Der erste Schultag am 1. September war ein wichtiger Tag im Leben sowjetischer Kinder und wurde im ganzen Land als festlicher Tag begangen. In der Stalinzeit zeigten Gemälde und Postkarten die Kinder auf dem Weg ins neue Schuljahr, mit Schultaschen und Blumensträußen für die Lehrerin. Die von Fotografen zu den rituellen Anlässen am Anfang und Ende des Schuljahres aufgenommenen Fotos sowjetischer Schülerinnen und Schulklassen vermitteln den Eindruck von feierlicher Ordnung. Die Kinder sind in ordentlichen Schuluniformen zu sehen, die Mädchen in weißen Schürzen und mit weißen Haarschleifen – die gegen Ende der Sowjetunion immer größer wurden.
Die riesigen weißen Haarschleifen sowjetischer Schülerinnen waren Ikonen einer idealisierten sowjetischen Kindheit, die Wohlstand, Fortschritt und Glück ausstrahlte. Alle vorbildlichen kleinen Mädchen in den sowjetischen Bildwelten trugen sie. Die Schleifen fixierten ein Ideal des „süßen kleinen Mädchens“ in Verbindung mit einer behüteten, glücklichen Kindheit.1
Ikonen einer idealisierten sowjetischen Kindheit
Haarschleifen wurden Ende der 1940er Jahre Teil der sowjetischen Schulkleidung. In der durch die Kriegserfahrungen und Verluste erschütterten Nachkriegs-Sowjetunion war die Schuluniform Teil der Rückkehr zu vertrauten Ordnungen, auch der Geschlechterrollen.2 Schleifen sind dekorativ und fallen auf, egal ob in den Haaren, auf Hüten, an Schuhen oder Kleidern. Sie gelten als weiblich und verspielt.3 Zunächst handelte es sich im Schulkontext um schmale Bänder, die in die Haare geflochten wurden. Aber mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der Tauwetterzeit wuchsen auch die Haarschleifen zu riesigen Chiffongebilden auf den Köpfen der Mädchen.4 Hier konnten sich gerade bei den Kleinen die Mütter austoben, und es herrschte Konkurrenz. Unverzichtbar waren die Prachtschleifen, wenn der Fotograf kam.
Persönliche Note und eigensinniges Handeln
Die Haarschleife markierte „die moralische Verortung des Subjekts als ‚gutes‘, ‚ordentliches‘, ‚sozialistisches Mädchen‘.“5 Sie anzulegen bedeutete, von einer Sphäre in eine andere zu wechseln, in der bestimmte Regeln galten, die man zumindest äußerlich befolgen musste. Die an sich banalen Haarschleifen bargen damit auch Potenziale, wenn die Mädchen sie richtig einzusetzen verstanden. Sie eröffneten Möglichkeiten für eigensinniges Handeln in der Art, wie und welche Schleife man trug, ob man ohne ging oder sich einfach die Haare kurz schnitt. Mädchen oder auch ihre Eltern konnten damit ausdrücken, wie weit sie dazugehören oder sich abgrenzen wollten. Manche fanden die Ungetüme aus weißem Tüll kleinbürgerlich und kitschig.6 Schon kleine Mädchen lernten also, normative Erwartungen zu erfüllen, ohne die damit einhergehende Disziplinierung zu verinnerlichen.7
Die Haarschleife war, neben Schürze, Manschetten und Kragen, das variabelste Element der sowjetischen Schuluniform für Mädchen. Sie sollte zu besonderen Anlässen weiß, im schulischen Alltag schwarz oder dunkelbraun sein.8 Material, Breite des Bandes und Platzierung waren nicht definiert. Die Bänder konnten breit oder schmal sein, das Material Seide, Kapron, Chiffon oder Atlas. Haarschleifen konnten groß oder klein sein, in die Haare geflochten, am Ende eines Zopfes auf dem Rücken tanzen oder oben auf dem Kopf sitzen. Der Phantasie und modischen Trends waren hier am wenigsten Grenzen gesetzt.9
Schuluniformen dienten der äußeren Disziplinierung und Zähmung der Körper und waren zugleich Teil der politischen Sozialisation. Sie sollten zwar sichtbare soziale Unterschiede auslöschen. Aber von Anfang an war den Schuluniformen das ganze Spektrum der Möglichkeiten von Konformität bis Überschreitung der durch sie definierten Zwänge und Grenzen eingeschrieben.10 Das etwas „Andere“ galt immer als Statussymbol. Das konnten selbst genähte Schürzen sein oder Spitzenkrägen, Manschetten und ganze Uniformen aus anderen Städten und Republiken.11 In Leningrad galt es beispielsweise als besonders schick, eine Uniform aus Riga zu tragen. Das war eine eigensinnige Praxis, die die Grenzen des Erlaubten auslotete und zugleich Teil der Gruppe blieb: Ein anders geschnittenes Kleid wurde als Ausbruch aus der staatlichen Normierung, als Selbstermächtigung empfunden. Im Alltag genügte es, wenn der Gesamteindruck und die Rocklänge stimmten. Sie markierten die Grenzen des Spektrums.12
In der Alltagsvariante mit dunkler Schürze, Strümpfen und Schleife konnte man spielen und toben, weil Flecken weniger auffielen. Die Festtagsvariante verlangte Disziplin, vorbildliches Auftreten und Mitwirkung bei den offiziellen Ritualen: Für die Klassenfotos waren weiße Strümpfe, Schürze und Schleife Pflicht, wer sie nicht hatte, musste hinten stehen, wo es nicht auffiel, oder sich fehlende Requisiten von einer Parallelklasse ausleihen.13
Essiggeruch und angesengte Haarschleifen
Die Erinnerungen an die Schuluniformen sind untrennbar mit Sinneseindrücken wie dem Geruch nach Essig und versengten Haarschleifen verbunden. Essig brauchte man, um die braunwollenen Schulkleider aufzubügeln, und die Enden der Kapronschleifen wurden angesengt, damit sie nicht ausfransten.14
Die Erinnerungen an die Haarschleifen sind ambivalent, die Prozedur des mütterlichen Frisierens in der morgendlichen Hektik war für einige von „Sehnsucht, Schmerz, Frustration und Scham begleitet“.15 Auf der anderen Seite standen die Schleifen für erste romantische Gefühle, denn in den ersten Schuljahren weckten sie das Interesse der Jungen, die den Mädchen hinterherrannten und sie herunterrissen – oder die Trägerinnen dieser Zeichen weiblicher Anmut aus der Ferne stumm verehrten. Vielleicht weckt deshalb der Anblick der Haarschleifen auf den Fotos bei vielen nostalgische Erinnerungen an die behütete sowjetische Kindheit. In den „wilden 1990er“ Jahren boten die großen Haarschleifen als Symbol dieser Kindheit den Erwachsenen einen imaginären Zufluchtsort.16 Schließlich überstanden die Haarschleifen auch die offizielle Abschaffung der Schuluniformen 1992 und gehören wie die Blumen für die Lehrerinnen auch heute noch zu den Bildern des 1. September.
Millei, Zsuzsa/Piattoeva, Nelli /Silova, Iveta and Aydarova, Elena (2018): Hair Bows and Uniforms: Entangled Politics in Children’s Everyday Lives, in: Silova, Iveta/Piattoeva, Nelli/Millei, Zsuzsa (eds.): Childhood and Schooling in (Post)Socialist Societies, Cham, S. 145-162, S. 151-152 ↩︎
Leont’eva, Svetlana (2008): Sovetskaja školnaja forma: Kanon i povsednevnost, in: Teorija Mody: Odežda Telo Kul´tura 9 (2008), S. 47–79, S. 50 und 52 ↩︎
Rudova, Larissa /Balina, Marina (2008): Razmyšlenija o škol’nom forme (po materialam proizvedenij detskoj i avtobiografičeskoj literatury), in: Teorija Mody: Odežda Telo Kul´tura 9 (2008), S. 25–47, S. 41-42 zu den Schleifen ↩︎
Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme (Anm. 30), S. 40 ↩︎
Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme (Anm. 30), S. 40-41 ↩︎
Craik, Jennifer (2005): Uniforms Exposed: From Conformity to Transgression, Oxford; vgl. auch die bei de La Fe, Loraine (2013): Empire’s Children: Soviet Childhood in the Age of Revolution, Miami ↩︎
Bei Geburten und Todesfällen, medizinischen Notfällen oder etwa auch zur Impfung gegen das Coronavirus werden sie gerufen: Feldscherinnen wie Gulgena, Alfira und Nursilja. Feldscher – das deutsche Lehnwort und auch das Berufsbild stammen aus dem Militär. Im Russischen meint feldscher allerdings eine zivile, ausgebildete – nicht studierte – medizinische Fachkraft, die Diagnosen stellt, Patienten behandelt und nur notfalls an einen Facharzt überweist. Die feldschery sind quasi die Dorfdoktoren und ersetzen diese gerade in weitläufigen, dünn besiedelten Gegenden – wie dem Rajon Archangelsk in Baschkirien. Dort hat die Dokumentarfotografin Natalja Madiljan sechs von ihnen für Republic mit der Kamera begleitet.
Morgens um 5.30 Uhr aufstehen. Bevor sie sich auf den Weg zur Arbeit macht, muss die Feldscherin Gulgena Chissmatullina noch die Kühe melken und die Milch verarbeiten: Quark, Sahne und Butter macht sie selbst. Um acht Uhr morgens verlässt sie das Haus, um auf dem Weg zum Gesundheitszentrum noch bei zwei Familien vorbeizuschauen. Im Gepäck hat sie ein Dreiliterglas Milch und Hammelfleisch aus der eigenen Wirtschaft – Sadaqa, eine muslimische Gabe der Barmherzigkeit für eine junge Familie, die kürzlich ein neues Haus bezogen und ein eigenständiges Leben begonnen hat.
Gulgena arbeitet seit mehr als 30 Jahren als Feldscherin. Sie leitet das Gesundheits- und Geburtshilfezentrum von Arch-Latyschi, das zwei Dörfer versorgt: Maxim Gorki und Gorny. Die Feldscherin empfängt in dem Zentrum Patienten, fährt zu Notfällen und kommt zur Pflege von Kindern und schwangeren Frauen ins Haus. In Gorki gibt es eine große Schule und ein Wohnheim der Veteranen – auch das fällt in die Zuständigkeit der Feldscherin. Insgesamt kümmert sich Gulgena um 1250 Menschen.
Pro Tag kommen 10 bis 15 Patienten in das Gesundheitszentrum. Am Morgen findet die medizinische Pflichtuntersuchung für Fahrer der Dorfverwaltung, Fahrer von Schulbussen und Landmaschinen statt. Die Zahl der Patienten im Dorf ändert sich mit den Jahreszeiten: Im Mai hat niemand Zeit zum Kranksein – man ist mit Aussaat und Gartenarbeit beschäftigt. Im Winter geht‘s.
Die Feldscherin hier auf dem Land kennt längst alle ihre Patienten: Geburten, Todesfälle, Krankheiten, Freud und Leid, alles läuft über den Dorfdoktor. „Sie erzählen uns alles, und manchmal verstehen wir gut, warum ein Mensch genau jetzt krank geworden ist, welche Probleme und welchen Stress er durchmacht. Dann muss man auch Psychologin sein“, sagt Gulgena.
Jede Feldscherin hat ihre eigenen Strategien zur Erholung nach der Arbeit – Gulgena macht Gymnastik, versucht, viel spazieren zu gehen und besucht die Moschee.
Feldscherin Alfira Nugamanowa
Eine Feldscherin auf dem Land hat keinen freien Tag, ihre Tasche ist immer gepackt: „Wir sind jederzeit startklar. Wenn man uns ruft, kommen wir und helfen.“ Die Feldscherin Alfira Nugamanowa lebt und arbeitet im Dorf Kisgi. Ein unfassbar malerischer, entlegener Ort im Vorland des Ural, an einer Biegung des Flusses Inser. Das Gesundheitszentrum von Kisgi ist ein Holzhaus mit Ofenheizung. Es ist zur Gänze Aufgabe der Feldscherin, zu putzen und den Hof in Schuss zu halten, sie muss ohne Hilfe auskommen.
Alfira ist schon seit über 40 Jahren Feldscherin. Sie hat zwei erwachsene Söhne und Enkelkinder, die alle in Neftekamsk wohnen. Während des muslimischen Fastenmonats Ramadan nimmt sich Alfira Urlaub: In ihrem Alter ist es schon zu anstrengend, gleichzeitig zu fasten und zu arbeiten. Doch einen Teil der Arbeit muss sie auch im Urlaub machen – derzeit laufen die Impfungen gegen Covid, und auch Erste Hilfe müssen die Dorfbewohner immer bekommen können. Während der Vorbereitungen zum Zuckerfest in der Moschee kommt ein Mann zur Feldscherin, um seinen verletzten Finger zu untersuchen und verbinden zu lassen.
An einem normalen Arbeitstag ist eine Feldscherin bis zum Mittag im Gesundheitszentrum und nachmittags bei Noteinsätzen und Hausbesuchen. Eigentlich hat sie keine festen Arbeitszeiten: Morgens wie abends kommen Patienten, um ihre Spritzen zu kriegen, und es gibt nächtliche Notrufe. Die Telefonnummer der Feldscherin steht auf der Liste mit den wichtigsten Nummern. Insofern ist Dorfdoktor nicht nur ein Beruf, sondern Berufung.
