Unsichtbare Städte

Verlassene Orte im tiefsten Sibirien, von der Außenwelt abgeschnitten und fast vollständig vergessen. Triste Bauwerke, kulturlose Städte, graue Gesichter. Die Jugend größtenteils abgewandert, zurückgeblieben nur die ehemaligen Arbeiter, die sich müde an längst verlorene Betriebe klammern, die einst ihren Lebensmittelpunkt darstellten.
So oder ähnlich könnte man sich das Leben in russischen Monostädten heute ausmalen.

Doch die Realität ist bunter. Das Dokumentationsprojekt Newidimyje Goroda – Unsichtbare Städte erforscht das Leben in den Monostädten, lässt Stimmen der Menschen vor Ort erklingen und ermutigt die Betrachter, die reiche Wirklichkeit hinter der erwarteten Monotonie zu entdecken. Durch die Perspektive ihrer Bewohner haucht die Studie den Städten Leben ein und lässt Aspekte lokaler Kultur aufleben.

dekoder zeigt eine Auswahl der Bilder sowie Ausschnitte der Interviews und Texte in deutscher Übersetzung.

Die metallenen Sounds von Toljatti

Toljatti ist mit rund 700.000 Einwohnern die größte Monostadt Russlands, die seit 1966 den größten russischen Autohersteller beherbergt – die Autofabrik AwtoWAS. Bis Ende 2008 waren dort etwa 106.000 Mitarbeiter beschäftigt. Die meisten anderen Unternehmen in Toljatti sind mit der Autoindustrie verknüpft. 
AwtoWAS geriet in Folge der Wirtschaftskrise 2009 in finanzielle Schwierigkeiten. Sanierungsmaßnahmen und mehrere Entlassungswellen folgten, sodass der größte PKW-Hersteller in Russland Anfang 2018 nur noch rund 36.400 Mitarbeiter beschäftigt.

„Bis ich 30 war, erinnere ich mich an nichts, ist alles nur Nebel. Ich habe nur gearbeitet. Doch dann, als die Musik in mein Leben kam, klarte es auf. […]
Bei der Arbeit bin ich ständig durch die Fabrikhalle von AwtoWAS gegangen, mich hat dieses industrielle Getöse und Gekreische schon immer fasziniert. Die Rhythmen der metallenen Fördermaschinen, Schweißgeräte, Pressen, Montagemaschinen oder von was  auch immer …“

„Also habe ich angefangen, heimlich diese Hintergrundgeräusche aufzunehmen – mit meinem Handy, auf mein Diktiergerät, habe zu Hause dann irgendwelche rhythmischen Stücke ausgeschnitten und sie auf dem Computer ausgearbeitet. Danach habe ich auf diese Rhythmen irgendetwas draufgespielt, andere „Feldaufnahmen“ hinzugefügt. Und so ist es wie von allein passiert, dass Collagen dabei herauskamen, die sich zu meinem ersten Album zusammenfügten: „Lumpen“. Ich habe das Album frei zugänglich ins Internet gestellt, nun – und dann hat es irgendwie ein Echo hervorgerufen bei irgendwelchen Leuten. Naja, und dann habe ich damit weitergemacht.“

Text und Musik von Pawel Madurow
Fotos von Anton Akimow und Pawel Madurow sowie aus dem AwtoWAS-Archiv

Der Katastrophen-Kalender von Nowokusnezk

Nowokusnezk ist die älteste Stadt Sibiriens,  1618 gegründet. Rund eine halbe Million Menschen lebt hier. Als Stadt der Stahl- und Minenarbeiter war Nowokusnezk 1989 eines der Zentren der Aufstände der Minenarbeiter. Heute gibt es in der Stadt zahlreiche Industriegiganten wie zum Beispiel EWRAS  SSMK.  Die wirtschaftliche Entwicklung in den 2000er Jahren brachte Nowokusnezk 2013 den 13. Platz im Forbes-Rating der 30 besten Business-Städte Russlands. Zugleich wurde es 2011 vom Umweltministerium zur viertschmutzigsten Stadt der Russischen Föderation erklärt.

