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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Lehrerinnen fürs Ende der Welt

    Lehrerinnen fürs Ende der Welt

    Russlands Dörfer verlieren ihre Bewohner. Wie anderswo auch, bieten die großen Städte oft mehr Jobs und Perspektiven – hier begünstigt dadurch, dass die Sowjetunion die Verstädterung einst massiv vorangetrieben hat. Russland ist mit offiziell rund 146 Millionen Einwohnern ohnehin dünn besiedelt. Es gibt Versuche, die Trends umzukehren: Gerade hat die russische Regierung etwa ein Programm gestartet, das mit geschenktem Grundbesitz in den Fernen Osten locken soll.

    Was macht den Orten fernab der großen Städte zu schaffen? Unter welchen Bedingungen leben die Menschen dort? Und was tun, wenn qualifizierte Fachkräfte für die elementarsten Dinge fehlen? Zum Beispiel Pädagogen. Anna Bessarabowa hat für die Novaya Gazeta ganz besondere Lehrerinnen in der sibirischen Taiga begleitet: Das lokale Projekt Mobile Pädagogen soll die Dorfschulen retten.

    Reportage aus verschneiten Winkeln, wo der Schulweg auch mal ein Trampelpfad übers Eis ist. 

    „Wir bummeln durchs Dorf und warten bis die Schule aus ist, um mit dem Bus zurückzufahren, der die Kinder nach Hause bringt.“ / Fotos © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    „Wir bummeln durchs Dorf und warten bis die Schule aus ist, um mit dem Bus zurückzufahren, der die Kinder nach Hause bringt.“ / Fotos © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Im sibirischen Parabel ist es schon 10 Uhr abends, in Moskau erst 18 Uhr. Draußen ist es dunkel und kalt, 36 Grad unter Null. Blinzelst du, verkleben dir die Wimpern vor Kälte. Atmest du, frieren weiße Muster auf den Brillengläsern. Redest du, kommt es dir vor, als würdest du Plombir-Sahneeis in ganzen Stücken hinunterschlingen.

    Mascha eilt voran wie ein Eisbrecher, wir laufen wie die Pinguine hinterher, um mitzuhalten. Maria Alexejewna Jurjewa, wie sie mit vollem Namen heißt, eine hübsche 24-Jährige, ist nach ihrem Biologie-Studium in Tomsk aufs Dorf zurückgekehrt. Tagsüber erklärt sie Achtklässlern den Körperbau verschiedener Lebewesen, abends stemmt sie mit ihrer Freundin, einer Erzieherin, Gewichte. Mittwochs fahren Mascha und noch zwei Lehrerinnen, die „Engländerin“ und die „Chemikerin“, wie man sie hier nennt, in verschiedene Dorfschulen. Seit September arbeiten sie in dem lokal angelegten Projekt Mobile Pädagogen mit und unterrichten in den abgelegensten Ecken des Bezirks Tomsk.

    Tagsüber erklärt Mascha Achtklässlern den Körperbau verschiedener Lebewesen, abends stemmt sie Gewichte
    Tagsüber erklärt Mascha Achtklässlern den Körperbau verschiedener Lebewesen, abends stemmt sie Gewichte

    In der Siedlung Parabel wohnt man Haus an Haus mit Erdgas- und Erdölarbeitern. Das bringt hohe Mieten und teure Lebensmittel mit sich, denn die Preise richten sich nach den Löhnen dieser Arbeiter. Und so träumen alle Einheimischen, die im öffentlichen Dienst arbeiten, davon, dass ihre Kinder einmal eine Ausbildung im Erdgas- und Erdölbereich machen werden. In den Dorfschulen aber fehlen Fachlehrer. Die Schulverwaltung von Parabel hat einen Ausweg gefunden. Man kaufte ein neues Auto, einen Chevrolet Niva, rekrutierte eine Gruppe von „Wanderlehrern“ und bringt sie nun bei jedem Wetter in gottverlassene Dörfer.

    Morgen fahren wir zusammen mit Mascha nach Stariza. Sie ist gar nicht begeistert: Die Meteorologen haben 40 Grad Frost vorhergesagt. Der Weg in die Taiga ist menschenleer, es gibt keinen Empfang. Wie kommen wir da raus, wenn das Auto steckenbleibt?

    Du gehst aufs Plumpsklo und weißt nicht, ob du lebend zurückkommst. Ich brauche keine Abenteuer in Eis und Schnee, sondern Zeit, um meine Wohnung zu renovieren

    „Außerdem müssen wir über den Fluss fahren. Letzte Woche sind wir zu Fuß, ohne Auto rüber“, erinnert sich Mascha. „Unter den Füßen hat es gegluckst und geschmatzt. Da habe ich mich erschrocken. Aber der Fahrer hat den Trampelpfad übers Eis geprüft und gesagt: ‚Mädels, geht nur, bei euch hält das Eis.‘ Jetzt ist natürlich alles richtig gefroren, aber wenn wir doch mal steckenbleiben? Dort ist Wald, es gibt Bären. Die öffnen Autos wie Konservendosen.“ 
    „Das ist doch spannend!“, antworten wir und werden mit einem Mal richtig munter.

    Bis Stariza sind es noch 20 bis 25 Kilometer. Draußen ziehen Kiefern und Zedern mit schneebedeckten Wipfeln vorbei
    Bis Stariza sind es noch 20 bis 25 Kilometer. Draußen ziehen Kiefern und Zedern mit schneebedeckten Wipfeln vorbei

    „Ja, echt superspannend“, antwortet Mascha. „Wir haben hier Romantik pur: Du gehst aufs Plumpsklo und weißt nicht, ob du lebend zurückkommst. Ich brauche keine Abenteuer in Eis und Schnee, sondern  Zeit, um meine Wohnung zu renovieren. Die knapse ich mir zwischen den Schulstunden ab. Ich unterrichte in Parabel und Stariza. Da bleibt mir nur ein Tag am Wochenende – der Sonntag. Gut, dass ich nicht noch in der zweiten Schicht am Nachmittag unterrichte, der Nachmittagsunterricht ist überhaupt das reine Armageddon.“

    Mascha nimmt uns mit zu sich nach Hause. Zu ihrer Mietwohnung im ersten Stock einer Holzbaracke führt eine alte Treppe hinauf. Die Küche ist klein. Und das alles kostet sie 7000 Rubel [umgerechnet 115 Euro – dek] im Monat. Anders als andere Fachlehrer, die nach dem Studium aufs Dorf ziehen und dort arbeiten, hat sie keine kostenlose Wohnung und keine Million Rubel [rund 16.000 Euro – dek] Umzugsgeld bekommen – im Gebiet Tomsk gibt es so etwas nicht. Mascha ist nicht aus Geldgründen nach Parabel zurückgekommen, sie ist hier aufgewachsen.

