„Wem nützt das, wenn sie den Alten das Geld wegnehmen?“

Vor zehn Jahren entstand in Pensa das Projekt Deti woiny (dt. Kriegskinder) für Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs Kinder waren. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind mittlerweile alle über 80 Jahre alt. Sie sind zusammen verreist, haben Cafés nach Seniorentauglichkeit bewertet, bunte Abende organisiert und gemeinsam gelernt, mit digitalen Medien umzugehen. All das wurde von der deutschen Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft finanziert, die gegründet wurde, um Opfer des Nationalsozialismus zu unterstützen und Projekte zur Völkerverständigung zu fördern. Ein neues Gesetz aus dem Sommer 2023 macht eine weitere Förderung aus dem Ausland praktisch unmöglich. Den Kriegskindern geht das Geld aus. Die Journalistin Vika Solkina berichtet für The New Tab, wie die Rentner leben, denen der eine Staat die Kindheit gestohlen hat und denen jetzt der andere – der eigene – ein würdiges Altern vereitelt.

Pusteblumen und Brausewinde

Foto © thenewtab.io

„Ha, der Löwe! Soll ich vor dem etwa Angst haben? Den fress ich gleich selber auf! Her mit ihm! Ich werd es ihm heimzahlen!“, deklamiert mit lauter, drohender Stimme eine grauhaarige Frau im Hasenkostüm. 

Zusammen mit drei anderen als Tiere verkleideten Rentnerinnen spielt sie eine Szene nach einem Gedicht von Sergej Michalkow. Den Erzähltext liest ein Mann fortgeschrittenen Alters in strengem Anzug und Krawatte – auch er trägt deutlich und ausdrucksstark vor. Das ist das Team Nepossedy (dt. Brausewinde). Am Nebentisch sitzen die Oduwantschiki (dt. Pusteblumen) — sie haben selbst gedichtet. Als sie an der Reihe sind, stellen sie sich im Halbkreis vor den Tisch, reichen das Mikrofon von Hand zu Hand und sagen auf: „Wir haben es gut, wir sind nicht vergessen. Wir schaffen alles, die Türen stehen uns offen. Kommt, lasst uns lieben, genießen und leben!“

 

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Im Publikum sitzen ein paar Dutzend Leute. Sowohl Zuschauer als auch Auftretende sind Teilnehmer des Projekts Deti woiny. Sie nennen sich weiterhin so, obwohl ihr Verein mit diesem Namen im Sommer 2023 aufgelöst wurde. Die Kriegskinder wurden vor zehn Jahren in Pensa gegründet und waren immer im Rahmen der gemeinnützigen Stiftung Grashdanski sojus (dt. Bürgerverein) aktiv. Jetzt hat sie eine andere lokale Stiftung unter die Fittiche genommen – Ljudi.Idei (dt. Menschen.Ideen) und ein neues Projekt gestartet – Aktiv im Alter 80+. Diese Namen sind den Rentnern aber egal: Für sie geht es um das Beisammensein.    

Die Teilnehmer haben sich dem Projekt zu unterschiedlichen Zeiten angeschlossen. Anfangs war ihre einzige Gemeinsamkeit das Alter – in den Jahren des Großen Vaterländischen Kriegs, also im Zweiten Weltkrieg, waren sie alle Kinder. Mit der Zeit wurden die Gemeinsamkeiten mehr: kreative Betätigung, Treffen im Café, Auftritte bei Veranstaltungen. Heute umfasst der Verein 1700 Menschen aus der ganzen Region, 700 von ihnen leben in Pensa.

 

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In einem kleinen Saal der Stadtbibliothek feiern die Kriegskinder das zehnjährige Jubiläum ihres Vereins. Auf einem Bildschirm werden Fotos gezeigt — anhand der Bilder erinnern sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, in welchen Städten sie gemeinsam waren. Der Bildschirm der Bibliothek ist nicht groß, daher stehen die Omas und Opas von ihren Plätzen auf, gehen ganz nah ran, zeigen auf die Fotos, beraten sich und diskutieren leise. Jemand erkennt auf einem Foto ihren Ausflug ins kulturhistorische Zentrum Kuwaka in einem Dorf bei Pensa, und da, da waren sie in Gattschina. In diesen zehn Jahren waren sie in 13 Bezirken der Oblast Pensa und in vielen anderen Städten. Sie trafen in Samara und Saransk mit den Silver Volunteers und besuchten eine Geriatrie-Konferenz in Tambow.

 

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Das Team Nepossdey beratschlagt sich beim Spiel Was? Wann? Wo? In Pensa gibt es drei Orte, an denen die Omas und Opas willkommen sind: im Haus der Jugend, im Co-Working-Space Klewer (dt. Klee) und im Jugendzentrum Junost (dt. Jugend). In den ersten beiden muss man jedoch über die Treppe in den ersten Stock, und im Junost können sie nicht jederzeit rein – da müssen sie sich an einen Belegungsplan halten.