„Nowokusnezk hat seinen eigenen Kalender. Hier wird die Zeit oft in Tragödien gemessen. Die Leute sagen: „Als Uljana in die Luft ging“ oder „nach Raspadskaja“. In der Kette der Ereignisse werden die Namen der Gruben, eingefasst in Trauerrahmen, zu absoluten und objektiven Zeiteinheiten. Ich selbst erinnere mich an diese endlosen Beerdigungen, an Staus aufgrund der Beerdigungsprozessionen, an Kränze, an nasskalten Schnee auf schwarzen Anzügen und den von einem weiteren Unfall verbrannten Gesichtern.
Diese Erinnerungen bilden klare und beinahe greifbare Grenzen, an denen das Vorher endet und das Nachher beginnt.“

„Die Minenarbeiter bilden eine eigene Kaste. Diejenigen, die nicht unter Tage gearbeitet haben, werden nie ganz verstehen, warum dieser Beruf einen Menschen so sehr verändert. Es geht nicht um die von Kohlestaub schwarzen Wimpern (die man schon nicht mehr sauber kriegt), sondern um eine besondere Haltung gegenüber Leben und Tod. Ihre alltägliche Arbeit ist wie Krieg. Welche andere Industrie hat ihren eigenen Orden? Und die Minenarbeiter haben den Orden der Bergmannsehre, drei Grade – Überbleibsel aus einer Zeit, in der die Bedeutung eines Lebens an seinen Heldentaten – den eingebrachten Tonnen Kohle und der Dienstlänge – gemessen werden konnte. Heute haben wir nur noch ökonomische Einheiten dafür. Vielleicht ist es auch gut, dass Arbeit heute nur noch Arbeit ist. Aber außer Geld, es ist mittlerweile im Übrigen wenig Geld, braucht man doch noch etwas anderes.“

Text und Fotos von Ilja Pilipenko

Das Gemeindezentrum in Gawrilow-Jam

Gawrilow-Jam liegt in der Oblast Jaroslawl. Heute ist einer der wichtigsten Arbeitgeber die Maschinenfabrik OAO Agat und das Leinenkombinat Gawrilow-Jam, das schon in den 1870er Jahren von dem Händler Alexander Lokalow gegründet wurde. Heute ist es die einzige Fabrik in Russland, die Leinwände für Künstler produziert. Gawrilow-Jam ist Teil des Goldenen Rings um Moskau, der auch unter Touristen sehr beliebt ist.

„In jeder russischen Stadt gibt es einen Kulturpalast. Im Grunde garantiert seine Existenz den Stadtstatus des Ortes. Es geht weniger um eine Verwaltungseinheit als vielmehr um die Selbstwahrnehmung der Menschen als Stadtbewohner.“ 

„Es muss einen Ort geben, an dem sich dem Menschen die große Welt auftut – deren Vorahnung ihm nach der Schule grundlegend verloren geht. Einen Ort, wo ein Stadtbewohner sich mit etwas beschäftigt, was über Job, Familie und Haushalt hinausgeht. Mit dem, wofür er sich immer begeistert hat, „ja, irgendwie hat es nie geklappt“. Und hier ist er dabei nicht allein, sondern mit seinesgleichen, mit Landsleuten. Und Zuschauer zu sein reicht völlig.“

Text von Sina Owetschkina, Fotos von Alexander Solo

Glasow, die unwirkliche Stadt

Glasow liegt im Norden der Teilrepublik Udmurtien. Die Lage, fernab von Moskau und Sankt Petersburg, auf dem Weg nach Sibirien, bestimmte auch die Geschichte der Stadt: Im 19. Jahrhundert wurde Glasow als Verbannungsort genutzt; unter anderem lebte hier der russische Schriftsteller Wladimir Korolenko im politischen Exil. Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs wurden viele der ansässigen Betriebe und Fabriken evakuiert. Heute ist der Betrieb Tschepezki Mechanitscheski Sawod Hauptarbeitgeber der Stadt. Er ist Mitglied der Föderalen Agentur für Atomenergie Russlands und produziert unter anderem Uranium, Zirconium und Kalzium-Metalle für Atomkraftwerke, das Militär sowie für Raumfahrtstechnologien.

„‚Unwirklich‘ zu sein ist das Geburtstrauma dieser Stadt. Der verbannte Korolenko gab Glasow einst diesen Beinamen und, wie es traurigerweise mit beleidigenden Spitznamen oft passiert, setzte er sich durch. Mittlerweile ist die Pädagogische Hochschule, an der ich früher studiert habe, nach Korolenko benannt und die lokalen Historiker und alle anderen, denen es nicht gleichgültig ist, suchen nach der ‚Glasowschen Wirklichkeit‘.