    Wir trinken Tee, sprechen über ihre Eltern, die Nachbarn, die „die Lehrerin mit Gartenkürbis durchfüttern“, über aufgegebene Dörfer und über die „durchgeknallten Schüler in den Städten und die motivierten auf den Dörfern, für die es wichtig ist, sich hochzuarbeiten“. Als wir weg sind, bereitet Mascha ihren Unterricht vor. Morgen hat sie laut Stundenplan sechs Unterrichtsstunden. Sie muss lange vor Sonnenaufgang aufstehen.

    „Letzte Woche sind wir zu Fuß ohne Auto über den Fluss. Unter den Füßen hat es gegluckst und geschmatzt.“
    „Letzte Woche sind wir zu Fuß ohne Auto über den Fluss. Unter den Füßen hat es gegluckst und geschmatzt.“

    Bis Stariza sind es noch 20 bis 25 Kilometer. Der Mond hängt tief über dem Weg, draußen ziehen Kiefern und Zedern mit schneebedeckten Wipfeln vorbei. Die Seitenfenster sind vereist. Alle wollen eigentlich schlafen. Aus irgendeinem Grund denke ich an die neue Bildungsministerin Olga Wassiljewa und an ihre Worte: „Als Lehrer zu arbeiten, ist eine Aufgabe, eine Mission. Heute sind es unsere Kinder, morgen sind sie das Volk“ – und an die Bewohner von Queyras aus Victor Hugos Roman Die Elenden. In dem Roman werden Schulmeister für Dörfer eingestellt, die selbst nicht in der Lage sind, Lehrer zu bezahlen. Und die wandern dann von einem Dorf zum anderen und unterrichten. Bei Hugo erkennt man die mobilen Pädagogen an Hüten mit Gänsefedern. Eine Feder bedeutet, dass sie nur Lesen und Schreiben unterrichten, bei zwei Federn unterrichten sie auch Rechtschreibung und Rechnen, bei drei Federn kommt noch Latein hinzu.

    Unsere Mitfahrerinnen haben keine Federhüte. Mascha trägt Kopfhörer, sie hört Rammstein. Die Chemielehrerin Ljubow Alexejewna Safonowa trägt eine warme Mütze. Unterwegs schaut sie, ob ihr Handy Empfang hat, sie will ihre Tochter anrufen, die in die Schule muss. „Wärm dein Frühstück auf, zieh dich warm genug an.“ Sie sagt, was alle Mütter sagen.

    Ljubow Alexejewna hat drei Kinder, sie hat sie allein großgezogen. Ihr ältester Sohn ist schon erwachsen. Auch ihre Kleinste wird in ein paar Jahren zum Studieren nach Tomsk gehen.

    „Und dann verlasse ich Parabel“, sagt Ljubow Alexejewna noch, „vielleicht. Bis dahin aber fahre ich als mobiler Pädagoge herum … Sehen Sie, hier ist die Stelle, wo wir den Fluss überqueren.“


    Als Erste gehen die Lehrerinnen über den Fluss. Dann schlittern der Fotoreporter und ich hinterher. Der Wagen folgt uns vorsichtig. Das Eis kracht und knackt wie ein gebrochener Zweig, das Auto beschleunigt. „Und wie kommen wir wieder zurück?“, fragen wir am anderen Ufer Fahrer Andrej Knaup.

    „Wir fliegen einfach!“, sagt der und lächelt.

    Den seltenen Familiennamen hat Andrej von seinem Großvater. Der war Opfer der stalinistischen Verfolgungen. Die Gegend war über Jahrzehnte ein Gebiet der Verbannung. Von hier war Josef Stalin im Jahr 1912 geflohen, nachdem er notgedrungen 38 Tage in Sibirien war, und hierhin wurden dann auf seinen Befehl zwischen 1930 und 1936 Tausende von Volksfeinden deportiert. Darunter waren viele Deutsche, Polen, Letten und Esten.

    In Stariza empfängt die Direktorin der Mittelschule Maria Alexejewna Fritz die Wanderlehrerinnen. Während sie sich auf ihren Unterricht vorbereiten, schlendern wir durch die Gänge der Schule und beobachten die Kinder.

    Es hat sich herumgesprochen, dass mit den Lehrerinnen „Moskauer angebraust kommen“, und die Einheimischen haben sich vorbereitet: Die Mädchen sind in den Stiefeln und Pelzmänteln ihrer Mütter zur Schule gekommen, die Lehrerinnen haben sich Festtagskleider angezogen, und im Speisesaal der Schule riecht es nach den selbstgebackenen Piroggen der Schulleiterin. Nur die Jungs kümmern sich nicht um dieses Getümmel, sitzen rum und hören russischen Rap.
    Im Sommer hatte ein junger Chemielehrer an der Schule in Stariza gekündigt. Er war frisch von der Uni gekommen, hatte ein Jahr gearbeitet und konnte dann nicht mehr. Aber wie soll es ohne ihn gehen? Die Kinder brauchen Biologie und Chemie für einen Studienplatz an der Polytechnischen Uni in Tomsk, für ihre Zukunft.

    Was soll man tun, wenn man beispielsweise Erdölspezialist werden möchte, der mehr als 100.000 Rubel [1500 Euro – dek] im Monat verdient? Die Oberstufenschüler wollen das, und ihre Mütter wollen das auch, und so haben sie ein Ultimatum gestellt: „Findet ihr keinen Lehrer, schicken wir unsere Kinder aufs Internat in Tarsk und gehen eben selbst weg von hier.“

    Da unter den Eltern auch hiesige Pädagogen waren, beschloss die Bildungsbehörde von Parabel, dass man lieber auf die Suche nach zwei Fachlehrern geht, als noch mehr Kollegen zu verlieren. Außerdem wurde im Herbst in der Oblast Tomsk ein Projekt gestartet, das den Lehrermangel beheben soll: die Mobilen Pädagogen. In diesem Rahmen bekamen die Bezirke auch Geld für neue Autos. Jetzt kommen die Mobilen Pädagogen den Dorfschulen zu Hilfe, aber spätestens 2025 werden sie die Schulen nicht mehr retten können. Experten prognostizieren, dass dann etwa 1700 Lehrer in der Region fehlen werden.