„Wenn du siehst, dass ein Mensch, der oft bei dir war, krank ist und im Sterben liegt – natürlich ist das schwer. Oder ein Patient hat einen Infarkt und kriecht vor Schmerzen auf dem Boden, aber der Rettungswagen kommt nicht. Und selber kannst du ihn nicht fahren, weil er nicht transportfähig ist. Du musst ihm also das leben retten: Dann lebt er weiter und freut sich, und du freust dich auch.“
Feldscherin Natalja Shaworonkowa
Natalja Shaworonkowa hält im Gesundheitszentrum von Krasny Silim die perfekte Ordnung. Sanitäterin hat sie keine, eine Putzfrau auch nicht, also lastet die Aufrechterhaltung der Ordnung genau wie die Behandlung der Patienten auf den Schultern der Feldscherin. Natalja wurde in der Oblast Uljanowsk geboren und kam nach Baschkirien, als sie einen jungen Mann aus dem Dorf Silim heiratete. Dort begann sie 1983 ihre Tätigkeit als Feldscherin.
Das Versorgungszentrum von Krasny Silim ist für drei weitere Dörfer zuständig: Magasch, Kusnezowka und Lukinsk. Um 7.30 Uhr verlässt Natalja das Haus, um vor Beginn ihres Arbeitstages die Fahrer zu untersuchen. „Bis acht Uhr abends versorge ich Notfälle, aber wenn jemand später kommt, kann ich ihn auch nicht wegschicken“, sagt Natalja. Zu Notfällen geht die Feldscherin zu Fuß.
Die Arbeit einer Feldscherin auf dem Land besteht nicht nur in Erster Hilfe und Hauskrankenpflege. Im Sommer muss das Gras gemäht werden, im Winter der Schnee geschaufelt, und auch die Raumpflege ist Pflicht der Feldscherin und der Sanitäterin, sofern es eine gibt. In manchen Gesundheitszentren wird mit einem Ofen geheizt und es gibt keine Wasserleitung.
Die Feldscherin Nursilja, die das Versorgungszentrum von Terekly leitet, wurde im benachbarten Asow geboren, hat 1985 die Medizinische Fachschule von Belorezk abgeschlossen und als Medizinerin in Ufa und in der Oblast Tscheljabinsk gearbeitet. Als sie einen Mann aus Terekly heiratete, begann sie hier ihre Tätigkeit als Feldscherin – zuerst ab 2003 im Nachbardorf Kurgasch und ab 2010 in Terekly. Nursilja hat fünf Kinder – drei Söhne und zwei Töchter. Die älteren Kinder studieren in Ufa, der mittlere Sohn dient in der Armee, und die jüngeren wohnen noch bei den Eltern und gehen zur Schule.
Nursiljas Tag beginnt wie bei vielen Feldscherinnen um sechs Uhr – sie muss die Kühe melken, die morgendlichen Aufgaben im Haushalt erledigen, dann bringt sie die Kinder zur Schule und fährt selbst zur Arbeit. Auf dem Weg zum Gesundheits- und Geburtshilfezentrum schaut sie bei alten Frauen rein, die ihre Spritzen brauchen, und am Abend kommen Mütter mit Kindern zur Behandlung zu ihr nach Hause. Auch Notrufe gibt es: „Außerhalb der Arbeitszeit fährt eigentlich nur der Krankenwagen, aber manchmal kommen sie her, bringen einen Patienten, oder man läuft eben hin. Und wenn‘s durch den Fluss geht, dann eben in Watstiefeln“, erzählt Nursilja.
Ein typisches Gesundheits- und Geburtshilfezentrum – das sind mehrere Räume in einem Verwaltungsgebäude, in dem oft auch die Regionalverwaltung untergebracht ist oder die Post, eine Bibliothek, ein Museum oder ein Kindergarten. Manchmal ist es ein frei stehendes Gebäude, dann ist es meistens aus Holz und renovierungsbedürftig. Die Toilette ist immer draußen, bisweilen in katastrophalem Zustand. Wenn der Zustand des Gebäudes zu erbärmlich ist, dann empfängt die Feldscherin ihre Patienten bei sich zu Hause, auch das kommt vor. Hier in der Region läuft wie überall in Russland ein Programm, in dessen Rahmen in den Dörfern neue Versorgungszentren in Fertigbaucontainern eingerichtet werden. In der Region Archangelsk sind es zwei.
Feldscherinnen Saituna Mussina und Ramsija Bikbulatowa
Das Gesundheitszentrum im Dorf Absanowo ist ein Holzhaus, schon das dritte seit Dienstantritt der beiden Feldscherinnen: Saituna Mussina, die das Zentrum leitet, und die Hebamme Ramsija Bikbulatowa. Beide sind seit 42 Jahren im Dienst. Das Einzugsgebiet umfasst 850 Menschen, im Sommer werden es mehr, denn dann kommen die Datschenbesitzer.
Fast alle „Mädels“ betätigen sich neben ihren medizinischen Aufgaben und der Hausarbeit auch noch kreativ – viele singen in Folklore-Ensembles, helfen in der Moschee, engagieren sich ehrenamtlich und bemühen sich, auch für sich selbst Zeit zu finden. Alle haben eine Landwirtschaft und machen selber Butter, Sahne und Quark und helfen auch noch anderen. Fast sieht es so aus, als hätte der Tag einer Feldscherin doppelt so viele Stunden wie der anderer Menschen.
Die durchschnittliche Dienstzeit einer Feldscherin beträgt 35 Jahre. Die Feldscherinnen witzeln: Unser jüngstes Mädel ist 45, aber das sind Einzelfälle, die meisten von uns sind über 55. In Russland läuft seit 2018 das Programm Feldscherin auf dem Land, bei dem Mediziner, die aufs Land ziehen, 500.000 Rubel [knapp 5800 Euro – dek] und eine Reihe von Vergünstigungen erhalten. Allerdings wird die Umsetzung dieses scheinbar attraktiven staatlichen Projekts deutlich durch die Schwierigkeiten behindert, mit denen die Neuankömmlinge konfrontiert sind.
„Mit zunehmendem Alter begann ich zu verstehen, dass man den Menschen mehr Gutes tun muss, und danach lebe ich jetzt. Wenn einer kommt, während ich Feierabend oder Urlaub habe, verweigere ich nie meine Hilfe. Ich freue mich, wenn Kinder zur Welt kommen, wenn Frauen schwanger werden, wenn jemand zu trinken aufhört. Den Menschen Gutes tun und Liebe schenken – ich bin stolz darauf, in einem Heilberuf tätig zu sein. Ich bin weder reich noch arm, aber ich lebe und freue mich über jeden neuen Tag“, sagt Gulgena Chissmatullina.
Eine wohlhabende Frau nimmt auf der Terrasse ihres Anwesens Tee zu sich. Im Hintergrund sieht man ein provinzielles russisches Stadtbild. Im Vordergrund stehen auf dem Tisch Wassermelonen, Obst und Kuchen. Doch ganz am linken Rand findet sich ein wichtiges Utensil, ohne das kein Tee in die Tasse der Dame käme: Der Samowar – der „Selbstkocher“.
Boris Kustodijew, Die Gattin des Kaufmanns (1912)
Dieses Gemälde von Boris Kustodijew, das den Titel Die Gattin des Kaufmanns trägt, scheint eine „ur-russische“ Szene festzuhalten – tatsächlich zeichnet sich das Gemälde aber durch zwei Anachronismen aus: Als das Bild 1918 entstand, hatten die Bolschewiki bereits dafür gesorgt, dass die Welt der russischen Kaufmänner verschwunden war. Der Samowar, der auf dem Bild für althergebrachte Tradition steht, war dagegen erst seit wenigen Jahrzehnten ein nationalethnisch konnotierter Gegenstand der russischen Alltagskultur. Heute hat der „Selbstkocher“ seinen festen Platz in den Regalen russischer Küchen.
Samoware sind große Wassergefäße, die aus Metallen, meistens Kupfer, gefertigt werden. Im Inneren befindet sich ein Kamin, der zum Anheizen durch ein Rohr verlängert wird. Hat das Wasser die gewünschte Temperatur erreicht, wird diese Verlängerung abgenommen. Nun ist Platz für den tschajnik, eine kleine Teekanne, in dem sich die sawarka (ein Teekonzentrat) befindet. Frischen Tee erhält der Durstige durch die kundige Mischung von Konzentrat und frisch abgelassenem Wasser aus dem Kessel.
Vom Industriegut zum Symbol für die Europäisierung Russlands
Der Samowar in seiner heutigen Form wurde Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt. 1778 registrierten die Brüder Iwan und Nasar Lisizyn eine Fabrik zur Herstellung von Samowaren in der Stadt Tula, knapp 200 Kilometer südlich von Moskau. Tula verfügte bereits über eine lange Tradition der Metallverarbeitung und entwickelte sich zum Zentrum der Samowar-Herstellung. In Russland trägt man keine Eulen nach Athen, sondern reist mit dem eigenen Samowar nach Tula.1
Seit dem 17. Jahrhundert gab es einen konstanten Warenaustausch zwischen China und Russland und der Tee war als Luxusgut bereits in Moskau bekannt.2 Die Erfindung des Samowars führte zunächst nicht zu einer Popularisierung des Tees in allen Schichten der Bevölkerung. Die tschajepitije (das Teetrinken) blieb eine Alltagspraxis in den höheren Ständen, dem Adel und in der hohen Kaufmannschaft. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandelte sich der Samowar „vom teuren Luxus“ zum „Haushaltsbedarf“, das Teetrinken wurde immer alltäglicher.3 Diesen Aufstieg befeuerte eine kulturelle Elite, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts damit begonnen hatte, den Samowar zum Inbegriff russischer Teekultur zu erklären. Dieses Objekt erschien großen Literaten wie Alexander Puschkin, Lew Tolstoi, Fjodor Dostojewski und Anton Tschechow als besonders geeignet, um das aus dem fernen China importierte Luxusgut Tee einer russischen Aneignung zu überführen. Für Puschkin war der Samowar darum ein Symbol für die seit Peter dem Großen angestoßene Europäisierung Russlands, die den Teekonsum an ein industriell gefertigtes Objekt band.4
Inszenierung von Häuslichkeit und Gastfreundschaft
Die Praxis des Teetrinkens in adligen Familien galt in Literatur und Kunst als geradezu paradigmatische Inszenierung von Häuslichkeit, Gastfreundschaft und Gemeinschaft – jenen Werten, die gerade in der Amtszeit Nikolaus I. als besonders „russisch“ galten. Die üblicherweise prächtigen Verzierungen auf dem Samowar verwiesen auf seinen prominenten Platz am heimischen Tisch, an dem sich in der Idealvorstellung die ganze Familie versammeln sollte. Der Samowar offenbarte den Besitzstand und Reichtum einer Familie. Darüber hinaus erforderte seine Bedienung Geschick und Erfahrung: Das Teekonzentrat wollte in der richtigen Stärke zubereitet sein, die Befeuerung des Kamins war ebenso wichtig um stetig warmes Wasser vorrätig zu haben. Nicht selten nahm daher die Dame des Hauses den Teekessel in die Hand, um auf diese Weise ihre herausragende Stellung im Haushalt unter Beweis zu stellen. Wem sie in welcher Reihenfolge dann den Tee ausschenkte, machte die soziale Rangordnung sichtbar. Im Zusammenspiel von Akteuren und Objekten entfaltete sich so eine häusliche Ordnung.
Russifizierung des Tees
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Tee immer mehr Teil der Alltagskultur in breiteren Kreisen der Bevölkerung. Hierfür war nicht nur der wirtschaftliche Aufstieg nach den sogenannten „Großen Reformen“ verantwortlich, sondern auch der rasante Preisverfall für Tee aus den indischen Kolonien. Nun entfalteten die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelegten Spuren einer herbeigeschriebenen „russischen Teekultur“ ihre volle Wirkung. Erst seit den 1870er Jahren war Tee ein allgegenwärtiges Gut geworden, das tatsächlich an praktisch jedem russischen Tisch gereicht wurde. Die quantitative Ausweitung des Teekonsums verband sich rasch mit der kulturellen Prägung einer zunehmend belesenen städtischen Bevölkerung, die eine „Invention of Traditions“ großer russischer Nationaldichter auf ihren Alltag übertrugen: Über das Objekt Samowar russifizierte sich der Tee. Auf die gestiegene Nachfrage nach Tee reagierte die Samowar-Industrie rasch und diversifizierte ihr Angebot noch einmal erheblich: Die Fabriken in Tula boten nun vom einfachen „Blech-Wasserkocher“ bis hin zum verzierten Schmuckstück aus Silber Samoware für jeden Geldbeutel an. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren bis zu 5000 Personen als Heimarbeiter in der Samowarindustrie tätig.5 Im ausgehenden 19. Jahrhundert hatte der Samowar seinen Weg in nahezu alle Salons und Küchen des russländischen Imperiums gefunden.
Die politischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts änderten daran zunächst wenig: Der handbetriebene Samowar blieb in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein nicht wegzudenkendes Element russländischer Alltagskultur. Erst mit dem Aufstieg elektrischer Kleingeräte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haftete dem Samowar zunehmend etwas Antiquarisches an, so dass einzelne sowjetische Künstler ihn mit dem verachteten „alten Russland“ in Bezug setzen konnten. Auch wenn die Industrie elektrische Samoware anbot, konnten sich diese auf lange Sicht nicht gegen den elektrischen Wasserkocher und den Beuteltee durchsetzen. Der dampfbetriebene Samowar wanderte mit dem Kauf eines elektrischen Wasserkochers zunehmend in die Küchenregale, wo er als Relikt einer vergangenen Zeit nur zu ausgesuchten Anlässen entstaubt und reaktiviert wird. Die Erinnerungskultur um das Objekt Samowar entfaltete aber spätestens seit den 1990er Jahren einen markanten Boom: Heute gibt es einen ganzen Markt für Samoware als Erinnerungsstücke aus der Sowjetzeit.
