu trennen: Die Idee der Freiheit ist das eine, das wahre Leben das andere. Damit trösten sie sich heute, wenn sie eure Bilder aus den 1990ern sehen. Ob sie euch beneiden?
Die Erinnerung daran, dass Freiheit auch für sie einmal ein Instinkt war, wie die Luft zum Atmen, bevor sie rationalisiert, unterdrückt und in Anzughosen gesteckt wurden, ist es, was Menschen, die ihre Freiheit heutigem „Erfolg“ geopfert haben, an diesen Aufnahmen ärgert. Freiwillig geopfert übrigens. Wenn sie ihre romantischen Lieder über die „wilden Jahre“ anstimmen, wollen sie uns in Tat und Wahrheit weismachen, dass es nur einen Weg zu Reichtum und Fortschritt gab, nämlich den ihren, der über Entwürdigung und den Verkauf der Seele führte. Die Existenz anderer Entwicklungsmöglichkeiten (damals wie heute), die Möglichkeit der Wahl würden sie lieber weiter verheimlichen. Aber diese verfluchten Fotos erinnern sie daran. Dass damals alle frei waren und auf unterschiedliche Weise davon Gebrauch machten.
Diesen Fotos aus den 1990ern ist eine gewisse ontologische Armut gemeinsam. Man sieht, dass die Leute Bekleidung tragen und noch nicht ein bestimmtes Kleid oder eine spezielle Hose, ebenso wie es Essen, Trinken und „Saufware“ gibt und noch keine bestimmte Sorte oder einen bestimmen Jahrgang. Diese Armut ersetzt die Benjaminsche Aura. Gerade die Not an jedem Eck und End lässt das Gefühl der Unwiederbringlichkeit entstehen. Den Mittelpunkt der Komposition bildet oft irgendein seltenes Kleidungsstück, das das allgemeine Elend merkwürdigerweise nur betont. Es ist kaum mehr nachzuvollziehen, wie arm wir damals im Vergleich zu heute waren, selbst die bereits verhältnismäßig reichen Leute. Gerade der Wunsch, nie wieder arm zu sein, trieb all diese fotografierten Menschen um. Und jeder ging das Problem auf seine Weise an.
Eigentlich gab es im Russland der 1990er Jahre, anders als zuvor in den 1980er oder danach in den Nullerjahren, kein einheitliches Gefühl für die Zeit. In den 1990ern entstand sozusagen ein Loch, durch das ganz Russland hinabstürzte. Es war ziemlich schauerlich. Das Leben war nicht mehr zyklisch, sondern bestand aus Einzelstücken, alle Uhren gingen zu Bruch. Dieser Flashmob ist – immer noch im Geiste Benjamins – ein Versuch, im Nachhinein, anhand von Fotos, eine in sich geschlossene Zeit herzustellen. Sie im Wäscheschrank zu verstauen, zu stapeln, zu schematisieren. Sie für ein und allemal zwischen die 1980er und die 2000er zu packen und ihnen so den gleichen Status zu geben, wie ihn auch das jetzt hat. Aber faktisch ist das eine Selbsttäuschung. Hätte man die 1990er Jahre richtig verstanden, wären sie zu einem Lebensquell für die Zukunft geworden. Aber sie wurden nicht verstanden und blieben so ein Rätsel – und auf jeden Fall entschwinden sie, die 1990er. So wie in Russland jede Zeit der Freiheit entschwindet.
Geblieben sind eigentlich nur diese Schnappschüsse.
Beispiele von Fotos aus dem Flashmob gibt es zum Beispiel bei Snob, sobaka.ru und fishki.net, und – ein Dank an unsere Leser! – noch eine besonders wilde Sammlung (allerdings nicht aus dem Flashmob) auf yahooeu.