    Mascha während der Biologiestunde. Sie ist nicht aus Geldgründen nach Parabel zurückgekommen, sie ist hier aufgewachsen
    Mascha während der Biologiestunde. Sie ist nicht aus Geldgründen nach Parabel zurückgekommen, sie ist hier aufgewachsen

    „Bei uns im Dorf gibt es 56 Schüler und 9 Vorschulhühnchen“, erklärt Schulleiterin Maria Alexejewna. „Bei den kleinen Kindern ist es einfacher, aber die älteren müssen das GIA und das EGE ablegen. Ich kann doch keinem Russisch- oder Mathelehrer sagen, er soll Chemieunterricht machen, wobei das Schulleitungen in anderen Gebieten Russlands tun. Aber wir haben uns Fachlehrer gesucht.“

    Den Unterricht der Vorschulkinder hat in Stariza sowieso eine Mitarbeiterin der Dorfverwaltung übernommen, und die Werklehrerin Aljona Tichonowa unterrichtet auch Bildende Kunst und Erdkunde.

    Aljona und ihr Mann Jewgeni Stoljarow, der das Fach Grundlagen der sicheren Lebensführung und Katastrophenschutz unterrichtet, haben zwei kleine Kinder. Um deren Erziehung kümmern sie sich in den Pausen zwischen den Unterrichtsstunden, wenn sie nicht gerade Anwesenheitslisten ausfüllen oder Berichte verfassen: über die Lernentwicklung der Schüler oder die Qualität der eigenen Lehre oder andere Dinge.

    „Wie leben wir? Ein Holzhaus, Kohleofen, das Wasser müssen wir von der Pumpe holen“, so beschreibt Aljona ihren Alltag. „Fürs Wäschewaschen musst du fünf Eimer Wasser ins Haus schleppen, geputzt wird sonntags, dafür braucht es zehn bis fünfzehn. Die Schulleiterin Maria Alexejewna holt ihr Wasser seit fast 30 Jahren von den Nachbarn.

    Mit dem Handyempfang ist es vorbei, seit die Firma Wellcom pleite gemacht hat. Festnetz haben wir auch keins. Das Mobilsignal des Anbieters MTS kommt kaum durch. Von Internet ganz zu schweigen … Die Löhne sind bei uns völlig okay, dank der Zulagen, die man vom Staat für den Dienst in Dörfern und im Norden bekommt, aber in Saus und Braus leben wir nicht.

    Mein Mann jagt und angelt. Ich kümmere mich um Haushalt und Garten. So leben die Lehrer hier. Die Betriebe haben alle zugemacht, der Bus nach Parabel fährt einmal am Tag, aber nur, wenn die Fähre in Betrieb ist. Eine Kranken- und Hebammenstation haben wir noch in Stariza, aber der Sanitäter ist nicht berechtigt, Krankschreibungen vorzunehmen, dafür muss man anderthalb Stunden nach Parabel fahren. Ich will Jewgeni überreden, in die Stadt zu ziehen, wenn unsere Töchter größer sind. Wir haben noch eine Hypothek auf unserem Haus, aber die zahlen wir Schritt für Schritt ab.“

    Pause in Stariza
    Pause in Stariza

    „Die Dörfer sterben aus“, sagt Aljonas Mann Jewgeni und setzt sich neben sie auf die Bank. „In unsere Schule gehen Kinder aus mehreren Dörfern der Umgebung. Dort steht zum Teil die Hälfte der Häuser leer. Im Dorf Ust-Tschusik sind nur drei Familien übriggeblieben. Im Dorf Ossipowo lebt nur noch ein alter Altgläubiger. Das Dorf Nowikowo hängt am Tropf der Hubschrauberplattform für die Erdölarbeiter. Die Leute machen sich auf und davon. Wir leben hier am Ende der Welt.“

    Zum altgläubigen Alten nach Ossipowo fahren wir nicht mehr. Der Ortsvorsteher von Stariza Dawyd Dawydowitsch Fritz erzählt uns, der alte Mann habe im Herbst einen Schock erlitten, als ein Bär in sein Haus gestiegen sei. Der Alte habe sich im Schuppen eingeschlossen und verschanzt. Als das Monster weg war, habe der alte Mann seine Sachen gepackt und sei zu seinem Sohn in die Stadt gezogen. Dawyd Dawydowitsch gesteht ein, dass sich auch er und seine Frau, die Direktorin der Schule, nach Tomsk absetzen wollen: „2017 ist meine Dienstzeit zu Ende, ich gebe das Amt ab, und das war’s. Die Kinder sind erwachsen. Für unsere Rente haben wir genug gearbeitet – Zeit, dass wir uns erholen.“

    Unsere Rente reicht gerade fürs Essen. Mein Mann geht angeln, pro Winter kommen anderthalb bis zwei Tonnen Fisch zusammen. Das ist unser Unterhalt

    Jeden Morgen fährt ein Schulbus vom Dorf Ust-Tschusik nach Stariza. Er bringt vier Kinder zur Schule: die Enkelin von Tatjana Sergejewa und die Kinder von Natalja Nikitina. Das Dorf zieht sich über einige Kilometer hin, aber nur in drei Häusern brennt Licht.

    „Hier wohnt keiner mehr“, sagt Anna Iwanowna Sykowa und lässt uns ins Haus. „Nur ich, mein Sohn Shenka, meine Nachbarin Tanka mit ihrem Mann und ihrer Enkelin Alessja, ja und die kinderreichen Nikitins wohnen noch hier. Schreiben Sie doch in ihrer Zeitung bitte, dass wir in Tschusik Straßenlaternen brauchen, denn wenn der Schulbus abfährt, ist es noch ganz dunkel. Auch wir fahren mit diesem Bus nach Stariza, weil es keine anderen Verkehrsmittel gibt. Zum Einkaufen, zur Krankenstation, zur Post. Bei uns in Ust-Tschusik gibt es das alles nicht mehr. Hier bekommt man weder Brot noch bekommen sie einen Arzt zu greifen. Wenn wir in Stariza ankommen, kaufen wir dort Lebensmittel und Medikamente ein, bummeln durchs Dorf und warten bis die Schule aus ist, um mit dem Bus zurückzufahren, der die Kinder nach Hause bringt. Wir warten sechs oder sieben Stunden, anders geht es nicht. Bis Ust-Tschusik sind es zehn Kilometer durch den Wald. Aufregendes Leben, das wir führen: Einen Rettungswagen rufen, können wir nicht, und irgendwo hinrennen, wenn was passiert, können wir auch nicht. Als Shenka von einem Bären angegriffen wurde, haben wir im ganzen Verwaltungsbezirk Alarm geschlagen, damit der Arzt kam.“

    „Was machen Sie, wenn die Kinder im Dorf krank werden?“
    „Fragen Sie das lieber meine Nachbarin Tanka“.