Zum Weiterlesen
Avery, Martha (2003): The Tea Road: China and Russia Meet Across the Steppe, Beijing
Heller, Klaus (1980): Der russisch-chinesische Handel von seinen Anfängen bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, Erlangen
Schütz, Joseph (1986): Russlands Samowar und russischer Tee: Kulturgeschichtlicher Aufriss, Regensburg
Smith, Robert Ernest Frederick/Christian, David (1984): Bread and Salt: A Social and Economic History of Food and Drink in Russia, Cambridge [etc.]
Yoder, Audra Jo (2009): Myth and Memory in Russian Tea Culture, in: Studies in Slavic Cultures (8), 08/2009, S. 65–89
Schütz, Joseph (1986): Russlands Samowar und russischer Tee: Kulturgeschichtlicher Aufriss, Regensburg, S. 34 ↩︎
Avery, Martha (2003): The Tea Road: China and Russia Meet Across the Steppe, Beijing, S. 9f. ↩︎
Yoder, Audra Jo (2009): Myth and Memory in Russian Tea Culture, in: Studies in Slavic Cultures (8), S. 65–89, hier: S. 67 ↩︎
Ein geschmückter Tannenbaum mit wechselvoller Geschichte, ein überquellender Festtagstisch und der Fernseher als ständiger Begleiter: Das russische Neujahrsfest versammelt besinnliche und kuriose Traditionen aus verschiedenen Epochen. Nachdem Peter I. versucht hatte, erste Traditionen zum Jahreswechsel zu begründen, hielten im 19. Jahrhundert die europäischen Weihnachtsbräuche in Russland Einzug. Von den Bolschewiki als bürgerlich geschmäht und gleich darauf wieder zum Leben erweckt, verbanden sie sich mit dem konfessionsübergreifenden Neujahrsabend zu einem vergnüglichen, unverwechselbaren Fest.
„Es gibt die Anweisung, das Neujahrsfest fröhlich zu begehen,“ erklärt Genosse Ogurzow, seines Zeichens Verantwortlicher für die Durchführung der Festlichkeiten in einem sowjetischen Kulturpalast. In diesem bürokratischen Ausdruck, der die Zuschauer des Kinofilms Karnevalsnacht (Regie: Eldar Rjasanow, 1956) ohne Zweifel zum Lachen brachte, spiegelt sich die ganze Widersprüchlichkeit dieses Feiertags: Einerseits ist Neujahr ein Familienfest. Es ist der am wenigsten offizielle aller offiziellen Feiertage, das am wenigsten „problematische“1 Fest und daher das einzige, das alle feiern – unabhängig von Konfession und politischer Einstellung. Es hat „fast alle seine Geschwister des sowjetischen Feiertagskalenders überlebt“.2 Andererseits ist Neujahr mit seinen Traditionen das Ergebnis einer politischen Entscheidung und war mehr als einmal Gegenstand leidenschaftlicher politischer Kämpfe.
In Russland sagt man oft: „Wie du das neue Jahr beginnst, so wirst du es auch verbringen.“ Dieser Aberglaube ist im sowjetischen und postsowjetischen Bewusstsein so tief verankert, dass auch die Vorbereitung des Festes zum präzise ausgeführten Ritual wird. Da das Einkaufen in der Sowjetunion oft keine leichte Unternehmung war, begannen die Vorbereitungen in der Regel schon im November: Ebenso endlose wie unvermeidliche Schlangen waren durchzustehen, um alle Zutaten für Festtagsgerichte und Geschenke für alle Familienangehörigen, Freunde und Arbeitskollegen zu besorgen, und auch das Haus wollte schließlich geschmückt sein. Obwohl in Russland mittlerweile alle Produkte in ausreichendem Maß erhältlich sind, steht man noch immer häufig an.
Der Neujahrstisch muss sich biegen unter den zahllosen Köstlichkeiten. Was genau auf den Tisch kommt, kann durchaus variieren, nicht wegzudenken sind jedoch die Salate – mit Fleisch, Fisch und Gemüse, insbesondere: Salat Olivier und Hering im Pelz – sowie der typische sowjetische Sekt Sowjetskoje Schampanskoje. Natürlich können die im Laufe mehrerer Tage zubereiteten Speisen nicht alle an einem Abend verzehrt werden. Doch der überquellende Esstisch am Silvesterabend hat weitere Funktionen als die Sättigung: Als soziales Symbol steht er für den Wohlstand der Familie, als Ritual für die Sicherung dieses Wohlstands im kommenden Jahr.
Da es in erster Linie ein Familienfest ist, wird das russische Neujahr oft mit dem europäischen Weihnachtsfest verglichen. In der Tat ist es mit Weihnachten verwandt und nimmt die weihnachtliche Symbolik auf – zuweilen wie ein Zerrspiegel. Im Unterschied zu Weihnachten geht das russische Neujahr jedoch auf eine politische Entscheidung zurück. Als Peter I. im Jahr 1699 von seiner Europareise zurückkehrte, verfügte er, den Beginn des Jahres „nach dem Beispiel aller christlichen Völker“ vom 1. September auf den 1. Januar zu verlegen. Auch sollten zum Jahreswechsel künftig Raketen abgefeuert, Feuer entzündet und die Hauptstadt mit Tannengrün geschmückt werden: Peter befahl, „auf den großen Straßen, vor … Häusern und Toren einigen Schmuck aus Ästen und Zweigen von Fichten, Tannen und Wachholder“3 aufzustellen und bis Jahresanfang stehenzulassen. Doch trotz aller Erlasse wollten die Traditionen nicht greifen. Erst gegen Ende der 1830er Jahre kam die Tanne aus Europa nach Russland, diesmal jedoch als Weihnachtsbaum.
Nach der Oktoberrevolution war das Verhältnis zu den weihnachtlichen Traditionen der vergangenen Ära schwierig. Für die Ächtung und die spätere offizielle Anerkennung weihnachtlicher Symbolik führte man merkwürdigerweise dasselbe Argument an: Weihnachten sei ein Ritual der Bourgeoisie. Aus diesem Grund wollte man die Tradition zunächst ausrotten. Dann jedoch sollte das Proletariat eine Möglichkeit bekommen, an ihr teilzunehmen. Nach jahrelangen Diskussionen forderte der Parteifunktionär Pawel Postyschew am 28. Dezember 1935 in der Prawda: „Irgendwelche ‚linken‘ Störer haben diesen Kinderspaß als bürgerliches Unterfangen in Verruf gebracht. Diese falsche Verurteilung der Tanne muss ein Ende haben. In Schulen, Kindergärten, Pionierpalästen, Kinderklubs, Kinos und Theatern – überall soll eine Tanne stehen!“ Bereits am nächsten Tag standen einige Tannen auf Moskaus Straßen und ein reger Handel mit Bäumen hatte begonnen. Der Tannenbaum war rehabilitiert, und damit begann auch die Eingliederung vorrevolutionärer Weihnachtsbräuche in das neu erschaffene typisch sowjetische Phänomen – das Neujahrsfest.
Natürlich gibt es neben dem Tannenbaum noch andere wichtige Details. Da ist Väterchen Frost, der in sich die Figuren des Heiligen Nikolaus und des wunderlichen Alten aus dem Winterwald vereint, seine Helferin Snegurotschka, die der Sage vom Mädchen aus Schnee nachempfunden ist,4 sowie allerlei Häschen und Schneeflöckchen – die sinnbildlichen Gestalten kleiner Jungen und Mädchen. Ein unverzichtbarer Begleiter des Neujahrsfestes ist seit sowjetischen Tagen auch der Fernseher.5 Er läuft vom frühen Morgen, wenn die Vorbereitungen zum Fest beginnen, ununterbrochen bis nach Mitternacht. Alle Kanäle zeigen sowjetische Komödien, von denen einige zum unbedingten Neujahrskanon zählen – wie etwa Karnevalsnacht oder Ironija Sudby(dt. Die Ironie des Schicksals, Eldar Rjasanow, 1975). Einige Stunden vor Mitternacht beginnen dann Musikshows nach dem Vorbild der sowjetischen Sendung Goluboj Ogonjok (seit 1964, dt. etwa: Blaues Flämmchen).
Der Fernseher läuft im Hintergrund. Die Filme kennen alle auswendig, daher genügt es, bloß den Ton zu hören. Unterdessen kocht man, schneidet Salat, schmückt den Baum, verpackt Geschenke und spricht die besten Stellen mit – manchmal sogar einige Sekunden vorher. Diese rituellen Wiederholungen erzeugen die richtige Neujahrsstimmung, ohne die das Fest nicht auskommt. Ist alles vorbereitet, setzt sich die Familie an den Tisch und verabschiedet das alte Jahr, ruft wichtige Ereignisse in Erinnerung und zieht Bilanz. Einige Minuten vor dem Jahreswechsel richten sich dann alle Augen auf den Staatschef, der auf dem Bildschirm erscheint: von seinem Schreibtisch aus oder vor dem Hintergrund der verschneiten Kremlgebäude beglückwünscht er alle zum Neuen Jahr. Danach zeigt der Bildschirm die große Uhr des Kreml. Sie schlägt zwölf. Zu den Klängen der Hymne erheben sich die Gläser mit Sowjetskoje Schampanskoje und es tönt von allen Seiten:
S Novym godom, s novym stschastjem! Frohes neues Jahr, möge es Glück bringen!
P.S.: Die mystischen, hoffnungsvollen Stunden des letzten Abends im Jahr stehen – wie auch bei mancher Silvesterfeier in Deutschland – in ernüchterndem Kontrast zum Anblick der verwüsteten Küche am Neujahrsmorgen. Berge von Geschirr müssen gespült, halbvolle Flaschen schaler Getränke ausgegossen werden. Da nimmt es nicht Wunder, dass man erstmal einfach weiterfeiert, die Zeit für ein paar Tage anhält und den eigentlichen Beginn des Jahres – das Aufräumen – noch ein wenig hinauszögert: Meist dauern die russischen Neujahrsfeierlichkeiten bis zum 10. Januar.
In dem beliebtem sowjetischen Zeichentrickfilm Winter in Prostokwaschino lehnt einer der Protagonisten es ab, zur Neujahrsfeier Freunde zu besuchen, da dort der Fernseher – der „wichtigste Tischschmuck“ – nicht funktioniert ↩︎
„Überall auf der Welt legt man Teppiche auf den Boden. Warum hängen wir sie an die Wand?“ Selbst für Russen ist die Antwort auf diese Frage alles andere als einfach. Das, was für viele heutzutage als ein Symbol der Geschmacklosigkeit gilt, gehörte in sowjetischen Wohnungen der 1970er und 1980er Jahre zum Interieur, genauso wie das gute Porzellan oder das Kristallgeschirr hinter den Scheiben der lackierten Schrankwand (russ. „Stenka“).
Auch heute sind die Teppiche, vor allem in den Wohnungen älterer Menschen, keine Seltenheit. In Beiträgen und Diskussionen in Internetforen wird vor allem eines deutlich: Der Wandteppich wird als spezifisch russische Eigenart und somit als ebenso erklärungsbedürftig wie identitätsstiftend gewertet.
Teppiche hingen bereits in den Stalinbauten an den Wänden und bedeckten auch Tische, Sofas, Sessel und den Boden, aber in den 1970er Jahren wurden sie zum Massenphänomen. Teppiche waren cool, teuer und Mangelware (defizit). Da die Mode zuerst bei der Intelligenzija und den Funktionären aufkam, galt sie bald als Zeichen von Status und Prestige. Echte Teppiche sind eigentlich die mit den orientalischen Mustern, aber beliebt waren auch die „mit den Hirschen“, die man gar nicht auf den Boden legen konnte.
Nach dem Teppich-Boom in den 1970er und 1980er Jahren wurde im Laufe der 1990er der Wandteppich zum Inbegriff des schlechten Geschmacks der Großeltern, ein Überbleibsel der sowjetischen Vergangenheit, das man vergaß, abzuhängen. Sich vor dem Wandteppich fotografieren zu lassen, was in der Sowjetunion zum guten Ton gehörte, gilt mittlerweile als gestrig. Bildstrecken in Sozialen Netzwerken ironisieren das Portrait vor dem Wandteppich oder laden es erotisch auf in Kompositionen, die an die Odalisken von Henri Matisse erinnern.