Unwirklich liegt die Brachfläche da, wo ich das erste Mal versucht habe zu rauchen, das Einkaufszentrum Passage mit einer Glaskuppel, glatt polierten Böden und einem Springbrunnen in der Mitte.
Unwirklich steht auf dem Platz der Freiheit, an dem Ort, wo 1962 die Verklärungskathedrale gesprengt wurde, heute eine neugebaute Kathedrale aus rotem Backstein mit einem strengen jungen Pfarrer. Auf dem Vorplatz der Kathedrale stehen eine Stele und ein Ewiges Licht.
Unwirklich ein Flugzeug, ein Hubschrauber und eine Flugabwehrrakete am Standort der örtlichen DOSAAF. Langsam rosten sie auf ihren metallenen Sockeln.

Wenn man das ‚un‘ weglässt, ist von dem ‚wirklich‘ nicht viel übrig. Nun ja, es gibt eine Fabrik, wo sich rund um Uran-Produktionshallen die Apfelbäume unter schweren Äpfeln biegen. Und in dem verlassenen Luftschutzbunker, gleich hinter der Betriebsverwaltung, stehen die gepanzerten Türen weit auf, kein einziges Graffiti ist da drinnen.“

Text und Fotos von Anton Sokolow

Das Wörterbuch von Pikaljowo

Pikaljowo ist eine Kleinstadt in der Oblast Leningrad, etwa 192 Kilometer von Sankt Petersburg entfernt. Die wichtigsten Arbeitgeber sind die Unternehmen Basel Zement-Pikaljowo und Pikalewski Zement. Die Stadt litt stark unter der Wirtschaftskrise in den 1990ern und 2000ern. Öffentliche Bekanntheit erlangte sie 2009, als etwa 300 Arbeiter die Autobahn nach Sankt Petersburg blockierten, um die Auszahlung ihrer Löhne einzufordern. Wladimir Putin persönlich flog daraufhin nach Pikaljowo und forderte den Inhaber der städtischen Unternehmen, Oleg Deripaska, dazu auf, die Löhne auszuzahlen.
„Jeder Lebensraum, jede Stadt hat neben ihrer besonderen Landschaft und Architektur auch ihren eigenen Wortschatz, der nicht nur aus lokalen Ausdrücken und Redewendungen besteht, sondern auch aus ganz gewöhnlichen Worten, die aber an diesem Ort nicht genau das Gleiche bedeuten wie anderswo. Stellt man sich die Stadt als ein Wörterbuch vor, fällt das Verständnis für das Leben an diesem Ort leichter.“

Die Fabrik 

„Das Wort ist hier fast ein Synonym zum Wort ‚Stadt‘. ‚Ohne die Fabrik keine Stadt‘, so sagt man hier. Fabrik reimt sich auch mit dem Wort ‚Betrieb‘, sodass man sich bei schlechter Lage im Betrieb auch persönlich schlecht fühlt. Und wirklich: Sowohl das Krankenhaus als auch der Kulturpalast – riesig selbst im Vergleich zu den örtlichen Brachflächen – und vieles mehr wurden in Zeiten gebaut, als das Unternehmen florierte. Die Nostalgie nach diesen Zeiten könnte man zusammen mit der Tonerde aus Pikaljowo exportieren. Der Vorrat wird lange reichen.“

Putin

„An diesen Namen denkt man sofort, wenn man den Namen dieser Stadt hört, noch bevor man herkommt. Im Kopf kreiseln die fröhlichen Zeilen: ‚Putin jedet w Pikaljowo. Putin sdelajet nam kljowo.‘(dt. etwa ‚Nach Pikaljowo kommt der Putin, voll cool ist es mit ihm‘). Aber das Bild, das hinter diesem Namen steht, unterscheidet sich hier etwas von dem heiteren Bild, das der Bevölkerung in den staatlichen TV-Kanälen dargeboten wird. Und noch mehr unterscheidet es sich von dem Bild, welches in einem beliebigen kritischen Kopf entsteht. Putin ist hier eine fast mythische Gestalt, die mit ihrem einmaligen Erscheinen alle Probleme löst. Eine Art Ritter, der, einmal eingedrungen in die kleine, allen Bewohnern bekannte Welt, ohne eine andere Welt anzudeuten, den Drachen tötet und dann wieder in den Kreml im Fernseher verschwindet. 
Natürlich werden solche Hoffnungen nicht nur in Pikaljowo mit dem Namen Putins verbunden, aber in dieser Stadt ist die Hoffnung auf Putin stärker, weil sie ihn hier wirklich gesehen haben.“

Text von Sina Owetschkina, Zeichnungen von Wladimir Gawrilin

Das Wasserkraftwerk in Porogi

Das Wasserkraftwerk Porogi ist das älteste kontinuierlich betriebene Wasserkraftwerk Russlands. Es befindet sich am Fluss Bolschaja Satka, unweit der gleichnamigen Siedlung Porogi in der Oblast Tscheljabinsk. Das Kraftwerk wurde 1910 in Betrieb genommen und versorgte sowohl die Stadt als auch das naheliegende Hotel mit Strom. 2017 wurde es wegen fehlender Gelder eingestellt. Fotos und Text sind aus dem Jahr 2013.