    Tanka, mit vollem Namen Tatjana Sergejewa, kümmert sich um ihre siebenjährige Enkelin Alessja. Sie sagt, mit der Gesundheit habe das Mädchen Glück gehabt, mit ihrer Mama weniger (die hat das Kind bei der Großmutter gelassen und ist selbst nach Parabel, um sich ein besseres Leben zu zimmern). Aber mit ihrer Gesundheit sei alles Ordnung. 

    Wenn die Schule in Parabel aus ist, ist es draußen schon dunkel
    Wenn die Schule in Parabel aus ist, ist es draußen schon dunkel

    „Wir bitten schon lange darum, dass man uns ins Verwaltungszentrum nach Parabel umsiedelt. In Tschusik ist es schwer, hier kann ich auch nichts dazuverdienen. Unsere Rente reicht gerade fürs Essen. Mein Mann geht angeln, pro Winter kommen anderthalb bis zwei Tonnen Fisch zusammen“, rechnet uns die Sergejewa vor. „Das ist unser Unterhalt. Mein Alter jagt auch Zobel. Für ein Stück Fell kriegt er 5000 Rubel [umgerechnet rund 80 Euro – dek]. Draußen ist das 21. Jahrhundert, Alessja muss unter Leute, stattdessen redet sie tagelang nur mit mir, ihrem Kuscheltier und dem räudigen Kater.“

    Als wir das dritte Haus betreten wollen, eilt uns die kleine Wassilissa entgegen, schmuddelig und in einem Pullover, in den sie noch lange hineinwachsen kann. Weil es zu kalt ist, darf sie heute nicht in die Schule. Auf dem Boden liegen Spielsachen und Kleidungsstücke verteilt. Die kleine Nikitina quengelt, die große Nikitina erzählt, dass sich ihre Familie mit einer Kuh, einem Bullen und dem Garten über Wasser halte. Reis, Nudeln, Buchweizen und Brot kaufe aber ihr Sohn, wenn er nach Stariza in die Schule fahre.

    „Würde ich selbst einkaufen gehen, würde ich einen ganzen Tag verlieren“, sagt die Mutter. „Und er weiß, was und wieviel wir brauchen.“
    „Was wird mit dem Dorf in den nächsten ein zwei Jahren geschehen?“
    Die Einheimischen zucken mit den Schultern: „Wer kann das schon wissen?“

    Was red ich, das ist hier nicht Sibirien, sondern die Einöde der Taiga. Dass es hier kalt ist, kann man überleben. Aber es gibt hier gar nichts, kaum junge Leute

    In der Schule in Stariza ist der Schultag fast zu Ende. Die Mobilen Pädagogen wissen sicher, dass die Schüler ihre Hausaufgaben selbst machen werden, denn einen Zugang zum Internet, wo sie Lösungen abschreiben könnten, gibt es hier nicht.

    In einigen Minuten werden die Fachlehrerinnen ihre Taschen packen, von den Kollegen Abschied nehmen und nach Parabel zurückfahren. Die Dorflehrer aber bleiben hier. Einige für ein Jahr, die anderen für zwei, die jüngste, die 26-jährige „Engländerin“ Nelli Jurjewna Jewsejewa, bis zum Sommer.

    „Seit drei Jahren arbeite ich hier. Ich kann nicht mehr“, gesteht uns Nelli Jurjewna aufrichtig. „Eine Freundin von mir hat mich gefragt, ob ich nicht nach Stariza kommen möchte. Sie selbst ist nach Parabel gezogen und hatte mich bei der Schulverwaltung empfohlen. Ich komme aus Mari El. Das ist nicht Moskau und nicht Tomsk, aber du kommst dir nicht vor wie am Ende der Welt. Sibirien ist was anderes. Was red ich, das ist hier nicht Sibirien, sondern die Einöde der Taiga. Dass es hier kalt ist, ist nicht schlimm, das kann man überleben. Aber es gibt hier gar nichts, kaum junge Leute. Und ich will eine Familie haben, will in die zivilisierte Welt.

    Hier kann man nirgends hingehen, mit niemandem reden. Samstags und sonntags hockst du zu Hause und weißt nicht, was du tun sollst. Ich habe so viel geweint! In den Ferien besuche ich meine Eltern, aber im September muss ich zurück, das kostet mich wahnsinnige Überwindung. Die Kinder und die Kollegen sind wundervoll, aber die Lebensbedingungen …

    „Alessja muss unter Leute, stattdessen redet sie tagelang nur mit mir, ihrem Kuscheltier und dem räudigen Kater.“
    „Alessja muss unter Leute, stattdessen redet sie tagelang nur mit mir, ihrem Kuscheltier und dem räudigen Kater.“

    Ich heize hier den Ofen, das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich Holz auf dem Arm hatte. Wasser muss ich von draußen holen, das Klo ist hinterm Haus. Ich habe hier einen Computer und andere Geräte, aber warum gibt es hier keine Internetverbindung? Ich lebe wie in der Verbannung. Ich will weg. Ich verschwende hier Lebenszeit. Und wozu, was für eine Mission habe ich hier?“

    „Das Mädel hat recht. Sie muss leben. Und wir, was tun wir? Im Sommer machen wir uns daran, eine Wanderlehrerin für Englisch zu suchen“, sagen die Starizer Pädagogen zu ihren Plänen. „So decken wir wenigstens die Fächer ab, solange die Kinder noch hier sind.“

    … Am anderen Flussufer, 100 Kilometer von Stariza, im Zentrum des Verwaltungsbezirks Parabel erwartet unseren Aufklärungstrupp eine Nachricht der russischen Regierung: Ab 2017 soll laut Lehrplan für Musik auch Chorgesang unterrichtet werden. Na ja, vielleicht wird die hiesige Bildungsbehörde den Chevrolet-Niva durch einen Kleinbus ersetzen müssen.

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  • Wandel und Handel

    Wandel und Handel

    Quasi über Nacht brachen während der Perestroika alle bisherigen Werte und Normen zusammen. Und was dann kam in den 1990er Jahren an politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen, das ging ins russische kollektive Gedächtnis ein unter dem Schlagwort lichije 90-e (dt. „Wilde 1990er“).

    Plötzlich war alles anders: So gab es etwa in Russland vor 25 Jahren ein neues Gesetz über „Unternehmen und unternehmerische Tätigkeit“ und damit für die Russen überhaupt erstmals seit der Zarenzeit die Möglichkeit, private Unternehmen zu führen. Und weil kaum einer noch etwas hatte, von Lohn und Arbeit ganz zu schweigen, wurden Millionen zu Managern ihres eigenen Bisnes. Einige von ihnen verdienten im Lauf der Jahre Millionen, andere scheiterten an den kriminellen Methoden und der Korruption, die ständig zunahm.