Zugleich bleibt der Wandteppich Symbol für Ehe und Hausstand und dient gelegentlich als Hochzeitsgeschenk oder Aussteuer. Im Internet sind Fotos von Brautpaaren vor dem Teppich zu finden, oft in einem Park. Der Teppich hinter den Brautleuten wird von den Frauen der Trauzeugen hochgehalten, die auf den Schultern ihrer Partner sitzen.1
Das orientalische Zimmer als Ort der Zuflucht
Die Herkunft des Wandteppichs scheint einerseits im Orient-Boom des 19. Jahrhunderts zu liegen, andererseits in einer russischen Tradition, in Innenräumen alle Oberflächen reich mit Textilien auszuschmücken.2Dabei begann der Trend zunächst im westlichen Europa und in den USA: Schriftsteller, Künstler und Architekten begannen sich nach der Eroberung Algiers 1830 für den islamischen Orient zu interessieren. Britische Adelige und amerikanische Großbürger ließen sich Schlösser und Villen im orientalischen oder maurischen Stil bauen, mit Ornamenten reich verziert. Inseln der Flucht aus dem hektischen Alltag, Orte orientalischer Genüsse wie Kaffeehäuser, Restaurants und Ausstellungs-Pavillons waren im orientalischen Stil gehalten. Persische Teppiche erlebten seit den 1860er Jahren einen regelrechten Boom, und jedes reiche Haus musste zumindest ein „orientalisches Zimmer“ oder eine orientalische „Ecke“ haben.3
Die großen Warenhäuser richteten Orient-Abteilungen ein. Dabei wurde die Qualität der Handarbeit besonders betont. Auch Einrichtungszeitschriften förderten den Trend weg vom strengen Französischen Stil hin zu den dunkleren, warmen Tönen türkischer Polster, Vorhänge und Teppiche. Zwischen 1880 und 1915 waren in Westeuropa und den USA mit Teppichen gepolsterte Möbel in Mode. Die günstigeren Teppiche dafür kamen aus dem Mittleren Osten, vor allem aus Teilen Russlands, namentlich dem Kaukasus und den turkmenischen Gebieten Zentralasiens.4
Diese Mode erfasste auch die Eliten des Zarenreiches. Fotos aus den reichen russischen Häusern entsprechen ähnlichen Aufnahmen aus Frankreich, England oder den USA: Reich und bis unter die Decke mit orientalischen Teppichen und Kissen dekorierte Räume oder Ecken mit Poufs, mit Teppichen gepolsterte Sessel und Diwane laden zum Verweilen und Träumen ein. Oft wurden über den Teppichen nach kaukasischer Manier Waffen angebracht.5
Sowjetische Kontinuitäten
In Russland waren die „orientalischen Zimmer“ vor dem Ersten Weltkrieg ein bei der adligen Jugend, aber auch in Künstlerkreisen beliebter Treffpunkt. Nach der Revolution gingen sie mit in die Emigration. Aber die Mode wurde von den sowjetischen Eliten übernommen. In der jungen Sowjetunion erhielt die Teppichproduktion durch staatliche Aufträge eine neue Dimension: Turkmenische, aserbaidschanische, armenische, ukrainische, moldawische, kasachische und dagestanische Manufakturen produzierten nun hochwertige handgeknüpfte Teppiche für die ganze Sowjetunion und für den Export. Hinzu kam die maschinelle Produktion von Teppichen für die breite Nachfrage. Sowjetische Teppiche waren auch in Europa und in den USA in den 1920er Jahren eine ernstzunehmende Konkurrenz.6
Nach 1945 verbreiteten sich in einer günstigen Variante gefranste Bildwandbehänge (russ. „Schpalery“) mit Rehen, Bären, Schwänen oder röhrenden Hirschen, aber wer es sich leisten konnte, besaß echte, wollene Teppiche mit orientalischen Mustern.7 So ein Teppich konnte zu Sowjetzeiten ein Jahresgehalt kosten.
Prestigeträchtiges Symbol des Luxus
Fotos sowjetischer urbaner Interieurs der 1950er Jahre zeigen die Teppiche als Ausdruck gehobener Wohnlichkeit, gerade auch in Künstlerkreisen, der Bohème, aber auch bei Lehrern und Ingenieuren. Manche Aufnahmen aus der Zeit zeigen Familien in Interieurs, in denen Boden, Wände und Sofa, zuweilen sogar der Tisch mit Teppichen bedeckt sind, sodass zumindest im Bild überhaupt keine freien Flächen sichtbar sind.
Nach einer kurzen Zeit in den 1960er Jahren, als ein minimalistischer Einrichtungsstil modern war und die Ratgeberliteratur eine radikale Entrümpelung der kleinbürgerlichen Interieurs von überflüssigem Kitsch verlangte, war in den 1970er Jahren die Gemütlichkeit Trumpf, und die Teppiche vermehrten sich inflationär. Mit der massenhaften Verbreitung nahm der Anteil industriell hergestellter Teppiche zu. Auch Importe aus Bulgarien, Rumänien und der Tschechoslowakei waren auf dem Markt.
Die Sowjetunion versprach ein Leben im Wohlstand, und die Teppiche waren ein prestigeträchtiges Symbol des Luxus. Geschätzt waren vor allem Teppiche aus Turkmenistan, Aserbaidschan, Georgien, Armenien und Dagestan als wertvolle Kunstgegenstände.8
Staubfänger, nostalgisches Kultobjekt oder therapeutischer Rückzugsort
Heute scheiden sich die Geister. „Für mich ist es kulturlos, wenn das Bett neben einer kahlen Wand steht, als wäre es eine Mönchskammer oder Gefängniszelle“, „mit ihm ist es irgendwie gemütlicher und für die Seele wärmer“, „wenn ich ins Zimmer komme, habe ich das Gefühl, ich würde diesen Teppich umarmen, wenn ich nur könnte“. Andere fragen sich dagegen: „Wie schwachsinnig muss man sein, um einen Teppich in seiner stinkigen Chruschtschowka aufzuhängen?“ Der Teppich sammle Staub, diene als Unterkunft für Zecken, Mücken und andere Parasiten, der Raum sehe kleiner aus, primitiv, geschmacklos, eben echte „asiattschina“.9 Generell wird darüber sinniert, ob der Wandteppich eine Eigenart oder eine Geschmacklosigkeit ist.
Während ein Teppich an der Wand im heutigen Russland den einen als Zeichen von Kulturlosigkeit und Sowok gilt, verkünden andere in Einrichtungsratgebern neuerdings die Rückkehr des Wandteppichs und zeigen modische Varianten. Das Online-Medium Lenta.ru etwa berichtet über die Rückkehr der Wandteppiche in die russischen Wohnzimmer im Zuge der Sowjetnostalgie und findet kulturelle und psychologische Erklärungen: Die Wandteppiche seien nicht nur eine sowjetische Besonderheit gewesen, sondern bis heute Teil des sowjetischen visuellen Gedächtnisses. Sie würden Vertrautheit vermitteln und angenehme Erinnerungen an die sowjetische Stabilität und Geborgenheit auslösen, an Feste und Geselligkeit, aber mit ihrer Ornamentik auch an nicht-russische Exotik, die Teil des sowjetischen (imperialen) Alltags war und die außerhalb der Bilder der sowjetischen Vergangenheit in Vergessenheit geriet. Der Teppich spiele gar eine wichtige therapeutische Rolle, indem sein Anblick bestimmte Reaktionen auslöse, angenehme Erinnerungen an die eigene Jugend, das Gefühl der Einzigartigkeit und Ruhe durch Selbstvergewisserung.10
zum Orient-Boom vgl.: Ittig, Annette (1992): Ziegler’s Sultanabad Carpet Enterprise, in: Iranian Studies, Vol. 25, No. 1/2: The Carpets and Textiles of Iran: New Perspectives in Research (1992), S. 103-135; Roxburgh, David J. (2000): Au Bonheur des Amateurs: Collecting and Exhibiting Islamic Art, ca. 1880-1910, in: Ars Orientalis, Vol. 30: Exhibiting the Middle East: Collections and Perceptions of Islamic Art (2000), S. 9-38; Roth, Rodris (2004): Oriental Carpet Furniture: A Furnishing Fashion in the West in the Late Nineteenth Century, in: Studies in the Decorative Arts, Vol. 11, No. 2, S. 25-58; zu Russland vgl.: berlogos.ru: Kover na stene: tradicii i sovremennost↩︎
Ittig, Anette (1992), S. 108. Orientalische Zimmer tauchten auch in der Literatur auf, etwa in Emile Zolas Erzählung Au bonheur des dames (1884). Gemälde wie die Odalisken des Orientalisten Henri Matisse zeigen die dekorativen, an Ornamenten reichen Interieurs noch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. ↩︎
Der russische Schriftsteller Michail Lermontov beschrieb das orientalische Zimmer mit Waffen in den 1830er Jahren in seinem Romanversuch Fürstin Ligovskaja (1836/37, publ. 1882). ↩︎
„Es will mir scheinen, als gäbe es für dieses Land, dieses Volk, diesen Staat kein gemäßeres und aufschlußreicheres Symbol als diese zunächst recht einfach aussehende und fast einfältig dreinschauende Holzpuppe.“1 Dies befand in einem Reisebericht Rudolf Hagelstange, der 1962 zusammen mit Heinrich Böll und Richard Gerlach die Sowjetunion besuchte. Gemeint waren die hohlen gedrechselten Puppen der Matrjoschka, die sich öffnen lassen und weitere ähnlich gestaltete kleinere Puppen enthalten.
Reiseberichte wie dieser zeugen von der damaligen Faszination von dem Land jenseits des Eisernen Vorhangs. Beseelt durch eine ungebrochene Revolutionsnostalgie und begeistert von der klassischen russischen Kultur beschäftigten sich Intellektuelle mit Russland, von ihren Erkundungsreisen brachten sie Matrjoschkas als Erinnerungsstücke mit.2 Die im Innern der Matrjoschka verborgenen „Puppen in der Puppe“ galten dabei vielen als Sinnbild des „Geheimnisses“ Russlands: Der Mythos Russlands als tiefgründiger Gegenpart des streng linear denkenden Westens spiegele sich hier wieder.
In der Sammelleidenschaft für die Matrjoschka vermischen sich bis heute Imaginationen vom alten Russland mit den gegenwärtigen Eindrücken vom Land im Osten.
Auch wenn Matrjoschkas etwas traditionell Ur-Russisches zu sein scheinen, sind die ersten Puppen erst im ausgehenden 19. Jahrhundert erfunden worden: Sie entstanden im Zuge des Revivals des russischen Kunsthandwerks, das patriotische Kreise initiierten.3 Pate stand der Wunsch nach einer eigenen nationalen Moderne. Die KünstlerkolonieAbramzewo bei Moskau, Landsitz des Moskauer Unternehmers Sawwa Mamontow, gilt als Geburtsstätte der Matrjoschka (der Name ist abgeleitet vom russischen Vornamen Matrjona): Der Künstler Sergej W. Maljutin entwarf 1892 die Figur einer Bäuerin mit kegelförmigem Leib, in Schürze und Kopftuch und mit einem schwarzen Huhn in der Hand. Heute wird sie im Spielzeugmuseum von Sergijew Possad bei Moskau aufbewahrt.
Über die Vorbilder gibt es keine verbindlichen Nachweise. Das Steckprinzip sowie die weibliche Puppenfigur entstammen einer Spielzeugkultur, die in vielen Ländern durch verschiedene gesellschaftliche Schichten hinweg zu Hause ist.4 Die Matrjoschka ist damit tatsächlich eine synkretistische Gestalt: Schon die berühmten Fabergé-Eier, die zwischen 1885 und 1917 in Russland gefertigt wurden, ließen sich öffnen und enthielten zahlreiche Überraschungen. Walter Benjamin berichtet 1926 von einer volkstümlichen Variante – zusammensteckbaren Eiern aus Holz, die auf Moskauer Märkten feilgeboten wurden. In diesem Zusammenhang bezeichnet er Spielwaren allgemein als „gesunkenes Kulturgut“, das Fertigungstechniken und Motive durch unterschiedliche Klassen trage.5 Puppen in Frauengestalt hingegen waren sowieso weit verbreitet, in Russland vor allem als bäuerliche Erntefetische.
Matrjoschkas als Exportgut
Die zunehmend farbenfrohen Matrjoschkas wurden vor allem in den Spielzeugwerkstätten bei Moskau (Sergijew Possad und andere) und Nishni Nowgorod (Semjonow) gefertigt. Die Figuren waren bald auf internationalen Kunstgewerbe- und Weltausstellungen zu sehen und standen dort für die vermeintlich intakten Traditionen des russischen Volkes. Damit waren Matrjoschkas von Anfang an überwiegend Exportgut.6
Die sogenannte Volkskunst (narodnoje Iskusstwo) war später in der Sowjetunion ein kulturpolitisch wichtiger und florierender Zweig. Schließlich ließ sie sich gut für eine angebliche Kulturtradition des Arbeiter- und Bauernstaates vereinnahmen. Die expandierenden Produktionsstätten kunstgewerblicher Gegenstände – neben der Matrjoschka beispielsweise auch die Palech-Lackarbeiten – steckten ein russisches Herzland in der Sowjetunion ab. Die Matrjoschka stand damit am Beginn einer russozentrischen Durchdringung der sowjetischen Kultur mit Folkloren, die, dem Prinzip der Korenisazija folgend, Handwerke der Nationalitäten kultivierte.7 Anfangs aufwändig poliert, dann einfach lackiert, avancierte die Matrjoschka zum Souvenirartikel par excellence, der dann in der späten Sowjetunion ausschließlich für das ausländische Touristengeschäft zur Verfügung stand.8
Die Vielheit in einem Körper
Über die typische künstlerisch-handwerkliche Gestaltung hinaus eignet dem Formprinzip der Matrjoschkas eine symbolhafte Qualität. Das Öffnen der runden Figuren verheißt eine unerschöpfliche Fülle (der Rekord wird unterschiedlich mit 24 bis 72 Püppchen angegeben). Die Matrjoschka birgt Vielheit in einem Körper und stellt damit idealtypisch eine volkstümliche Gemeinschaft dar.
