1. Advent: Sorokin, aber nicht Vladimir

Advent, Advent auf dekoder: Jeden Adventssonntag zünden wir hier zwar kein Kerzchen an, aber Gnosisten und Klubmitglieder geben ausgesuchte Geschenke-, Lese- oder einfach Kulturtipps. Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, … ihr wisst schon!

Pitirim Sorokin hat von 1889 bis 1968 gelebt und ist nicht zu verwechseln mit dem Gegenwartsautor Vladimir Sorokin. Pitirim Sorokin fasziniert mich seit langer Zeit. Ich war auf ihn gestoßen, weil er sich als Soziologe nicht mit den Ursachen, sondern mit den Folgen der Russischen Revolution befasst hatte. 1922 erschien sein Bericht Der aktuelle Zustand Russlands auf Russisch in Prag. Sorokin untersucht darin verschiedene Faktoren vom durchschnittlichen Gewicht der Neugeborenen bis hin zu Sterblichkeitsraten, um den Niedergang des gesellschaftlichen Lebens im bolschewistischen Russland zu dokumentieren. Seine Forschungsmethoden waren sehr innovativ, sein Buch erschien in der Folge auch in den USA und in Deutschland. Allerdings blieb Sorokin in seinen Erklärungen seiner Zeit verhaftet: Die Oktoberrevolution deutete er in einer organischen Metaphorik als Krankheit des gesellschaftlichen Körpers.

Foto © WikimediaUnd doch ist Pitirim Sorokin heute spannend und sehr aktuell – vor allem wegen seiner Deutungsansätze in anderen Schriften: So schrieb er über Wahrheitssysteme und medial vermittelte Informationen (The Crisis of Our Age, 1941), er forderte eine neue gesellschaftliche Solidarität nach der globalen Krise (The Reconstruction of Humanity, 1948) und unterstrich die Wichtigkeit von altruistischer Liebe (Altruistic Love: A Study of American Good Neighbors and Christian Saints, 1950).

Außerdem durchlebte Sorokin eine ebenso abenteuerliche wie erfolgreiche Biographie. Er wurde im äußersten Norden Russlands als Sohn eines russischen Vaters und einer Komi-Mutter geboren. Nach einer Gymnasialausbildung in einem orthodoxen Lehrerseminar studierte er an der Petersburger Universität eine Reihe von Fächern von Recht über Psychologie bis zu Geschichte. Besonders interessierte ihn die Soziologie, also eine damals noch sehr junge Disziplin, die erst 1908 mit persönlicher Zustimmung von Zar Nikolaus II. in den akademischen Fächerkanon aufgenommen wurde. Auch politisch engagierte er sich und geriet dabei zwischen alle Fronten: Er stand den Sozialrevolutionären nahe und wurde dreimal vor und dreimal nach der Oktoberrevolution verhaftet. Er entging 1918 sogar einer Verurteilung zum Tode. 1922 musste er Russland verlassen. Nach einem kurzen Aufenthalt im „russischen Oxford“, wie Prag damals genannt wurde, bekam er eine Einladung in die USA. Dort war er zunächst Professor in Minnesota, ehe er 1930 nach Harvard berufen wurde, um dort das soziologische Institut zu gründen.

Trotz seines umfassenden Werks, das in der dreibändigen Untersuchung Social and Cultural Dynamics (1937) gipfelt, ist Sorokin heute weitgehend vergessen. Umso mehr habe ich mich gefreut, dass die italienische Soziologin Emiliana Mangone ein kurzes Buch mit dem Titel Social and Cultural Dynamics. Revisiting the Work of Pitirim A. Sorokin veröffentlicht hat. Ich empfehle es allen LeserInnen und Lesern zur (Wieder-)Entdeckung des Schaffens von Pitirim Sorokin.


Mangone, Emiliana (2018): Social and Cultural Dynamics. Revisiting the Work of Pitirim A. Sorokin, Cham: Springer

 

 

 


Ulrich Schmid ist dekoder-Klub-Mitglied, Gnosenautor und Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen (Schweiz). Der Fokus seiner Forschung liegt auf Politik und Medien in Russland und Nationalismus in Osteuropa.

 

 

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