    Olga Beschlej beschreibt auf dem Online-Wirtschaftsmagazin Sekret Firmy die notgeborenen Aufbruchsjahre der 1990er in ihrer Familie: mit Hühnern auf dem Balkon, Weckern mit Jelzin-Ziffernblatt und den typischen rot-weiß-blau-karierten Plastiktaschen, in denen alles transportiert wurde.

    Die typisch rot-weiß-blau-karierten Taschen – mit ihnen drangen Gerüche in den Korridor, nach Frost, Markt, Waschpulver / Foto © Kommersant, 1996
    Die typisch rot-weiß-blau-karierten Taschen – mit ihnen drangen Gerüche in den Korridor, nach Frost, Markt, Waschpulver / Foto © Kommersant, 1996

    In einem Roman von William Faulkner, dem Lieblingsschriftsteller meines Vaters, gab es einen Protagonisten, der Nähmaschinen verkaufte. Er nähte sich auch Jeanshemden, wusch sie selbst und trug nie etwas anderes.

    Die Handlung des Buches habe ich schon so gut wie vergessen, doch diese Figur ist mir aus zwei Gründen im Gedächtnis geblieben: Erstens, weil er Wladimir Kirillytsch Ratlif hieß. Zweitens, weil ich beim Lesen immer meinen Vater im Kopf hatte. Der trug auch immer Jeanshemden, die ebenfalls vom Waschen ausgeblichen waren. Aber Nähmaschinen – das ist wohl das Einzige, was er, soweit ich mich erinnere, nie verkauft hat.     

    Ich erinnere mich nur dunkel an die Zeit, als mein Vater als Ingenieur am physikalisch-energetischen Institut arbeitete. An eine Szene, wo Papa im Jackett im Korridor steht. Meine Mama trägt mich auf dem Arm, wir verabschieden uns, bevor er zur Arbeit geht. Es ist sehr früh, vor dem Fenster ist es noch stockfinster. In unserem Korridor liegt ein gefrorenes totes Schwein.

    Ein tiefgefrorenes totes Schwein im Korridor

    Jetzt ist mir klar, dass dieses Fleisch ein großer Segen war, weil mein Vater damals fast nie sein Gehalt bekam. Das war so ungefähr 1992. Um irgendwie zurechtzukommen, hatte mein Vater eine Baubrigade organisiert, mit der er in den umliegenden Dörfern Ställe und Schuppen baute. Am Institut, wo damals alle arm waren, schätzte man seinen Unternehmergeist nicht und legte ihm die Kündigung nahe.

    Meine Mutter arbeitete an einem anderen Institut – für Wissenschaft und Forschung. Sie nahm mich sogar ein paarmal mit auf die Arbeit, und ich sah dort einen Computer mit blauem Bildschirm hinter einer bauchigen Scheibe. Ich durfte die Leertaste drücken. Ich drückte, und über den Bildschirm liefen Ziffern. Das fand ich total langweilig, und ich bemitleidete meine Mama, die, wie ich dachte, tagelang die Leertaste drücken musste. Ihr Gehalt wurde immer mit Verzögerung ausgezahlt und dann gar nicht mehr.

    1993 wurde meinen Eltern gekündigt und sie fingen im Handel an. Sie waren ungefähr 35 oder 36. An der Hand zwei Kinder – meinen großen Bruder, der schon zur Schule ging, und mich. Wir wohnten in einer Kleinstadt im Gebiet Kaluga, 100 Kilometer von Moskau entfernt. Meine Eltern leben auch jetzt noch dort.

    1993 fingen meine Eltern im Handel an

    Neben unserem heißgeliebten Wohnort lag eine Versorgungsbasis für Lebensmittel. In der Sowjetzeit waren dort Lebensmittel hingebracht worden, die dann an die Läden in der Region ausgeliefert wurden.

    In den 1990ern wurden diese Basen zu wichtigen Handelsknotenpunkten: Hierhin wurden Waren aus Großstädten und dem Ausland transportiert, und Kaufleute und Tschelnoki (Kleinhändler, auch Meschotschniki genannt) sortierten sie „zum Vertrieb“.

    In Moskau bildeten sich solche Handelszentren, den Erzählungen meiner Eltern zufolge, oft in leerstehenden Kinos. Auf diese Basen brachten Chinesen, Koreaner und Vietnamesen allerlei Konsumgüter, für die man aus ganz Russland in die Hauptstadt strömte.

    Die Geschichte, wie meine Mutter zu ihrer ersten Ware kam, habe ich viele Male gehört, und noch immer finde ich sie unglaublich.

    Sie fuhr zu der Handelsbasis in der Nähe unserer Stadt, bemerkte irgendeinen Kerl, der polnische Säfte und Limonaden aus dem Auto auslud, ging zu ihm hin und bat ihn einfach um Waren „zum Vertrieb“. Geld hatte sie keines. Gar keines. Der Mann sah sie an, kratzte sich am Hinterkopf, dann rief er dem Fahrer zu: „Lad dieser Frau ab, soviel sie braucht.“

    Er und meine Mutter unterschrieben einen Warenschein. Auf diesem Papier, das man in zweifacher Ausfertigung unterschrieb, stand, wie viel Ware zu welchem Preis einer konkreten Person ausgehändigt worden war. Nach Ausweispapieren fragte bei der Erstellung des Warenscheins niemand. Tag und Ort, an dem meine Mutter das Geld für die Ware übergeben sollte, wurden mündlich vereinbart. Sie mietete vor Ort ein Auto (auf Kosten ihres zukünftigen Gewinns), lud die Kisten mit den Flaschen ein und verkaufte auf der Bahnüberführung noch am selben Tag alles. Gegen Abend lieferte sie das Geld ab und bekam die nächste Charge.

    Später übernahm meine Mutter von anderen Leuten genau auf dieselbe Art – ohne Geld und mündlich vereinbart –  „zum Vertrieb“ tiefgefrorenen Fisch und Hühnerkeulen.  

    „Na, überleg mal“,  erklärte mir meine Mutter, „wenn ich ihm diese Ware gestohlen hätte, hätte mir nächstes Mal niemand mehr was gegeben. Klar gab es auch welche, die klauten. Mir hat man später auch was geklaut. Aber ein zweites Mal wär‘ das nicht durchgegangen.“

    Geld fiel vom Himmel und genauso rätselhaft verschwand es wieder

    Bei meinem Vater lief es ganz gut mit seiner Baubrigade, bis er beschloss zu expandieren und dafür bei einer Bank einen Kredit aufnahm – zu 300 Prozent Jahreszinsen, was, nebenbei bemerkt, nur halb so schlimm war. Geld fiel damals buchstäblich vom Himmel und genauso rätselhaft verschwand es wieder, weswegen im Gewerbe die Idee vom plötzlichen Reichtum blühte.

