Märtyrer der Wahrheit

Was steckt wirklich hinter Covid-19? Und: Wer profitiert davon? Die vielen Unsicherheiten in der Corona-Pandemie bilden offenbar einen idealen Nährboden für allerlei abenteuerliche Spekulationen, die derzeit weltweit wie Pilze aus dem Boden schießen.

Auch russische Staatsmedien wittern immer wieder finstere Machenschaften. Besondere Aufmerksamkeit erlangte jüngst der oscarprämierte Regisseur Nikita Michalkow mit einem Beitrag über Bill Gates. Auf Vedomosti kommentiert Publizist Ilja Klischin den bizarren Vorfall und die Rolle der staatlichen Informationspolitik dabei.

Vor einigen Tagen wurde ein recht ungewöhnlicher Fall von „Zensur“ bekannt, dessen Opfer Nikita Michalkow geworden ist. Der bekannte Regisseur beschuldigte auf seinem YouTube-Kanal den Fernsehsender Rossija 24, die Ausstrahlung seiner Sendung Besogon TV zu verweigern. In der fraglichen Ausgabe wird unter anderem gesagt, Bill Gates plane unter dem Deckmantel eines Corona-Impfstoffs Milliarden von Menschen Chips einzupflanzen, um sie kontrollieren zu können.

Diese Chip-Geschichte war bereits Mitte März als Fake-News im amerikanischen Internet aufgetaucht und daraufhin von großen westlichen Medien gründlich untersucht worden (so hat zum Beispiel die Agentur Reuters im April der Entlarvung dieses Mythos einen großen Fakten-Check gewidmet). In den USA lief die Verbreitung vor allem über konservative Publizisten und Kommentatoren sowie über Aktivisten der sogenannten Impfgegnerbewegung.

Unterstützer für den „Märtyrer der Wahrheit“

Die Rede ist also von einem mehrere Monate alten, bereits mehrfach widerlegten amerikanischen Fake, den Nikita Michalkow aus dritter Hand nacherzählt. Und schaut man noch genauer hin, so stellt sich heraus, dass die böse „Zensur“ darin besteht, dass die Sendung zwar am 1. Mai ausgestrahlt wurde – zwei Mal –, die Wiederholungen am 2. und 3. Mai jedoch nicht.

Das Entscheidende ist hierbei aber nicht so sehr, dass Michalkow ein empörtes Videostatement aufgenommen hat (das ist eher eine Frage seines Verhältnisses zu Rossija 24), sondern auf welche Resonanz es gestoßen ist: Klammert man die sozialen Netzwerke der Moskauer und Sankt Petersburger Intelligenz aus, die erwartungsgemäß mit Chipping-Witzen und -Memes reagierten, zeigt sich da ein reales und einigermaßen beängstigendes Bild massenweiser Unterstützung für den „Märtyrer der Wahrheit“.

Michalkows sechsminütige Videobotschaft brachte es auf über zwei Millionen Klicks, die Zahl der Likes (110.000) übersteigt die Dislikes um mehr als das Dreifache, und von den 23.000 in ihrer Mehrheit mitfühlenden Kommentaren will ich gar nicht erst sprechen.

Das ist ein äußerst alarmierendes Signal.

Menschen sollen an Richtigkeit konventioneller Lesarten zweifeln 

Seit vielen Jahren greift das System der hybriden russischen Propaganda, das neben staatlichen Massenmedien auch Trollfabriken, Fake-News-Seiten und Ähnliches umfasst. Es weicht in der Wahrnehmung der Zuschauer konsequent und beharrlich die Grenzen des Normalen auf.
Unverhohlener Unsinn über paranormale Erscheinungen, Außerirdische, Hellseher und andere „geheimnisvolle Phänomene“, desweiteren „Enthüllungen“ aller Arten von Verschwörungen gegen Russland und seine Bevölkerung füllen den Informationsraum und führen die Leser beziehungsweise Zuschauer in die Irre. Das Ziel dieses Informationslärms ist nicht, dass die Leute ihn für wahr halten, sondern sie an der Richtigkeit konventioneller Lesarten zweifeln zu lassen.

Zu diesem Zweck wurden massenhaft zynische Menschen angeworben, die bereit sind zu schreiben, was man von ihnen verlangt. Und, wie allmählich klar wird, nicht nur sie, sondern auch solche, die aufrichtig an diesen Mist glauben oder mit der Zeit zu glauben begonnen haben. Mehr noch, es hat sich eine ganze Gemeinde um sie herum versammelt. Und erst jetzt, in Zeiten der schweren durch die Pandemie verursachten Krise, wird das ganze Ausmaß der Situation deutlich erkennbar.

Wohin mit den Verschwörungstheoretikern, wenn die Staatspropaganda zerbricht?

Wie sich herausstellt, bleiben viele Verschwörungstheoretiker und Konspirologen, die im Auftrag des Staates handeln, auch ohne einen Auftrag Konspirologen – und wenn man sie nicht sendet, fangen sie an sich zu beschweren. Es ist offensichtlich, dass sie mehr Schaden anrichten, als dass sie nützen. Es ist offensichtlich, dass man nicht weiß, wie man mit ihnen umgehen soll. Denn das System der Staatspropaganda wird irgendwann auseinanderbrechen, doch die Verschwörungstheoretiker, die werden bleiben.

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