„Draußen das immerwährende Tosen des Wassers, das den Damm hinabrauscht. Drinnen das Dröhnen der Generatoren, das ebenfalls ewig erscheint. Das Wasserkraftwerk Porogi [dt: „Stromschnnellen“] am Fluss Satka, 42 Kilometer von der gleichnamigen Stadt entfernt, ist das älteste, noch betriebene Wasserkraftwerk Russlands.
Das Kraftwerk wurde 1910 in Betrieb genommen – zusammen mit der ersten russischen Fabrik für elektrische Eisenlegierungen, die auch Energie lieferte. Der Name des Fabrikkomplexes und des Dorfes stammt von den Steinstromschnellen im Flussbett, die nun in dem Dammteich verborgen sind.“

Im Maschinenraum lauschen die Turbinenarbeiter rund um die Uhr dem Lärm des Wassers und der Generatoren. Bei meinem Besuch während Alexanders Schicht sitzen wir im Nebenraum und trinken Tee. Immer wieder schaut er automatisch auf die Anzeige des Strommessgeräts. Sobald sie von der Norm abweicht, geht Alexander in den Maschinenraum und korrigiert etwas. 
Ich merke bald, dass ich nicht anders kann, als seinem Beispiel zu folgen und den Strommesser ebenfalls im Blick zu behalten. Sobald man seinen warnenden Zeiger vergisst, hat es den Anschein, als arbeiteten die Maschinen ganz von allein – und brauchten gar keinen Menschen.

An den Wänden des Nebenraums eröffnet sich ein paradiesisches Leben. Üppige Frauen, von unbekannter Hand gemalt, schauen dich an wie aus einer anderen Welt. Es gab eine Zeit, in der man hier eine echte Banja betrieb, sodass die Körper der Schönheiten von der  Feuchtigkeit rissig geworden sind.

Text und Fotos von Ekaterina Tolkacheva

Der Fluch von Karabasch

Karabasch ist eine Stadt im südlichen Ural, 90 Kilometer von Tscheljabinsk entfernt. Der stadtbildende Betrieb ist Karabaschmed, eine der größten Kupferhütten Russlands, die in der Region verheerende Umweltprobleme verursachte. So verlor der nahegelegene Berg Karabasch durch den anhaltenden sauren Regen jegliche Vegetation. Die Ernennung zur „schmutzigsten Stadt der Welt nach Angaben der UNESCO“ brachte Karabasch internationale Bekanntheit ein.


„Die Gespräche mit den Anwohnern drehen sich im Kreis, von Anfragen wie ‚Bitte, schreiben sie etwas Gutes über Karabasch‘ bis hin zu verzweifelten Beschwerden über den hilflosen Bürgermeister, den seelenlosen Betrieb, die Nachbarn, die ihren Müll nicht entsorgen, und dann wieder zurück zu den Bitten, etwas Gutes zu schreiben. Die Bürger ersuchen den Präsidenten regelmäßig um einen Emissionsstopp des Schwefeldioxids von Karabaschmed. Diese Appelle drehen sich im Kreis. Jedes Jahr bewirtschaften die Einwohner Karabaschs ihre Gärten, bis der saure Regen im Juli die Ernte zerstört und die Fabrikleiter eine neue Entschädigung zahlen. Dieses ewige Laufen im Kreis hält einen in Bann wie die Bewegung eines Karussells.“

„Vor dem Hintergrund dieses Bildes wirkt das Gefühl von Liebe besonders stark und irrational. Liebe zu seiner kleinen Heimat, zur persönlichen Vergangenheit, eng verknüpft mit der Stadt, dem Beruf, den Angehörigen – all dem bin ich begegnet, als ich mit Menschen auf der Straße gesprochen habe, im Schulmuseum, am Eingang zur Fabrik, auf einem abendlichen Klassentreffen und bei Stadtfesten. Liebe hat hier keine konstruktive Funktion und ändert nichts, aber dank ihr gibt es die Stadt noch.“

Text und Fotos von Ekaterina Tolkacheva

Übersetzung: Peregrina Walter
Erschienen am 23.11.2018

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