    Ein Geschäftspartner überredete meinen Vater, den ganzen Kredit in einen Container amerikanischen Billigessens zu investieren und es auf diese Art sofort umzuschlagen. Also bei einem Zwischenhändler einen Container zu kaufen, die Ware abzusetzen und so viel Gewinn zu machen, dass der Kredit getilgt wäre und ihm selbst noch was bliebe. Von der Idee, etwas in Amerika einzukaufen, war mein Vater ganz angetan. Er zahlte das Geld ein.  

    Der Container kam nicht.

    Mein Vater zahlte der Bank ein paar Monate lang Zinsen, bis seine Firma pleiteging. Die Bank reichte Klage ein. In ihrer Verzweiflung wandten sich meine Eltern an die Betrüger, denen sie das Geld für den Container gegeben hatten. Die erbarmten sich und stellten ein Papier aus, laut dem der Container, für den das Geld der Bank gezahlt worden war, in einem US-Bundesstaat von Schmugglern entwendet worden war. „Mit Stempel vom Gouverneur des Bundesstaats! Und Unterschrift!“, erzählte meine Mutter verzückt. Der Schrieb wurde dem Gericht vorgelegt und mit großer Achtung und Ehrfurcht begutachtet. Mein Vater wurde zwar noch zwei Jahre durch alle Instanzen gejagt, doch im Endeffekt ließ man ihn in Ruhe.  

    Kopfüber in den Kleinhandel: Wecker mit Jelzin-Ziffernblatt

    Nachdem die Baufirma hopsgegangen war, stürzten sich meine Eltern kopfüber in den Kleinhandel. Verkauften Bücher, Putzmittel, Kosmetik. Vater erzählte, er habe auf dem Stary Arbat sogar Wecker mit Jelzin drauf verkauft. Es war Winter, kalt, niemand beachtete ihn, die Leute gingen vorbei, kauften woanders. Ein Typ, der daneben irgendeinen anderen doofen Kleinkram verkaufte, machte sich über Papas Wecker furchtbar lustig, bis der die Nase voll hatte. Fuchsteufelswild nahm mein Vater einen seiner Wecker, holte aus und warf ihn mit voller Wucht. Ein abscheulicher Klingelton schrillte durch die Straße, die Leute drehten sich danach um, kamen näher, bald umringten sie meinen Vater scharenweise und kauften fast alle Wecker auf. Den Rest drehte er seinem frechen Nachbarn an.

    Die Waren wurden bei uns zu Hause gelagert – in gestreiften und karierten Taschen, die aussahen wie aus Angelschnüren gewebt. Diese Taschen erschienen mir riesig und unmöglich anzuheben. Meine Eltern schleiften sie in den Korridor, und mit ihnen drangen Gerüche herein – nach Frost, Markt, Waschpulver. Ich kann mich noch gut an Mamas schreckliche Hände erinnern – rot und steifgefroren, und wie sie sich dann in der brennendheißen Badewanne aufwärmte.    

    Von allen Waren sind mir besonders die grimmigen Hennen in Erinnerung geblieben, die bei uns auf dem Balkon lebten und ihn ordentlich vollkackten. Mein Vater hatte sie zum Weiterverkauf aus irgendeinem Dorf geholt, und ein paar Tage wüteten sie vor dem Küchenfenster.

    Oh! Und das wunderbare Feuerwerk, das sie zu Neujahr sehr erfolgreich verkauften: Mit dem Gewinn konnten sie uns zum ersten Mal Kokosnüsse und eine Ananas kaufen, außerdem Hershey’s Schokolade – eine weiße, mit dunklen Stückchen. Ich aß sie gleich morgens am ersten Tag des Jahres 1996 auf.  

    Es herrschten andere Regeln. Beziehungsweise gar keine mehr

    Einen festen Marktstand in einer Stadt im Gebiet Kaluga bekamen meine Eltern 1995, dort standen sie etwa zwei Jahre, bis die Bullen den Markt den ortsansässigen Banditen abpressten. Mutter erzählte, wie frappierend der Kontrast zwischen den alten und den neuen Inhabern war. „Nein, denk bloß nicht, dass mir diese kleinen Gauner gar so gefallen hätten“, rechtfertigte sich Mama, der die kleinen Gauner allem Anschein nach aber sehr wohl gefallen hatten. Sie beschrieb die kräftigen, durchtrainierten Burschen, die bei ihr und Vater das Schutzgeld abholten, als wortkarge und eigentlich sogar … höfliche Menschen: „Nie wurden sie mir gegenüber ausfällig und vulgär, die Summe war angemessen, fix, sie nahmen uns nicht aus. Nicht wie die danach …“

    Nach der Neuaufteilung herrschten andere Regeln. Beziehungsweise gar keine mehr. Ein Uniformierter konnte jederzeit und jeden Tag auftauchen. Und zusätzlich zur Standmiete verlangen, was er wollte. Dem ging immer eine besondere Zeremonie voraus – sie beäugten die Ware, kontrollierten die Dokumente: „Und dann ging’s los: Der Stempel falsch, die Preislisten stimmen nicht, sie verbissen sich in den Zertifikaten“, erzählte Mama. Einmal wurde es meinem Vater zu bunt, und er sagte: „Wisst ihr was, erledigen wir doch die Formalitäten gleich auf der Wache. Ganz korrekt.“ Sie machten den Laden dicht, verpackten die Ware, fuhren auf die Dienststelle. Dort bearbeiteten sie stundenlang irgendwelche Akten, dann ließen sie es gut sein und entließen meine Eltern mitsamt ihrer Ware. „Denen ging es ja nicht um Recht und Ordnung, sondern ums Geld. Und wir kommen mit offiziellen Papieren“, erklärte Mama.

    Nach diesem Vorfall verließen sie den Markt. Sie mieteten sich in dem örtlichen Handelszentrum ein und begannen einen Großhandel mit Reinigungsmitteln. Wieder ein paar Jahre später konnten meine Eltern ein weiteres Geschäft in der Stadt aufmachen – diesmal einen Einzelhandel. Dann noch eines. Eine Zeit lang ging es uns recht gut.    