 

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Nach dem offiziellen Teil beschließt eine achtköpfige Gruppe, das Jubiläum in einem Restaurant ausklingen zu lassen. Die Kriegskinder besuchten im Rahmen der allrussischen Aktion Gütesiegel der Senioren über mehrere Jahre hinweg Cafés, Kinos, Bars und andere Lokale, um ihre Eignung für alte Menschen zu bewerten. Wenn ihnen eine Einrichtung gefiel, dann ließen sie den Betreibern einen speziellen Aufkleber da.

Wir treffen uns, wir lachen zusammen und umarmen uns

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Galina Archangelskaja ist fast auf jeder Veranstaltung der Kriegskinder anzutreffen. Im Projekt ist sie von Beginn an dabei. Sie ist eine leidenschaftliche Organisatorin – viele Ausstellungen mit Kunstwerken der Teilnehmerinnen sind ihr zu verdanken. Sie hat auch die Exponate zum Jubiläum in der Bibliothek gestaltet – die handgemachten Basteleien der Kriegskinder sorgfältig in Glasvitrinen ausgelegt und beschriftet: Perlenschmuck, Stickereien, Bilder.

 

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Die Wohnung von Galina Georgijewna erinnert ein bisschen an ein Museum: Tusche aus sowjetischer Produktion und zwei Parfümfläschchen Krasnaja Moskwa – für Herren und für Damen. „Das war das beste Parfüm des ganzen Landes. Ich war ja eine flotte Frau damals“, erinnert sie sich. Der kleine Teddy aus Kristallglas ist ein Talisman von den Olympischen Spielen in Moskau 1980.

 

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Galina Georgijewna ist 1938 geboren. Sie kann sich gut erinnern, wie sie und ihr Vater auf einem Pferd über die Wiesen galoppierten, als sie plötzlich den Lärm von Flugzeugen über sich hörten. „Diese deutschen Flieger klangen so furchtbar, das ging durch Mark und Bein. Daran denke ich bis heute – wie sie angeflogen kamen! Wir hielten an, mein Vater packte mich, setzte mich in einen Graben und legte sich schützend über mich. Sie warfen dann keine Bomben auf uns ab, aber wir hörten sie pfeifen.“ Ihre Mutter ließ ihre Arbeit im Krankenhaus bleiben und saß mit der Tochter im Haus der Schwiegermutter, die weiterhin als Köchin tätig war und sie durchfüttern konnte. Galina erinnert sich, dass sie damals kaum hinausgingen, nur ein bisschen in den Hof. Einmal kam ein Deutscher zu ihnen nach Hause. „Mama saß da, drückte mich an sich. Er sagte: ‚Kinder, Kinder!‘ und gab mir ein Stück Schokolade. Mama hatte mir beigebracht, von niemandem etwas anzunehmen. Aber da wusste sie nicht, was sie sagen sollte: ‚nimm‘s nicht’ – und er erschießt uns, ‚nimm‘s’ – und er vergiftet dich. Nun, sie hat mich sanft zu ihm hin geschubst. Ich ging und nahm die Schokolade. Er plapperte noch irgendwas – und weg war er. Mama saß da wie zwischen Leben und Tod“, erzählt Galina. „Ich weiß gar nicht mehr, ob ich diese Schokolade gegessen habe oder nicht. Wir saßen da, stumm wie die Fische, klein wie die Mäuschen. Tja, die Deutschen – in Pjatigorsk haben sie nicht so schlimm gewütet.“

Zuhause gehen wir ein

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Klawdija und Wenjamin Krutow sind seit 62 Jahren ein Paar. Manchmal treten sie gemeinsam auf, dann singen sie Duette. Ihre Kindheit im Krieg haben die Krutows unterschiedlich in Erinnerung. Klawdija ist 1942 in Bogdanowitsch geboren, das liegt in der Oblast Swerdlowsk. Das Einzige, woran sie sich deutlich erinnert, ist ihre Mama, wie sie ihnen Brei aus Melden kochte, einem Unkraut. In den Jahren nach dem Krieg  mussten die Kinder im Wald Beeren sammeln, um nicht zu verhungern. Ihre Mutter konnte nicht arbeiten gehen, weil sie den kriegsversehrten Vater pflegen musste. Wenjamin ist älter als seine Frau und hat mehr Erinnerungen an seine Kindheit im Krieg. Eine der prägendsten: Als sein Vater, Mechaniker von Beruf, mit dem Traktor ein abgeschossenes sowjetisches Kampfflugzeug anschleppte und die Piloten ein paar Tage bei ihnen zu Hause wohnten.

 

Hinter den Kulissen des Senioren-Festivals „Meine Jahre sind mein Reichtum“ / Foto © thenewtab.io

Auflösen lassen wir uns nicht. Wir gehören hierher!

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Seniorentag im Jugendzentrum – die Teilnehmerinnen und Teilnehmer tanzen. Im August 2023 wurde in Russland ein Gesetz beschlossen, dass die Zusammenarbeit mit gemeinnützigen Organisationen aus dem Ausland unter Strafe stellt, sofern diese nicht beim Justizministerium der Russischen Föderation registriert sind. Diese Gesetzesänderung hat dem Projekt das Geld abgedreht: Grashdanski sojus bekam jährlich für Deti woiny einen Zuschuss der deutschen Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, die ein eigenes Programm zur Unterstützung von Überlebenden des Nationalsozialismus in Russland und Belarus finanzierte. 