Dieses Thema ist auch in der zeitgenössischen Kunst aufgenommen worden: Der Querschnitt einer Matrjoschka als überlebensgroßes Wandgemälde – eine Arbeit von Pavel Pepperstein für die Manifesta 10 in St. Petersburg – lädt die Betrachter ein, Teil des Gebildes zu werden.9 Daniel Knorr wiederum reflektiert im Motiv der Matrjoschka dieses nationale Stereotyp: Scharen aus Matrjoschkas bevölkern wie eine Invasion eine gesamte Ausstellungsetage der Neuen Pinakothek München und sprengen das Bild einer geschlossenen Volksgemeinschaft. Gefertigt und angekauft war diese Arbeit bereits in den 1990er Jahren, als der Kunstmarkt nach osteuropäischen Motiven der „postcommunist condition“ suchte.10
Das Matrjoschka-Prinzip
Das Motivrepertoire der Matrjoschka erweiterte sich bereits in der Sowjetzeit: Varianten waren sowjetische Heldentypen des Sportlers, des Arbeiters oder des Militärs. Kennzeichnend für Perestroika und die postsowjetische Zeit ist die politische Matrjoschka: Bekannt sind vor allem die Figuren der Präsidenten Michail Gorbatschow oder aktuell Wladimir Putin, die ihre Vorgänger über Stalin zu Lenin inkorporieren. Darin enthüllen sie eine anrüchige Herrschergenealogie.
Die Matrjoschka mit den Konterfeis von Wladimir Putin affirmiert die vielen Gesichter des Präsidenten als Volkshelden und heroischem Allrounder. Die spät- und nachsowjetische Souvenirindustrie koppelte die Matrjoschka auch von ihrem ursprünglichen bedeutungsvollen Formprinzip ab und applizierte sie auf Stifte oder auf Schmuckgestände.
Das „Matrjoschka-Prinzip“ ist heute einerseits ein pragmatisches Designkonzept für eine raumsparende und funktionale Objektgestaltung, andererseits auch umgangssprachlicher Ausdruck für ein Täuschungsmanöver oder ein falsches Versprechen. Die Verballhornung des Motivs dauert außerdem an und gewinnt an Breite: Seit einiger Zeit finden sich Matrjoschkas vor allem auch auf Kinderstoffen und bilden ein beliebtes Motiv im Retrodesign einer vermeintlich heilen Welt.
Hagelstange, Rudolf (1963): Die Puppen in der Puppe: Eine Russlandreise, S. 6-7 ↩︎
Babiracki, Patryk/Zimmer, Kenyan (Hrsg.) (2014): Cold War Crossings: International Travel and Exchange in the Soviet Bloc, 1940s-1960s, Texas ↩︎
Salmond, Wendy R. (1996): Arts and Crafts in Late Imperial Russia: Reviving the Kustar Art Industries, 1870-1917, Cambridge ↩︎
Im Spielzeugmuseum von Sergiev Possad wird beispielsweise eine japanische Fukuruma-Puppe aus dem Jahr 1932 aufbewahrt, die ebenfalls in dem Steckprinzip gefertigt ist. Auch der Mäzen Mamontov soll eine solche Puppe besessen haben, in der Sammlung des Freilichtmuseums Abramtsevo findet sich diese jedoch nicht. ↩︎
„Oft ist die sogenannte Volkskunst nur gesunkenes Kulturgut einer herrschenden Klasse, das, in ein breiteres Kollektivum aufgenommen, sich erneuert“, Benjamin, Walter (1929): Spielzeug und Spielen: Randbemerkungen zu einem Monumentalwerk (=Rezension zu Gröber, Karl: Kinderspielzeug aus alter Zeit (1929)), in: Gesammelte Schriften III, Kritiken und Rezensionen 1912-1931 ↩︎
Walter Benjamin, der Liebhaber russischer Spielwaren, bezeichnete sie schon 1930 als Stereotyp, siehe Benjamin, Walter (1926/1927): Moskauer Tagebuch, zit. nach Benjamin, Walter (1930): Selbstzeugnisse, in: Benjamin, Walter (1980): Über Kindheit, Jugend und Erziehung, S. 91-94, 92 ↩︎
Jenks, Andrew L. (2002): From Periphery to Center: Palekh and Indigenization in the Russian Heartland, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 3, 3, S. 427-458 ↩︎
Siehe den Abriss über die Produktionsgeschichte von Angela Huber in: Franz, Norbert P. (2002): Lexikon der russischen Kultur, S. 285-286 ↩︎
Am 5. April 1977 rollte der erste Lada Niva vom Fließband. „Er war für die ländliche Bevölkerung der Sowjetunion entwickelt worden, doch der Niva-Kult breitete sich rasch weit über die Grenzen der UdSSR hinweg aus. Über eine halbe Million Autos wurden in alle Welt exportiert: nach Europa, Lateinamerika, Afrika und Australien. Das Auto hatte ein paar technische Vorteile, eine komfortable Ganzmetallkarosserie und eine Einzelradaufhängung an der Vorderachse – und im internationalen Vergleich war es nicht teuer“, schreibt Roman Koroljow auf Zapovednik.
Nach so viel Theorie hat es ihm der Lada Niva auch in der Praxis angetan: Kurz nach dem Niva-Geburtstag besuchte Koroljow im April eine Niva-Ralley nahe Moskau – bitte anschnallen, und ab geht’s durch Schlamm, Pfützen und Gestrüpp!
Mit dem Niva wurden Weltrekorde aufgestellt: Man fuhr damit auf den Mount Everest (auf eine Höhe von 5200 m) und ins tibetische Hochland im Himalaya (5726 m), man warf ihn mit einem Fallschirm über dem Nordpol ab, fuhr damit auf der sowjetischen Antarktis-Station Bellingshausen herum. Überall zeigte sich der sowjetische Offroader als absolut unkaputtbar. Heute gibt es Niva-Fanclubs in Japan, Kanada, Island und Russland.
Der Klub Leschi, der schon seit sechs Jahren Orientierungsrennen im Gelände veranstaltet, führte vergangenes Jahr Teilnahme-Beschränkungen ein: Zum Turnier sind jetzt nur noch heimische Autos zugelassen. In diesem Jahr, dem Jubiläumsjahr des Niva, ausschließlich Nivas.
Das Rennen findet zwei Kilometer vom Dorf Makarowo entfernt statt, nahe dem Flughafen Tschernogolowka. Der Ort wurde speziell für Leute ausgesucht, die meinen, russische Feldwege seien gut befahrbar und „easy“.
Der Barde Igor Rasterjajew besingt die Romantik des Mähdrescherfahrers
Auf Holzkohlegrills brutzeln Schaschliks, aus Lautsprechern dröhnen Lieder über richtige Männer. „Die haben keine teure Garnitur / machen sich nichts aus Emo-Kultur / hängen nicht rum auf VKontakte, online / die hauen auf ihren Mähdreschern rein“, besingt der Barde Igor Rasterjajew die Romantik des Mähdrescherfahrers.
Denis Basanow, ebenfalls Organisator des Wettbewerbs, gibt den Teilnehmern der Runde ein letztes Wort mit auf den Weg und warnt sie ausdrücklich davor, auf das Gelände des Flugplatzes Tschernogolowka zu geraten: „Wer auf die Startbahn hinauslenkt, muss das selber mit dem Sicherheitsdienst regeln!“
Am Start stehen zwanzig Nivas. Jeder mit einer Crew aus zwei Personen: dem Fahrer und dem Co-Pilot. Die erste Etappe sind Rundstreckenrennen. Bei jeder Runde kommen drei Teilnehmer dran, und Sieger ist, wer als Erster durch Sümpfe, Gestrüpp, Schlaglöcher und riesige Pfützen hindurch das Ziel erreicht.
In der Mitte des Kreises sind ein paar Hügel, von denen aus die Fans zusehen. Sobald einer der Organisatoren mit wehender Fahne das Signal zum Start gibt, rasen die Autos mit Geheule und unter den Rädern hervorspritzenden Matschklumpen los. Die Runden dauern ein paar Minuten, und bald fallen die ersten deutlich zurück. Ein Auto, aus dem dicker Rauch qualmt, wird mit einem Seil abgeschleppt.
Sieger ist, wer als Erster durch Sümpfe, Gestrüpp, Schlaglöcher und riesige Pfützen hindurch das Ziel erreicht
Im zweiten Teil des Wettbewerbs geht es um Orientierung. Die Organisatoren sind im Umkreis von fünf Kilometern den Wald abgefahren und haben an Bäumen, Baumstümpfen und sonstigen Wegemarken mit grüner Farbe die Zahlen 1 bis 31 aufgemalt und diese Stellen mit GPS-Koordinaten versehen. Wer es schafft, innerhalb der für diese Etappe vorgesehenen vier Stunden die meisten dieser Stationen abzufahren, hat gewonnen.
Der Niva ist das Günstigste, was man kaufen und ummodeln kann
In der zweiten Etappe ist es besonders wichtig, dass Fahrer und Beifahrer gut aufeinander eingespielt sind: Indem er mit dem GPS-Navigator die Punkte sucht, hat der Beifahrer die Rolle des Steuermanns.
„Wenn etwas kaputtgeht, kann ich es in der Garage austauschen und zum nächsten Wettkampf fahren.“
„Ich heiße Sergej, der Beifahrer ist Dimitri“, stellt sich mir ein junger Mann mit magerem Gesicht und weißem Helm vor, in einem eigentlich weißen, aber jetzt mit einer Dreckschicht überzogenen Wagen. „Bei mir hat dieser Sport damit angefangen, dass Freunde ein Auto gekauft und Denis Basanow kennengelernt haben. Sie sind gefahren und haben mich zum Zuschauen eingeladen. Ich habe mir das angeguckt und musste sofort auch so ein Auto haben, es präparieren, Offroadsport machen. Meine Finanzen gaben die Wahl des Autos vor: Der Niva ist das Günstigste, was man kaufen und ummodeln kann. Wenn etwas kaputtgeht, kann ich es in der Garage austauschen und zum nächsten Wettkampf fahren. Das Herrichten nimmt viel Zeit in Anspruch – den Motor auszutauschen hat den ganzen Winter gedauert. In einer Werkstatt geht es natürlich schneller.“
Das Gespräch wird vom Startsignal zur zweiten Etappe unterbrochen. Der Großteil der Autos ist bald nicht mehr zu sehen. Wer heute „ohne Pferd“ gekommen ist, hat zwei Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben: Die zu verspotten, die Pech hatten, oder ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Zwei Fahrzeuge bleiben schon nach wenigen hundert Metern im Morast stecken, die Reifen drehen durch.
Wer sein Auto schonen will, hat hier nichts verloren
„Der Sieg hängt von vielen Faktoren ab: vom Auto natürlich am meisten, und sonst – vom Piloten genauso wie vom Steuermann. Manchmal sind nach den Wettkämpfen nur Kleinigkeiten kaputt, manchmal muss man das Auto komplett neu zusammensetzen. Wer sein Auto schonen will, hat hier nichts verloren, zumindest keinen Preis zu gewinnen. Dann wieder sieht einer, dass es etwas zu holen gibt, und tritt das Gaspedal durch“, erzählt mir der Rennfahrer Denis, dessen Eisengaul jetzt zerlegt in der Garage steht, weswegen er nicht am Rennen teilnehmen kann.
Im Grunde kommen die Leute vor allem hierher, um sich auszutoben
„In der Stadt ist es langweilig. Im Grunde kommen die Leute vor allem hierher, um sich auszutoben, im Matsch zu wühlen, etwas zu erleben, um danach etwas zu erzählen zu haben”, so Denis weiter. „Geld kann man ohne Ende reinstecken: immer wieder Stoßstangen, Seilwinden, Luftbälge. Ein Auto ist wie eine Datscha, du kannst einfach damit leben oder reinbuttern und reinbuttern. Wenn es um die praktische Anwendung geht, sind das Ausflüge, Jagd und Angeln. Mit dem Niva kommst du überall hin.“
Wenn am 21. Juni 2016 nicht das Verbot von Fahrzeugtuning beschlossen worden wäre, würden zehnmal so viele Leute zu Rennen kommen, ist Denis überzeugt. Das Verbot hat alle eigenmächtigen, über die Erstausstattung hinausgehenden Modifizierungen von Fahrzeugen praktisch unzulässig gemacht – also die zentrale Leidenschaft, die die hier Versammelten miteinander verbindet.
Der Autobesitzer ist verpflichtet, die vorgenommenen Veränderungen abzumontieren oder in einem speziellen Zertifizierungszentrum zu legitimieren, doch solche Einrichtungen gibt es nur in Moskau und St. Petersburg, und für ihre Dienste zahlt man stattliche Summen.
Furchen voller Schlammsuppe
Der große, korpulente, rundgesichtige Oleg und sein Freund Anton, mit Brille und kurz geschorenem Haar, versorgen ein Team, das mit den Vorderrädern endgültig in einer Furche voller Schlammsuppe feststeckt, mit nützlichen Tipps. Der Fahrer heißt Alexej und ist 37, seine Frau Vera ist drei Jahre jünger und navigiert. Am Anfang stand sie dem Hobby ihres Mannes skeptisch gegenüber, aber vor einem Jahr fuhr sie zum ersten Mal mit auf einen Wettkampf und fing Feuer. Unter all den Männern in schmutzabweisender Tarnkleidung und Trainingsanzügen wirkt Vera in ihrem hell leuchtenden Kurzmantel im wahrsten Sinn des Wortes wie eine „weiße Krähe“. Ihr Mantel ist voller Dreckspritzer, aber das scheint sie nicht zu stören.