    Ihren letzten Laden haben meine Eltern ungefähr 2012 geschlossen. Meine Mutter redet viel und oft darüber, warum alles so gekommen ist. Und schimpft viel. Mein Vater sagt nichts. Steht einfach jeden Tag um fünf Uhr früh auf und geht zur Arbeit – ins physikalisch-energetische Institut.

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  • Kommunalka

    Kommunalka

    „Aber wo wollen Sie wohnen?“ – „In Ihrer Wohnung.” Dieser kurze aber vereinnahmende Dialog auf der Straße zwischen Berlioz und Voland, dem Teufel, in Michail Bulgakows Klassiker Meister und Margarita (1929–1940) lässt erkennen, wie fließend die Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen in Sowjetrussland war.

    Als dominante städtische Wohnform, als Quintessenz des stalinistischen Alltags, als fortschrittliches „Labor für den zukünftigen Kommunismus“ ist die Kommunalwohnung (auf Russisch kommunalnaja kwartira, kurz kommunalka) der Hauptschauplatz der neuen sowjetischen Lebensweise.

     Die Zuwanderer vom Land brachten ihre dörflichen Traditionen mit in die Städte – Foto © Oleg Iwanow/ITAR-TASS, 1988
    Die Zuwanderer vom Land brachten ihre dörflichen Traditionen mit in die Städte – Foto © Oleg Iwanow/ITAR-TASS, 1988

    Mit der Machtergreifung der Bolschewiken 1917 wurde die Enteignung und Umverteilung bürgerlicher Wohnungen symbolisch inszeniert – gleichzeitig löste man so die Wohnraumkrise, die vor allem durch eine massive Landflucht und Zuwanderung in die Städte ausgelöst worden war. Meist durften die ehemaligen Wohnungseigentümer in ihrer Wohnung bleiben und sich ein Zimmer aussuchen, die restlichen wurden von den lokalen Wohngenossenschaften beliebig an Wohnraumsuchende umverteilt: Ein Zimmer für je eine Familie.

    Manchmal wohnten bis zu drei Generationen in einem im Durchschnitt 20m² messenden Zimmer, sodass sich zum Beispiel in einer relativ großen 10-Zimmer-Altbauwohnung bis zu 50 Menschen Küche, Bad und Toilette teilten. Bewohner befanden sich ständig auf der kommunalen Bühne, Nachbarn waren omnipräsent und der Raum transparent.

    Bulgakow beschreibt die Situation folgendermaßen:

    „Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist: Jedes Mal, wenn ich mich hinsetze, um über Moskau zu schreiben, steht der verfluchte Wassili Iwanowitsch vor mir in der Ecke. Dieser Alptraum in Jackett und gestreifter Unterhose versperrt mir die Sonne. Ich lehne die Stirn an die steinerne Wand, und Wassili Iwanowitsch liegt über mir wie ein Sargdeckel.”1

    Mithin herrschten unzumutbar beengte, unhygienische und konfliktreiche Zustände, zumal die Zuwanderer vom Land nicht nur ihre Hühner, sondern auch Ihre dörflichen Ansichts­weisen und Traditionen mit in die städtischen Räume brachten.

    Anfänglich war sie als Not- und Übergangslösung gedacht, bald aber etablierte sich die Kommunalka als permanenter lebensweltlicher Ausnahmezustand und soziale Instanz. Was die Kommunalka einzigartig unter den frühindustriellen Arbeiter­quartieren macht, ist nicht nur das erzwungene Zusammenleben einander fremder Menschen unterschiedlichster Schichten, Bildungsgrade, Regionen, Religionen etc. Die extreme Ideologisierung und Politisierung des neuen sowjetischen Alltags schuf einen komplexen und vielschichtigen (Wohn-)Raum.

    Manchmal wohnten drei Generationen in einem Zimmer – Foto © Oleg Iwanow/ITAR-TASS, 1988
    Manchmal wohnten drei Generationen in einem Zimmer – Foto © Oleg Iwanow/ITAR-TASS, 1988

    Oft waren es die geräumigen Wohnungen wohlhabender Familien, die in Kommunalwohnungen umgewandelt und für das Zusammenleben mehrerer Familien angepasst wurden. Zwischentüren wurden vermauert oder mit Schränken zugestellt, dunkle, schmale Flure entstanden, die separaten Zugang zu den einzelnen Zimmern boten. Nicht selten wurden Badezimmer in Wohnräume umgebaut, dafür dann in den geräumigen Küchen eine Badewanne installiert. Persönliche Hausgeräte hingen oft, nach Familien geordnet und entsprechend beschriftet, an Nägeln an der Wand: Auf diese Weise waren etwa Küchenutensilien organisiert, aber auch die Toilettensitze im kleinen Raum der Toilette. Die Schwierigkeiten, die eine solche gemeinsame Nutzung der wohntechnischen Infrastruktur mit sich brachte, waren Gegenstand zahlloser Alltagsgeschichten und wurden auch in Literatur und Film immer wieder humoristisch aufgegriffen.

    Dieser totale wie ambivalente Raum und die darin handelnden Akteure werden in der Forschung aus zwei grundsätzlich unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, die beide ihre Berechtigung haben: Die eine sieht in der Kommunalka vor allem ein Instrument gesellschaftlicher Kontrolle, der die Bewohner ausgesetzt waren.2 Die andere entdeckt bei den Kommunalkabewohnern eine besondere Handlungsfähigkeit, die den ambivalenten Lebensumständen entsprang: Zwischen der von außen aufgezwungenen Ideologie und der Realität vor Ort gab es gewaltige Unterschiede, also mussten die Bewohner situationsbedingt Lösungen finden, um Diskrepanzen entgegenzuwirken.3 Dabei hatte natürlich jede/r eine eigene Meinung bzw. ein eigenes Interesse.