Die Deutschen haben jedes Jahr 15.000 bis 20.000 Euro überwiesen, erzählt Oleg Scharipkow, der Direktor von Grashdanski sojus. Damit zahlten sie nicht nur die gemeinsamen Aktivitäten, sondern auch Gehälter für angestellte Fachkräfte des Projekts in der Freiwilligen-Koordination, der psychologischen und geriatrischen Betreuung, in der Buchhaltung und in der Leitung. Scharipkow zufolge kamen die Beschränkungen auch für die deutsche Stiftung unerwartet, doch sei man dort zur weiteren Zusammenarbeit bereit, sobald sich eine Möglichkeit bietet. „Sie dürfen uns ja finanzieren – aber wir bekommen dann eins auf den Deckel“, erklärt er.

Die Projektteilnehmerin Galina Archangelskaja erzählt, wie die Deti woiny zu allen Verhandlungen gegangen sind, in denen Scharipkow und seine Organisation Grashdanki sojus die Einstufung als „ausländischer Agent“ anfochten. Aber „sie haben uns gar nicht zu Wort kommen lassen, um etwas zu seiner Verteidigung zu sagen“.

 „Was soll Oleg Scharipkow denn für ein ,ausländischer Agent‘ sein? Er hat so viel Gutes getan. Wie soll er denn das Projekt sonst finanzieren?“, ärgert sie sich. 

Obwohl es sie betrübt, dass die deutsche Stiftung die Kriegskinder nicht mehr finanzieren kann, bleibt sie optimistisch: „Irgendwas wird uns schon einfallen. Nein, auflösen lassen wir uns nicht: Wir gehören hierher!“ Dem Projekt schließen sich immer noch neue Teilnehmer an – weniger als früher, aber trotzdem kommen sie regelmäßig. 

Jetzt wird das Projekt von zwei gemeinnützigen Organisationen unterstützt – von Ljudi.Idei und der Regionalabteilung des Rossiiski fond mira. 2023 konnte Ljudi.Ideii dank einer staatlichen Förderung das neue Projekt Aktiv im Alter 80+ beginnen, doch die Mittel reichen nur bis zum Jahreswechsel. 

Einige Projektteilnehmer haben allerdings schon geäußert, dass sie auch auf eigene Kosten reisen würden. Die Kuratorin Olga Leschtschenko hält diesen Enthusiasmus für das Verdienst der Psychologin, die regelmäßig Sitzungen anbot und immer sagte, man müsse „hier und jetzt leben“.

 

Die Teilnehmerinnen bereiten sich auf ihren Auftritt vor / Foto © thenewtab.io

„Sie sind viel eher bereit, Geld für sich selbst auzugeben. Wenn es was zu feiern gibt, hatten wir früher Geld von Sponsoren, und jetzt sagen sie: Da legen wir doch zusammen und gehen ins Café“, erzählt die Kuratorin, räumt aber ein, dass wegen geringer Renten nicht alle ihre Rechnungen bezahlen können.

Und die Psychologin kann sich das Projekt jetzt nicht mehr leisten, das gleiche gilt für die Gerontologin. Olga Leschtschenko ist zuversichtlich: „Bis Dezember haben wir alles im Griff, erst dann wissen wir nicht, wie es weitergeht. Aber unsere Treffen werden wir fortführen.“

 

„Ihr friedliebenden Menschen, bewahrt den Frieden, bewahrt den Frieden, bewahrt unsere Erde!“ / Foto © thenewtab.io

Oleg Scharipkow von Grashdanski sojus ist nicht ganz so versöhnlich eingestellt: Er kann es nicht fassen, warum der russische Staat, der „Menschen wie diesen keinen Rubel aus der Staatskasse gezahlt hat“, mit seinen Schützlingen so umgeht. 

Die Staatsduma hat mehrere Gesetzesentwürfe zur Etablierung des Status „Kind des Kriegs“ und dementsprechender Unterstützung dieser Personengruppe abgewiesen. Einer davon wurde 2007 eingebracht, doch die Abgeordneten stimmten dagegen. 2019 wurde ein ähnlicher Entwurf erneut abgelehnt.

„Diese Omas sind nirgends registriert“, erklärt Scharipkow. „Das Fördergeld hat es ihnen möglich gemacht, dass sie mal ins Kino gehen und dergleichen. Natürlich haben sie nichts direkt ausbezahlt bekommen, aber wenn man es durchrechnet, war das eine schöne Aufbesserung der Rente. Tja, das ist jetzt vorbei. Sie haben diesen Omas das Geld aus der Tasche gezogen. Wozu?“

 

Als gemeinnütziges Medium bekommt dekoder Unterstützung von unterschiedlichen Geldgebern. Die Stiftung EVZ hat unter anderem das Dossier über die sogenannten „Ostarbeiter“ finanziert.

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