Die Rettung des Autos dauert eineinhalb Stunden
Anton sagt, bei Rennen hänge 40 Prozent des Erfolgs vom Intellekt ab, alles andere sei Können. Jetzt brauche es Intelligenz, um das Fahrzeug aus dem Sumpf zu ziehen. Bei den Wettkämpfen hilft jeder jedem und einer der Teilnehmer bindet ein Seil an die Stoßstange. Doch ob dieser Bemühungen versinkt der Niva von Vera und Alexej nur noch tiefer im Schlamm. „Na, der hat aber geholfen!“, sinniert Oleg laut. „Wenn der zu jedem hinfahren und ihm so unter die Arme greifen würde: siehst du, wieder ein Konkurrent weniger. Für so eine Hilfe sollte man dem eine reinhauen!“
„Mit dem Niva kommst du überall hin“
Alexej hebt schnaufend vor Anstrengung die Seiten des Niva abwechselnd mit einer Seilwinde hoch. Motorwinden sind beim Wettbewerb heute verboten – ein eingesunkenes Auto darf man nur mit eigener Muskelkraft herausziehen. Nach dem ebenfalls hier veranstalteten Motocross liegen überall auf den Hügeln Reifen verstreut: Alexej und Vera rollen welche zum Auto und legen sie unter die Räder. Der Niva sinkt trotzdem ein, und Alexej ist schon drauf und dran aufzugeben, doch Oleg macht ihm klar, dass noch nicht alles verloren ist. Wenn man ruckartig aufs Gas steigt, würden die Hinterräder auf die Reifen hüpfen und der Wagen aus dem Loch gehoben.
Man muss selbst von oben bis unten verdreckt sein – nur so kriegt man ein Gespür für die Philosophie dieses Sports
Das funktioniert plötzlich. Die Rettung des Autos hat eineinhalb Stunden gedauert, es hat gerade mal fünf Punkte gesammelt, bevor es steckengeblieben ist. Oleg redet auf die Crew ein, das Rennen nicht auf halbem Weg aufzugeben. Wenn man bedenkt, wie viele Teilnehmer wegen verspäteter Ankunft im Lager disqualifiziert werden, hat das Paar mit seinen fünf Punkten durchaus noch eine Chance auf den Sieg.
„Dreck“ ist eines der häufigsten Wörter im Vokabular der Offroad-Rennfahrer
„So ein Rennen muss man selbst erlebt haben“, sagt Anton zu mir. „Selber fahren, selber fiebern. Man muss selbst von oben bis unten verdreckt sein – nur so kriegt man ein Gespür für die Philosophie dieses Sports. Den Mantel können Sie halt dann in die Tonne werfen.“
„Dreck“ ist eines der häufigsten Wörter im Vokabular der Offroad-Rennfahrer. Noch öfter als vom Dreck sprechen sie nur von den Autos selbst.
Öfter als vom Dreck sprechen sie nur von den Autos selbst
Ich darf als Teil der Crew auf dem Rücksitz Platz nehmen. Alexej drückt das Gaspedal durch, und wir düsen durch den Wald, mit scharfen Kurven und hohen Sprüngen über Schlaglöcher. Zweige schlagen gegen das Autodach, Matschklumpen spritzen an die Seitenscheiben. Das Gespräch wird ständig unterbrochen, weil Alexej alle fünf Minuten Halt macht und aus dem Auto springt, damit Vera sein lachendes Gesicht an jeder nächsten erreichten Station knipsen kann.
Wie durch ein Wunder springt der Niva doch wieder an, und das Rennen geht weiter
Das Auto, mit dem wir jetzt fahren, hat drei Jahre herrenlos im Gebüsch gestanden und vor sich hin gerostet, alle Kabel waren durch. Seine Instandsetzung hat Alexej ein halbes Jahr gekostet. Während wir reden, stirbt der Motor nochmal ab, und erfolglose Startversuche nehmen etwa weitere zwanzig Minuten in Anspruch. Wie durch ein Wunder springt der Niva doch wieder an, und das Rennen geht weiter.
„Ich weiß gar nicht, woher ich diese Begeisterung habe. Aber schon als Kind hat mir genau das gefallen – querfeldein fahren, einfach so. Ich gehe nicht mal jagen oder angeln – nein, das reizt mich überhaupt nicht. Das Wichtigste für mich – lasst mich durch den Dreck ackern! Offroad-Rennen sind wirklich lustig. Wirklich lustig und wirklich teuer“, fasst Alexej Vor- und Nachteile seines Hobby zusammen.
Nach diesen Worten rammt das Hinterteil des Autos mit voller Wucht gegen einen auf der Erde liegenden Baumstamm. Schön langsam packt mich der sportliche Eifer, doch das Paar beschließt, mit seinen 15 gesammelten Punkten ins Lager zurückzukehren. Sie hinterlassen, wie die anderen Teilnehmer auch, geknicktes Gestrüpp und von tiefen Fahrspuren zerfurchte Felder.
Sie hinterlassen geknicktes Gestrüpp und von tiefen Fahrspuren zerfurchte Felder
Glaubt man der russischen Werbung, vermögen Russen große Kälte und außerordentliche Hitze zu ertragen. Beweise dafür sind Polarexpeditionen, das winterliche Baden in Eislöchern und die Banja.1 Neuerdings häufen sich ernsthafte Klagen, dass der sowjetische Winter besser gewesen sei als die Winter heutzutage: mehr Schnee, mehr Platz, kälter, feierlicher, insgesamt „winterlicher“ und für Kinder viel interessanter.2 Dieses privilegierte Verhältnis zur Kälte dürfte ein Grund dafür sein, dass Eiscreme als russische Nationalspeise gilt. Sie gilt sogar als der „Heilige Gral der Sowjetnostalgie“,3 als das russische Pendant zur Madeleine, deren Duft Marcel Proust schlagartig in seine Kindheit zurückversetzte.
Wohl kaum irgendwo sonst nimmt Eiscreme einen vergleichbar prominenten Ort im kollektiven Gedächtnis ein wie sowjetisches Eis in Russland. Im Eis materialisiert sich die Erinnerung an geteilte Erlebnisse und an eine gemeinsame Lieblingsspeise. Nicht Großmacht-Nostalgie kommt hier zum Vorschein, sondern auf der sinnlichen Ebene des Alltags ein heimeliges Gefühl der Zusammengehörigkeit – trotz der Größe des Landes.
Sowjetisches Eis war legendär
„In die UdSSR musste man aus drei Gründen reisen: Um das Ballett zu sehen, in den Zirkus zu gehen und um das dortige Eis zu probieren“, schrieb Diana Kaminskaja im Jahr 2009 in der ukrainischen Online-Zeitung Nowaja unter dem Titel Die leuchtende Vergangenheit: Der Leckerbissen in der Hand oder warum das sowjetische Speiseeis als das beste der Welt galt.4 Ihr Artikel wurde anschließend von zahlreichen Nostalgie-Seiten übernommen, reich bebildert, auf Russland bezogen und erweitert.5 Die Nostalgieseiten Wir aus der Sowjetunion und Leben in der UdSSR führen etwa aus, vor der Perestroika seien 2000 Tonnen des sowjetischen Speiseeises jährlich exportiert worden und im Ausland „ausschließlich in teuren Restaurants zu ganz unsowjetischen Preisen“ erhältlich gewesen.6 Die Beiträge zeigen Bilder vermummter Männer mit Pelzmützen, die im Schneegestöber Eis im Waffelbecher genießen und betonen eine nationale Besonderheit, nämlich dass Sowjetbürger zum Erstaunen ausländischer Beobachter Eis auch im Winter bei Minusgraden auf der Straße aßen.7 „Der Niedergang des sowjetischen Eises kam mit der Perestroika. Von 1990 an wurde das Land von Importeis voller chemischer Streckmittel geflutet“ heißt es bei Kaminskaja und ihren Epigonen im Netz.
Vom Kapitalismus enttäuscht
Die anfängliche Begeisterung für die lang ersehnten Produkte aus dem Westen wich angesichts der schlechten Qualität von Billigstwaren sehr bald der Ernüchterung. Die Rubelkrisen von 1992 und 1998 förderten ebenfalls die Rückbesinnung auf russische Güter. Angesichts des Raubtierkapitalismus erschien die Gesellschaft vor der Perestroika als verlorenes Paradies, das trotz einiger Mängel doch grundsätzlich von Solidarität und der Gleichheit aller geprägt war. Beliebte sowjetische Lebensmittel wie der Schmelzkäse Drushba (dt. Freundschaft), die Schokolade Alenka und Doktorskaja-Wurst erlebten eine Renaissance, weil sie eng mit den Biographien ganzer Generationen verwoben und fester Bestandteil sowjetischer Kochrezepte waren. Sie verkörperten in unsicheren Zeiten die Vision überschaubarer, gerechter „sowjetischer“ Verhältnisse.
Paradoxerweise waren viele dieser beliebten sowjetischen Nostalgiespeisen zu Sowjetzeiten schwer erhältliche Güter und somit Teil einer Kultur der Ungleichheit. Auch das Eis blieb für viele eine Verheißung: Da Eis auf Kühlanlagen angewiesen ist und diese in der Sowjetunion rar waren, war es außerhalb größerer Städte schwer zu bekommen. Die Delikatesse Lakomka (dt. Leckermaul), eine Rolle gefrorener Schokoladencreme mit Vanilleeisfüllung, wurde sogar ausschließlich in Moskau verkauft. Kein Wunder, dass sich um solche raren Belohnungen Legenden rankten!
Eine Errungenschaft des Stalinismus
Anastas Mikojan, Minister für Lebensmittelindustrie und Herausgeber des 1939 erschienenen Buches der schmackhaften und gesunden Speisen, sorgte dafür, dass Eiscreme ab 1938 in die Massenproduktion kam. Es war die Zeit des Großen Terrors. Sowjetisches Eis wurde, so heißt es, ganz ohne Konservierungsmittel aus reiner Milch hergestellt und hatte daher einen einzigartigen, unvergesslichen Geschmack. Die von der Prüfstelle GOST8 garantierten Qualitätsstandards sorgten dafür, dass die kalte Delikatesse überall im riesigen Land gleich schmeckte.
Angesichts entbehrungsreicher Industrialisierungskampagnen und durch die Zwangskollektivierung verursachter Hungersnöte jagte die sowjetische Führung „Saboteure“ und warb für die lichte Zukunft. Einige kleine, sofort erhältliche Luxusgüter wie sowjetischer Champagner, Schokoladenkonfekt und das Speiseeis schafften den Sprung vom Plakat in die Hand. Endgültig gelang dies durch die Konsumoffensive Chruschtschows in den späten 1950er Jahren.
Einen wichtigen Beitrag dazu leistete eine sowjetische Besonderheit, nämlich die Verwendung des Trockeneises, das während des Großen Vaterländischen Kriegs zur Unterstützung der störanfälligen Kühlanlagen genutzt wurde. Ende der 1950er Jahre entstand eine Flotte isolierter, Trockeneis-gekühlter Eiswägelchen, die von älteren Frauen in hygienischen weißen Kitteln und Kopftüchern durch die Straßen geschoben wurden und in den 1960er Jahren zum Straßenbild größerer Städte gehörten.9
In einem Land, in dem die regelmäßige Versorgung mit frischen Milchprodukten unsicher blieb und sogar Zucker nur sporadisch in die Läden kam, bedeutete das frische Milchspeiseeis aus dem Kühlwägelchen eine günstige und regelmäßig verfügbare Delikatesse. Eiscreme wurde Teil der glücklichen sowjetischen Kindheit.
Retro-Linien als Stützen identitärer Politik
In den Erinnerungen daran vereint das Eis Alte und Junge, Große und Kleine. Mittlerweile hat jeder größere Eiscremehersteller mindestens eine Retro-Linie im Programm, um am Trend mitzuverdienen. Nicht nur die Rezeptur, auch die Verpackungen sind an Stil und Motive aus der Sowjetzeit angelehnt. Die raue Haptik des Papiers, vertraute Formen und Symbole wie Eisbären wecken nostalgische Erinnerungen. Rote und blaue Rauten auf weißem Grund zitieren sowjetische Milchpackungen. Einfache Kartonschachteln knüpfen an Familienpackungen der 1960er Jahre an. Die Retro-Linien heißen wie früher, Pure Linie, SSSR oder wie zu Sowjetzeiten Plombir, Eskimo, Moroshenoje. Der Trend dauert an.
Die Qualität der „volkseigenen“, reinen Lebensmittel hat durchaus politisches Potential: Beliebte sowjetische Marken und Produktgruppen wie das Eis gehören zum nationalen kulturellen Erbe und haben einen deutlich identitären Charakter. Die Werbung setzt gerne auf nationales Pathos. Eine große Rolle dabei spielen das alte Misstrauen gegen die westlichen Waren, die von Anfang an als von Emulgatoren und Stabilisatoren verseucht galten, und die Überzeugung, dass die einheimischen Lebensmittel gesünder seien.
Es ist das umfangreichste und größte Abriss- und Neubauprojekt, das jemals in Russland vorgenommen wurde: Im Februar verkündete Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin, dass 8000 Wohnhäuser der Stadt, zumeist Chruschtschowki im Plattenbaustil aus den 1950er und 1960er Jahren, abgerissen und ihre Bewohner umgesiedelt werden sollen. Knapp 1,6 Millionen Menschen seien betroffen und 25 Millionen Quadratmeter Wohnfläche – ein Zehntel der gesamten Wohnfläche in Moskau.