    Welcher Aspekt auch immer im Vordergrund stehen mag: Die Kommunalka ist eine kollektive Lebensform, an die sich die Bewohner anpassen mussten, ob sie es wollten oder nicht. Als (Schicksals-)Gemeinschaft entwickelten die Bewohner eigene Regeln der Alltagsgestaltung und des Verhaltens, die sich ungeachtet der soziopolitischen und -kulturellen Veränderungen fortsetzen. Auch heute noch: Etwa ein fünftel der St. Petersburger Bevölkerung wohnt in Kommunalkas. „Immerhin waren dies die Universitäten neuer zwischenmenschlicher Beziehungen. Es gibt keinen Zweifel, es waren bittere Lehrjahre, aber es ist etwas mehr von ihnen geblieben als Küchenzank und Kerosin in der Suppe […].“4


    Die Kommunalka spielt auch eine wichtige Rolle in unserer Fotostrecke für den Monat Juli. Und noch einen ganz anderen Blick auf die sowjetische Gemeinschaftswohnung gibt es in diesem sehr populären Song aus den frühen 90ern:

     

    Pop-Band Djuna „Kommunalnaja Kwartira“ – humoristischer Song aus den 90ern zum Thema Kommunalka

    1. Bulgakow, Michail (1995): Moskau in den zwanziger Jahren, in: Ich habe getötet: Erzählungen und Feuilletons: Gesammelte Werke 7/I, Berlin, S. 74-87, hier: S. 79 ↩︎
    2. Siehe Meerović, Mark (2003): Očerki istorij žilishchnoj politiki v SSR i ee realizacij v architekturnom projektirovanii (1917 – 1974 gg.), Irkutsk und Boym, Svetlana (1994): Common Places: Mythologies of Everyday Life in Russia, Harvard ↩︎
    3. Gerasimova, Ekaterina (2000): Sovetskaja kommunal’naja kvartira kak social’nyi institut: Istoriko-sociologičeskii analiz (na materialach Leningrada, 1917 – 1991), Promotion, European University at St. Petersburg und Evans, Sandra (2011): Sowjetisch Wohnen: Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka, Bielefeld ↩︎
    4. Pjecuch, Vjačeslav (1991): Die neue Moskauer Philosophie: Ein russischer Kriminalroman, München 1991, S. 127f. ↩︎

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  • Walenki

    Walenki

    Walenki sind nahtlose, in einem Stück gefertigte Filzstiefel aus Schafswolle. Sie halten auch bei großer Kälte warm und gelten deshalb als ideales Winterschuhwerk für die trockenen russischen Winter. Walenki werden als ein Symbol traditioneller russischer Kultur betrachtet, heute aber in erster Linie mit dem Landleben assoziiert.

    Der Begriff Walenki ist abgeleitet vom russischen Verb waljat (dt. walzen, walken) und bezieht sich auf die Herstellungsmethode der Stiefel. Neben ihrem Vorteil, vor extremer Kälte zu schützen, haben sie allerdings den Nachteil, empfindlich auf Nässe zu reagieren. Bei feuchtem Wetter und Schneematsch benutzt man deshalb zusätzlich Oberschuhe, früher aus Leder, heute aus Gummi (Galoschen). In verschiedenen Regionen Russlands wurden Walenki unterschiedlich bezeichnet, in Sibirien etwa als pima.

    Vorläufer der Walenki lassen sich bei den nomadischen Völkern Eurasiens finden. Sie gelangten mit dem Einmarsch der Goldenen Horde im 13. und 14. Jahrhundert in die Rus. Walenki waren zunächst kurz, der Schaft wurde separat aus Tuch gefertigt. Die Herstellung von Stiefeln aus einem ganzen, nahtlosen Stück gefilzter Wolle wird erst seit Ende des 18. Jahrhunderts praktiziert. Als Geburtsort dieser Methode gilt die Stadt Myschkin im Gebiet Jaroslawl. Weite Verbreitung fanden die Filzstiefel in Russland aber erst im 19. Jahrhundert mit dem Beginn ihrer industriellen Herstellung – vorher waren die handgefertigten Stiefel teuer, und nur wohlhabende Personen konnten sie sich leisten. Eine Familie mit einem Paar galt bereits als vermögend. Als besonderer Wertgegenstand wurden sie deshalb auch entsprechend gehütet und weiter vererbt.

     

     

    Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden Walenki, gerade in den Städten, immer weniger genutzt und vor allem mit einer rückständigen dörflichen Lebensweise in Verbindung gebracht. In den letzten Jahren wurden sie jedoch von russischen Designern als Modeobjekt wiederentdeckt und sind inzwischen sogar außerhalb Russlands erhältlich.1


    1. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Die Rückkehr der Filzstiefel ↩︎

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  • Samogon

    Samogon

    Als Samogon bezeichnet man einen in häuslicher Eigenproduktion und für den Eigenbedarf hergestellten Schnaps. Grundlage bildet eine Maische, die in der Regel aus Kartoffeln, Früchten, Zucker oder Getreideprodukten besteht und in selbstgebauten Anlagen destilliert wird. Vor allem in den Übergangsphasen vom Zarenreich zur Sowjetunion und später während der Perestroika war der Samogon, der inzwischen fest zur russischen Alltagskultur zählt, weit verbreitet.

    Herstellung von Samogon. Foto © Yuriy75 unter CC BY-SA 3.0
    Herstellung von Samogon. Foto © Yuriy75 unter CC BY-SA 3.0

    Der Begriff Samogon für eine unter häuslichen Bedingungen und für den eigenen Bedarf hergestellten Spirituose entstand Anfang des 20. Jahrhunderts. Ursächlich für die weite Verbreitung der Schwarzbrennerei war das sogenannte suchoi sakon (wörtlich: trockenes Gesetz): Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs erließ Zar Nikolaus II. 1914 einen Ukas, der die Herstellung und den Verkauf aller Sorten alkoholischer Produkte im Zarenreich verbot. In der Folge begannen immer mehr Menschen, selbst Schnaps zu brennen – auf Russisch sam gonju, woher sich auch der Begriff Samogon ableitet.

    Die Bolschewiki schafften das suchoi sakon zunächst nicht ab. Als die Schwarzbrennerei jedoch immer größeren Umfang annahm, sahen sie sich 1923 letztlich doch gezwungen, die gewerbliche Produktion und den offiziellen Verkauf von Alkohol wieder zu gestatten. Gleichzeitig wurde dafür ein striktes Verbot zur Herstellung von Samogon eingeführt, das bis zum Ende der Sowjetunion Bestand hatte. Es konnte allerdings nicht konsequent durchgesetzt werden: So führte zum Beispiel die bekannte Anti-Alkoholkampagne unter Michail Gorbatschow von 1985 bis 1991 zum erneuten Aufblühen der Schwarzbrennerei, wobei der auf dem Schwarzmarkt erhältliche Samogon von minderer Qualität war und oft Gesundheitsprobleme hervorrief.

    Bis heute bleibt die heimische Eigenherstellung von Samogon eine weitverbreitete Praxis. In der gegenwärtigen Gesetzgebung der Russischen Föderation gibt es kein Verbot der Herstellung von Samogon, wenn auch entsprechende Intitiativen mehrmals in der Duma vorgeschlagen wurden, zuletzt Anfang Juli 2015.1


    1. Lenta.ru: „Wodka pachnet ukolom w sadnizu“. Potschemu w Rossii ne stoit sapreschtschat proiswodstwo samogona ↩︎

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