Ursprünglich hatten die ersten fünfstöckigen Chruschtschowki nur 25 Jahre als eine Art „Übergangslösung” halten sollen. Heute sind deshalb tatsächlich viele von ihnen in keinem guten Zustand mehr. Doch gerade viele ältere Bewohner verbinden mit den Chruschtschowki nach wie vor eine soziale Verbesserung, eine Wohltat durch den Staat – die das von Chruschtschow initiierte Wohnungsbauprogramm ab Mitte der 1950er Jahre für viele tatsächlich bedeutet hatte. Mit dem Versprechen einer kleinen Wohnung für jede Familie hatte Chruschtschow seine politischen Rivalen nach Stalins Tod ausgehebelt.
Den betroffenen Bewohnern wird die Umsiedlung in Wohnungen im gleichen Bezirk versprochen. Und sogar ein neuer Gesetzentwurf wurde formuliert: Nach Zuweisung einer neuen Wohnung räumt er den Bewohnern eine Einspruchs-Frist von 60 Tagen ein, wenn sie das Angebot der Stadt nicht annehmen oder gerichtlich dagegen vorgehen wollen.
Kritiker des Projekts, wie die Anwohnerin und Aktivistin Kari Guggenberger, argumentieren unter anderem, dass es – egal, wie die Mehrheit entscheidet – schlicht gegen die Verfassung sei, einem einzelnen Eigentümer gegen dessen Willen das Eigentum zu entziehen. Guggenberger hat außerdem wenig Vertrauen in die Zusagen nach gleichwertigem Wohnraum: „Wenn die Behörden unsere Grundfläche brauchen, dann sollen sie uns dafür Geld zahlen, für eine Wohnung und eine Renovierung, damit wir eine Wohnung in einem entsprechenden Haus kaufen und renovieren können. Aber eine solche Regelung ist in dem Gesetzentwurf nicht vorgesehen.“
Nach zunehmendem Unmut der Bürger, gab die Stadt Anfang Mai bekannt, dass die Anwohner von 4566 der ursprünglich 8000 vorgesehenen Häuser nun über den Abriss abstimmen sollen. Das können sie vom 15. Mai bis zum 15. Juni via Internet oder bei den städtischen Bürgerämtern tun. Das Schicksal der restlichen Chruschtschowki bleibt vorerst noch in der Schwebe. Für den 14. Mai haben die Behörden nun eine Demonstration gegen den Abriss genehmigt.
Die Novaya Gazeta hat im April Chruschtschowka-Bewohner in verschiedenen Moskauer Stadtteilen zu Hause besucht – und nach deren Meinung zu den Abrissplänen gefragt.
Maria: Wir vier Geschwister sind in dieser Wohnung geboren und aufgewachsen. Jetzt sind wir erwachsen, haben eigene Kinder. Wenn eine meiner Schwestern mit ihrer Familie zu Besuch kommt, wird es natürlich etwas eng. Aber besser eng als ungemütlich!
Maxim Borissowitsch: Dafür zählt für uns bei jeder Wegstrecke immer nur die Zeit ab der Metrostation (denn bis zur Station Beljajewo sind es nur circa zwei Minuten zu Fuß).
Anna: Wir wollen nicht, dass man das Haus abreißt, in dem wir aufgewachsen sind. Ich unterscheide rechts und links heute noch so, wie Papa es mir beigebracht hat: Wenn man zur Küche schaut, ist links da, wo die Badezimmertür ist, und rechts – da, wo die Wand ist.
Alexander und Aljona Selin Bezirk: Metrogorodok Baujahr: 1959 Einzugsjahr: 1976 Wohnfläche: 72 m2 Bewohner: 5 Personen, 3 Katzen Umzugswunsch: ja, aber innerhalb des Bezirks
Alles ist verrottet, alles ist marode
Alexander: Die Rohre sind verrottet, [*** schimpft Mat], alles ist verrottet, alles ist marode, es rieselt von den Wänden. Ich hab die Schnauze voll von dieser Wohnung. Ich will eine neue! Aber nur in diesem Bezirk. In irgendein Neu-***hausen werd ich nicht ziehen, auf gar keinen Fall. Auch wenn drei Aufforderungen kommen, ich geh hier nicht weg. Ich besorg mir ne Knarre, und dann soll mich mal einer hier rausbekommen. Aber ich weiß, dass sie unser Haus nicht abreißen.
Anastasia, Alexej, Olga Prochorjatow Bezirk: Tuschino Baujahr: 1959 Einzugsjahr: 2006 Wohnfläche: 53,9 m2 (2 Zimmer) Bewohner: 3 Personen, 2 Hunde Umzugswunsch: durchaus (aber nur in eine Pjatietashkamit hohen Decken in demselben Bezirk)
Das hier ist ein Dorf mitten in der Stadt
Olga: Die ersten fünf Jahre nach dem Einzug haben wir aus Kisten gelebt. Alle haben gewartet, dass sie uns im Rahmen des Lushkow-Programms abreißen. Haben sie aber nicht. Wir haben drei Mal renoviert, Hunde angeschafft und uns in die hohen Decken verliebt.
Gegen einen Wohnungswechsel hätten wir ja vielleicht gar nichts – das Haus „wandert“, es gibt kein Fundament, es wurde direkt auf dem Erdboden gebaut, die Rohre sind alt – aber nur im selben Bezirk!
Unsere Pjatietashki bilden sowas wie ein Dorf mitten in der Stadt, man kennt sich hier. Sogar Garik Sukatschow hat uns mal auf einem Konzert „wiedererkannt“! Er ist ja in Tuschino geboren, und er fragte uns bei einem Konzert: „Woher seid ihr denn?“, und wir: „Von der Nowoposselkowskaja“, und er: „Aus dem Dörfchen also! Unsere Leute!“
Tatjana und Iwan Jeremenko Bezirk: Sokolniki Baujahr: 1957 Einzugsjahr: 1965 Wohnfläche: 97,8 m2 Bewohner: 2 Personen (3 Zimmer, umgebaut in 4 Zimmer) Umzugswunsch: kategorisch dagegen
Das ist meine ‚kleine Heimat‘
Tatjana: In einem Hochhaus bist du nur ein Schräubchen im Getriebe, du empfindest dich nicht als Individuum. Ich weiß, wovon ich rede: Ich habe in vielen Ländern und Häusern gelebt. Aber ich wollte immer nach Hause zurück. Das ist meine „kleine Heimat“. Mein Opa hat mit 51 Stalingrad verteidigt. Und ich werde mit meinen 51 mein Haus verteidigen. Ich habe schon 90 Prozent der Unterschriften gegen den Abriss zusammen.
Draußen laufen singende Afrikaner oder lustige Alkis vorbei
Jelena: Als ich hierher gezogen bin, habe ich diese Wohnung und das Viertel gehasst. Das war die Wohnung meiner Schwiegereltern (sie sind wunderbare Menschen!). Ich habe immer das Licht angemacht, wenn niemand zu Hause war. Später wurde Dima hier geboren, und jetzt will ich hier nicht mehr weg. Irgendwie entspricht das Haus von den Proportionen her seinen Bewohnern.
Dima: Wenn ich ehrlich bin, gefällt mir diese Wohnung nicht mehr besonders. Aber es geht mir mehr um Aura und Energie, nicht um den baulichen Zustand. Und die Aura in unserem Erdgeschoss ist super: Manchmal, wenn ich meine Morgengymnastik mache, laufen draußen singende Afrikaner vorbei, oder lustige Alkis.
Tja und außerdem: Wenn ich bei meinen Freunden in Hochhäusern zu Besuch bin, dann finde ich die Wohnungen natürlich schön, aber wie soll ich bitte in einem Hochhaus durchs Fenster klettern, wenn ich meinen Schlüssel vergessen habe?
Natalja, Roman und Wladimir Oreschkin Bezirk: Oktjabrskoje Polje Baujahr: 1959 Einzugsjahr: 1974 Wohnfläche: 43 m2 (2 Zimmer) Bewohner: 2 Personen Umzugswunsch: durchaus
Für eine Frau ist so eine kleine Küche ein Alptraum!
Natalja: Im Prinzip haben wir nichts gegen einen Umzug. Ich weiß wahrlich nicht, wer diese Wohnung geplant hat! Mit Durchgangszimmer und einem Flur, in dem man gerade mal alleine stehen kann, die Küche hat 4,5 m². Für eine Frau ist eine kleine Küche ein Alptraum!
Wladimir: Dafür, sehen Sie mal! (Setzt sich auf einen Hocker mitten in die Küche.) Von hier aus komme ich ans Fensterbrett, den Kühlschrank, den Herd und die Mikrowelle! Sehr praktisch! (lacht)
Roman: Wir haben nichts gegen Hochhäuser, aber ich persönlich kann nicht hoch oben wohnen. Ich habe panische Angst. Mich haben damals die Terroranschläge an der Kaschirka, wo die Hochhäuser in die Luft gejagt wurden, schwer mitgenommen.
Sofia Meshenina und Pawel, Antonina und Valentin Broner Bezirk: Beljajewo Baujahr: 1967 Einzugsjahr: 2009 Wohnfläche: 60 m² (3 Zimmer) Bewohner: 4 Personen, 1 Hund, 1 Ratte und Gespenstschrecken im Aquarium Umzugswunsch: eher nein
Warum für ein Haus kämpfen, das sowieso auseinanderfällt?
Sofia: Wenn unser Haus abgerissen wird, ziehen wir aufs Land. In dieser Wohnung habe ich meine frühe Kindheit verbracht, und ich wollte immer hierher zurück. Das ist das einzige Haus, das einzige Viertel, das ich liebe. Aber was hat es für einen Sinn, bis zum Schluss für ein Haus zu kämpfen, das früher oder später sowieso auseinanderfällt.
Jetzt habe ich mir dieses Riesenkrokodil angeschafft
Jelena: Ich mag keine Menschenmassen. Überhaupt nicht. Ich kann alleine leben. Was ein modernes Hochhaus bedeutet, kann ich mir lebhaft vorstellen: ein Haufen neuer Gesichter, Autos und niemand, den ich kenne.
Ich bin eine „Grüne“, lebe ohne Vorhänge – aus dem Fenster sehe ich den Park. Und jetzt habe ich mir dieses Riesenkrokodil angeschafft (gemeint ist der Hund – Anm. Novaya Gazeta). Wo soll ich mit ihm hin, wenn wir umziehen müssen? Zwischen den Häusern Gassi gehen?
Julia, Igor, Sofia und Anissija Obrasow Bezirk: Sapadnoje Degunino Baujahr: 1964 Einzugsjahr: von Geburt an Wohnfläche: 40 m2 (2 Zimmer) Bewohner: 4 Personen, 1 Katze Umzugswunsch: ja
Auf 26 m² mit zwei Kindern, Frau und Katze
Igor: Ich lebe seit meiner Geburt in dieser Wohnung, früher gehörte sie meinen Eltern. Auf 26 m² [sic] mit zwei Kindern, Frau und Katze – wie würdest du da einem Umzug gegenüberstehen? Gut natürlich. Hauptsache, sie stecken uns nicht in eine noch kleinere.
Julia: Wir haben keinen Müllschlucker, keinen Aufzug. Müssen den Kinderwagen in den vierten Stock schleppen. Unser alter Kinderwagen hat 14 Kilo gewogen. Dazu das Baby sieben Kilo. Allein schon, wenn alle zusammen einkaufen gehen wollen, ist das ein Problem. Außerdem muss alles platzsparend sein, wir haben zwei teure Ausziehsofas gekauft. Und Gäste können wir auch kaum einladen.
Julia: Diese Wohnung hat schon viel gesehen. Ich wollte immer in so einer leben. Ich hatte nicht genug Geld, aber der Makler hat mich überzeugt, dass das Geld schon kommt, ich es außerdem nirgendwo so gut habe wie hier.
Ich liebe meine Wohnung, den Apfelbaum, der vor meinem Balkon blüht.
Jetzt träumen sie von einer Aufwertung dieser Gegend hier, wollen eine Zufahrtsstraße zum MKAD bauen, viele Spielplätze und Häuser abreißen (unter anderem meines). Wir sammeln Unterschriften dagegen, gehen auf die Straße und halten Pikety, aber es gibt wenig Hoffnung.
Natalja Markewitsch Bezirk: Retschnoi Woksal Bauzeit: 1950er Jahre Einzugsjahr: 2008 Wohnfläche: 31 m2 (2 Zimmer, umgebaut in 1 Zimmer) Bewohner: 1 Person, 1 Katze Umzugswunsch: ja
Das war hier ein Leben wie auf einer Datscha
Natalja: Ich habe diese Wohnung wegen des Fensterblicks gekauft. Das war hier ein Leben wie auf einer Datscha. In der Nähe ist eine Haltestelle, es gibt Obstbäume, Spielplätze und die Bäume wachsen bis an die Fenster. Sogar aus weiter entfernten Häusern kamen die Menschen mit ihren Kindern zum Spielen her. Jetzt haben sie mich quasi umgesiedelt, ohne mein Wissen: Vor meinem Fenster wurden Stromleitungen gespannt und eine vierspurige Straße gebaut. Es gab keinerlei Gespräche mit den Einwohnern, die Proteste haben niemanden interessiert.
Mittlerweile gibt es keine Nachfrage mehr nach den Grundstücken hier, sogar das Bürogebäude nebenan steht leer. Die Leute warten darauf, neue Wohnungen zu bekommen, leben oft in Großfamilien auf engstem Raum. Aber es passiert nichts.
Wlad Suslow und seine Mitbewohner Damir und Shenja Bezirk: Lefortowo Bauzeit: 1950er Jahre Einzugsjahr: 2017 Wohnfläche: 48 m2 (2 Zimmer) Bewohner: 3 Personen Umzugswunsch: eher dagegen
Die Oma hat die Wohnung in sehr authentischem Zustand hinterlassen
Wlad: Wir haben diese Wohnung zu dritt angemietet. Früher hat hier eine alte Frau gelebt, sie hat die Wohnung in einem sehr authentischen Zustand hinterlassen: ziemlich runtergelebt und mit über viele Jahre angesammeltem Ruß, den man nur schwer abbekommt.
Die meisten Leute im Haus sind Mieter. Hier ist es um einiges günstiger. Aber der Hauptgrund, hier zu wohnen, ist die gute Lage, man ist schnell zu Fuß an der Uni.
Ich fühle mich wohl in diesem Haus, man spürt hier sowas wie Geschichte, eine besondere Atmosphäre.
Die eigene Neubauwohnung ist Ziel aller Sehnsüchte eines jungen Paares, das der Baufälligkeit des alten Moskau entfliehen will. Den Anspruch auf eine Wohnung muss das Paar gegen die Intrigen eines korrupten Funktionärs durchsetzen.
Zusammen mit anderen Neumietern formen sie spontan ein Kollektiv und bauen einen „magischen Garten“. Darin gibt es Blumen, die nur für die Augen der „Guten“ blühen, einen Springbrunnen, der pompöse Reden sofort übertönt und eine magische Bank, die alle, die auf ihr sitzen, zwingt, die Wahrheit zu sagen. Dank der Zauberkraft dieses Gartens überwinden die Bewohner schließlich sämtliche Schwierigkeiten.
Die Musik für die Operette Moskwa, Tscherjomuschki stammt von Dimitri Schostakowitsch. Im Januar 1959 macht er damit Propaganda im Dreivierteltakt für das Experimentalviertel Nr. 9. Es war das erste Viertel in „industrialisierter Massenbauweise“, entstanden zwischen 1956 und 1958 im Südwesten Moskaus.
Mit seiner Wohnungsbaukampagne wollte Chruschtschow die Bevölkerung für die „Erneuerung des Sozialismus nach Stalin“ mobilisieren – und setzte eine Massenbewegung in Gang: Zwischen 1955 und 1970 zogen 132 Millionen Sowjetbürger in eine neue Wohnung. Anders als in Schostakowitschs Operette zeigten viele Wohnviertel planerische Hast. Die Austauschbarkeit der Wohnviertel wurde zur Metapher.
Die Chruschtschowki und Pjatietashki ließen einst Träume wahr werden
Die Wohnungsnot war ein sowjetischer Dauerbrenner, befeuert durch Industrialisierung, Landflucht und Kriege. Die meisten Sowjetbürger lebten zusammengedrängt in Baracken oder in vielfach unterteilten Gemeinschaftswohnungen aus dem letzten Jahrhundert, wo sie sich Küche und Bad mit dem ganzen Stockwerk teilen mussten, den sogenannten Kommunalkas.
Während westliche Länder nach 1945 auf Suburbanisierung und die private Mobilität im Auto setzten, vertrat die Sowjetunion eine urbane Lebensweise in Wohnkomplexen. Bereits in der späten Stalinzeit wurde im Rahmen einer massiven Wohnungsbaukampagne mit vorfabrizierten Elementen experimentiert.
Doch der Bau der repräsentativen Wohnblöcke entlang von Magistralen hinkte dem Bedarf immer hinterher. Die Wohnungen darin hatten konservative Grundrisse, und in jedem Zimmer lebte eine ganze Familie – auch Neubauwohnungen waren Gemeinschaftswohnungen.
Als Stalin 1953 starb, hebelte Chruschtschow mit dem Versprechen einer kleinen Wohnung für jede Familie seine politischen Rivalen aus. Man kann sich leicht ausmalen, wie morgens in der Schlange vor dem Etagenklo der Gedanke an eine eigene kleine Wohnung im Grünen die Phantasie der Moskauer beflügelte.
Klein, aber mein: Das Glück der eigenen Wohnung
Auf dem Kongress der Baufachleute 1954 verordnete Chruschtschow eine radikale Umkehr, weg von neoklassizistischen Prachtbauten mit ihrer Ornamentik und den hohen Räumen hin zu sparsamen Dimensionen, neuen Materialien und Großtafeln, die auf der Baustelle nur noch montiert werden mussten. Das war die Geburtsstunde der Platte. Zwischen 1955 und 1970 zogen 132 Millionen Sowjetbürger in eine neue Wohnung. In den Bildern der Zeit hing der sowjetische Himmel voller Betonplatten, die an Baukränen baumelten.
Doch da die Entwicklung der neuen industriell produzierten Bauteile einige Jahre dauerte, wurden die allerersten Wohnviertel häufig in gelben Klinkern ausgeführt. Diese Häuser waren nur vier oder fünf Stockwerke hoch, weil auch die Produktion von Aufzügen noch in den Anfängen steckte.
Tauwetter im Mikrorayon
Stadträumlich löste die offene Bauweise die geschlossenen Superblocks der Stalinzeit mit ihren repräsentativen Schaufassaden zur Straße hin, bogenförmigen Hofeingängen und sparsamen Rückseiten zum Hof hin ab. Die Demokratisierung des Bodens spiegelte die gesellschaftlichen Verhältnisse und löste diese deutliche Hierarchie von hinten und vorne, innen und außen auf.
Ideologisch gesehen brachte die Initiative ein Dilemma: Die eigene Wohnung für jede Familie kam zwar einem breiten Bedürfnis entgegen, aber diese Privatisierung des Alltagslebens war eigentlich unsozialistisch.
Die Lösung war der Mikrorayon: Das Wohnviertel mit seinen kollektiven Angeboten sollte zum Lebensmittelpunkt werden, nicht die Familienwohnung. Die als Errungenschaften gepriesenen Kantinen, Wäschereien und Tagesschulen mit ihren sozialen Dienstleistungen waren zugleich Instrumente horizontaler Kontrolle, beispielsweise durch Lehrerinnen oder Sozialarbeiterinnen.
Analysiert man die Inneneinrichtungen der Neubauwohnungen auf späteren Fotografien, wird deutlich, dass in den gleichen Grundrissen und mit den begrenzten Möbelsortimenten trotz aller Versuche der Sozialdisziplinierung völlig unterschiedliche Lebensstile gelebt werden konnten. Die Küchentische in den Neubauvierteln wurden zu legendären Orten der Meinungsbildung, denn sie waren oft Treffpunkte der inoffiziellen Freundeskreise, die sich in der Tauwetterzeit herausbildeten. Hier konnten alle ihre privaten, wissenschaftlichen oder künstlerischen Projekte relativ ungestört verfolgen.
Das Experimentalviertel Nowyje Tscherjomuschki No. 9
Das erste Viertel in „industrialisierter Massenbauweise“ entstand zwischen 1956 und 1958 im Südwesten Moskaus für rund 3000 Menschen.1 Geplant wurde es von einem Team um Natan Osterman. Ein dutzend vierstöckige Wohnblöcke und drei neungeschossige Punkthäuser umschließen drei großzügig begrünte Freiflächen mit Wasserbecken und Spielplätzen, ergänzt wird das Viertel von Schule, Krippe, Kindergarten, Ladengeschäften, einer Speisehalle und einem Kino. Die Häuser wurden auf der Suche nach neuen Technologien in unterschiedlichen Materialien ausgeführt. Das Viertel wurde in den sowjetischen Medien als zukunftsweisend bejubelt.
Schostakowitsch komponiert für den Mikrorayon
Die schmissige Operette Moskwa, Tscherjomuschki, komponiert von keinem Geringeren als Dimitri Schostakowitsch, entstand im Januar 1959 . Das Stück deklariert einerseits Tscherjomuschki selbst zum „magischen Garten“, in dem der Sozialismus bereits Wirklichkeit geworden ist – und andererseits das Ganze wiederum als Märchen, als Traum.
Die Filmfassung von 1962 (Regie: Herbert Rappaport) lief über Jahre hinweg jeweils am Neujahrsabend im sowjetischen Fernsehen und propagierte mit den Mitteln der Populärkultur die Institution des Mikrorayons als sozialistische Lebensform.
Ankunft in der Einöde
Die in der Folge realisierten Wohngebiete im neuen Stil waren dagegen „Alltag“, ihnen fehlten die planerische Sorgfalt und der Zauber von Nowyje Tscherjomuschki. Meistens waren die Wohnungen beim Einzug unfertig und mussten als erstes renoviert werden. Es haperte mit den Anschlüssen an die öffentlichen Verkehrsmittel und dem Bau der versprochenen Läden, Kindergärten und Kantinen.
Die weiteren Wohnsiedlungen verraten zunehmende planerische Hast. In Chimki-Chowrino, Nowyje Kusminki, Fili-Masilowo, Choroschewo-Mnewniki oder Woltschonka-ZIL nahm die Monotonie ihren Anfang, die zum Kennzeichen sowjetischer Städte in den 1970er und 1980er Jahren wurde.
Wie zuvor die Kommunalka in der Literatur als Abbild der sowjetischen Gesellschaft im Kleinen verhandelt worden war, geriet die Auswechselbarkeit der Wohnviertel und Städte zur Metapher. Eindrücklich belegt dies der FilmIronija Sudby (dt. Ironie des Schicksals) von Eldar Rjasanow aus dem Jahr 1975. Im Vorspann parodiert eine Zeichentricksequenz [s. Video unten – dek] die Abkehr vom Ornament und die Gleichschaltung aller Bauten zu „Schachteln“.
Die Bedeutung des Begriffes Nowyje Tscherjomuschki wandelte sich denn auch im Verlauf nur eines Jahrzehnts: Tscherjomuschki wurde bald als Bezeichnung für alle Plattenbauten verwendet, die Häuser erhielten Übernamen wie Korobki (dt. Schachteln), Chruschtschoby (eine Hybridform zwischen Chruschtschow und slum – truschtschoba), oder als Bezeichnung für die erste Generation der Fünfgeschosser – Pjatietashki – ein Begriff, der in den 1990er Jahren bereits sozialtopografische Implikationen barg: So wohnten in diesen Häusern, für die ursprünglich eine Lebensdauer von 20 Jahren vorgesehen war, angeblich die Schwarzen, das heißt ethnische Minderheiten aus südlichen Republiken.
Zwischen Denkmalschutz und Abrissbirne
Die modulare Ästhetik des Rasters vermag in jüngster Zeit vermehrt KünstlerInnen, ArchitektInnen und ArchitekturstudentInnen zu begeistern: Die Platte ist hip, und wer sie zu schätzen weiß, verrät wahre Kennerschaft.2 Aber der Funke scheint nicht auf breitere Öffentlichkeiten überzuspringen: Die Bauten sind häufig in schlechtem Zustand, wirken schmuddelig und sind dabei nicht „alt“ genug, um vom Denkmalschutz wahrgenommen zu werden. Sie genügen auch nicht dem Kriterium der Einzigartigkeit und Originalität.
Das Experimentalviertel Nowyje Tscherjomuschki No. 9 ist einzigartig durch seine Pionier-Funktion, aber dennoch seit Jahren bedroht, da es zentrumsnah gelegen ist und der wertvolle Boden Begehrlichkeiten weckt.
Plattenbauviertel späterer Bauart sind in vieler Hinsicht „typischer“ für den spätsozialistischen Wohnungsbau, gerade weil sie weder originell noch einzigartig sind.
Aufsehen erregte der Antrag des polnischen Architekten Kuba Snopek, den Mikrorayon Belajewo im Südwesten Moskaus aus den 1960er bis 1980er Jahren zum UNESCO-Welterbe zu erklären.3 Snopek griff auf immaterielle Qualitäten zurück und argumentierte, Belajewo sei ein Denkmal des Moskauer Konzeptualismus, weil hier zahlreiche Künstler lebten und 1974 auf einer Grünfläche die berühmte Bulldozer-Ausstellung stattgefunden hatte: Die Bilder der Nonkonformisten wurden von Bulldozern zermalmt.
Dieser Kunstgriff weist auf die treibenden Energien des Denkmalschutzes hin: Immaterielle Qualitäten sind eigentlich immer ausschlaggebend. Bauten, Orte und Räume sind mit Bedeutungen aufgeladen, und die bestimmen letztlich den Umgang mit der materiellen Erscheinungsform.
Literatur:
Ruble, Blair A. (1993): From khrushcheby to korobki, in: William Craft Brumfield / Blair A. Ruble (Hrsg.): Russian Housing in the Modern Age: Design and Social History, Cambridge / Mass. S. 232-270
Harris, Steven E. (2013): Communism on Tomorrow Street: Mass Housing and Everyday Life after Stalin, Washington DC
Meuser, Philipp (2015): Die Ästhetik der Platte: Wohnungsbau in der Sowjetunion zwischen Stalin und Glasnost, Berlin
Rüthers, Monica (2007): Moskau bauen von Lenin bis Chruščev: Öffentliche Räume zwischen Utopie, Terror und Alltag, Wien / Köln / Weimar
Snopek, Kuba (2015): Belyayevo Forever: a strategy for preserving a generic Soviet mass-housing estate, based on its intangible value, Berlin
In Architektura i stroitel’stvo Moskvy 1957, Nr. 12, S. 3-10, erschien ein ausführlicher Beitrag über das soeben fertiggestellte Viertel Nr. 9 mit einer Fotoserie des prominenten Stadtfotografen Naum Granovskij. ↩︎